Franz Mehring 18990816 Goethe und die Gegenwart

Franz Mehring: Goethe und die Gegenwart

16. August 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 673-676. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 87-91]

In einer seiner Schriften erläutert Lassalle den Schillerjubel des Jahres 1859 so, dass unser Volk in der geistigen Einheit seiner Literatur die Bürgschaft seiner eigenen Geisteseinheit und somit das fröhliche Unterpfand seiner nationalen Auferstehung gesehen habe. In der Tat erklärt sich hieraus der hinreißende und überwältigende Zug, der bei der hundertsten Wiederkehr von Schillers Geburtstag durch die ganze Nation brauste. Eben damals hatte der italienische Krieg dem nationalen Empfinden zum schmerzlichen Bewusstsein gebracht, dass die Deutschen als Nation mediatisiert seien, und der Schillerjubel bildete den ungestümen Protest gegen diese beschämende und niederdrückende Tatsache.

Zehn Jahre früher war der hundertste Geburtstag Goethes fast unbemerkt vorübergegangen, mitten in den ekelhaften Orgien der Gegenrevolution, die erbarmungslos mit den Trümmern einer gescheiterten Volksbewegung aufräumte. Wie alles in der menschlichen Gesellschaft, so stehen auch Erinnerungsfeste im Zusammenhang der historischen Entwicklung, aus dem sie sich nicht willkürlich lösen lassen. Es ist ein achtbares Gefühl der Pietät, das heute, da Goethes hundertundfünfzigster Geburtstag herannaht, überall in Deutschland die Hände und die Zungen und oft genug doch auch die Herzen sich rüsten lässt, den größten Genius der deutschen Literatur zu feiern, und wir werden die Letzten sein, dies Gefühl mit einigen wohlfeilen Redensarten zu bemäkeln. Zwischen den ebenso nichtigen wie zahlreichen Jubelfeiern, womit das offizielle Deutschland seine offiziellen Größen ehrt, nimmt sich ein Goethefest gar stattlich aus. Aber daran ist freilich nicht zu denken, dass ein Goethejubel aufbrausen wird wie im Jahre 1859 ein Schillerjubel; dazu sind die Zeiten nicht angetan, in denen wir leben, dazu ist es in der Gegenwart in einem Sinne zu spät und in anderem Sinne zu früh.

Seitdem die Deutschen die staatliche Einheit wiedererrungen haben, so gut oder so schlecht sie nun immer sein mag, ist die Pflege von Goethes Andenken in den Händen der Goethepedanten und der Goethephilister gewesen. Gottfried Keller, den man nicht ohne Grund den schweizerischen Goethe genannt hat, schreibt einmal darüber: „Es existiert eine Art Muckertum im Goethekultus, das nicht von produzierenden, sondern von wirklichen Philistern vulgo Laien betrieben wird. Jedes Gespräch wird durch den geweihten Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht, er selber aber nicht mehr gelesen etc. Dies Wesen zerfließt dann einesteils in blöde Dummheit, anderenteils wird es wie die religiöse Muckerei als Deckmantel zur Verhüllung von allerhand Menschlichkeiten benutzt, die man nicht merken soll." Wer auch nur einigermaßen die Goetheliteratur des letzten Menschenalters kennt, wird das derbe Urteil als zutreffend unterschreiben. Nur freilich ist es in seiner Derbheit auch wieder insofern einseitig, als es nicht erklärt, weshalb dies Muckertum im Goethekultus aufgekommen ist und aufkommen musste, als es sich nicht klarzumachen weiß, weshalb ein Geschlecht, das mitten im dichtesten Feuer politischer und sozialer Kämpfe steht, sich nicht mehr in der Welt ästhetischer Schönheit zurechtfindet, worin Goethe lebte, und weshalb es also diese Welt bereitwillig als einen Tummelplatz für brave, aber kurzsichtige und langweilige Schulmeister auflässt.

Das soll ohne Eifer und Zorn gesagt sein, ja, es muss als eine historische Notwendigkeit anerkannt werden. Es gibt in der Weltliteratur keine Gestalt, die so sehr zum Heroenkultus verleitet wie Goethe, aber wer sich diesem Kultus ergibt, der irrt weltfremd in der Gegenwart umher. Unter den Hunderten und Tausenden von Büchern, die in den letzten Jahrzehnten über Goethe veröffentlicht worden sind, gibt es schwerlich eines, das feiner, geistreicher, mit einem Worte Goethischer wäre als die „Gedanken über Goethe" von Victor Hehn; es sind wundervolle Abschnitte darin, Seiten, die nach Form und Inhalt dem Leser den Eindruck hervorrufen, als täten sich die Pforten von Goethes innerstem Wesen klingend auf. Aber dann die Kehrseite: die beschränktesten und selbst gehässigsten Urteile über Schiller, Lessing, Bürger, Heine und überhaupt diejenigen Größen der deutschen Literatur, in denen ihr bürgerlich-revolutionäres Wesen am kräftigsten lebte, die Verdonnerung der deutschen Revolution als eines politischen Kinderstreichs und einer nachgeäfften Pariser Mode, die Verhimmelung Bismarcks als des einzigen Menschen von fünf gesunden Sinnen, der im Deutschland der sechziger Jahre gelebt habe, der verbohrteste Antisemitismus, kurzum ein absoluter Stumpfsinn gegenüber den politischen und sozialen Problemen der Gegenwart. Wenn es so schon am grünen Holze der Goethepedanten und Goethephilister aussieht, so mag man sich leicht vorstellen, wie es an ihren dürren Zweigen ausschaut.

Goethe selbst ist daran gewiss völlig unschuldig. Er hat den Besten seiner Zeit genug getan und darum für alle Zeiten gelebt; die Art, wie er seine Zeit angeschaut hat, auf unsere Zeit zu übertragen, ist eine Torheit, die deshalb nicht weniger Torheit bleibt, weil ein professoraler Goethephilister vor einigen Wochen wirklich aus einzelnen Äußerungen Goethes eine Art politischen Laienbreviers zusammengestellt hat. Aber man darf nicht verkennen, dass der unbedingte Goethekultus zu den Konsequenzen führt, die Victor Hehn gezogen hat, dass ei zu völliger Unfruchtbarkeit in den Kämpfen der Gegenwart verdammt und damit in das schroffe Gegenteil der hellen Lebensfreudigkeit umschlägt, die Goethes eigenstes Wesen war. Hehn war ein viel zu bedeutender und gescheiter Kopf, er war viel zu gebildet und unterrichtet, um sich nicht völlig in sein Ideal Goethe hineinzuleben: die Licht- und die Schattenseiten seines Buches hängen unlöslich zusammen. Darum ist dies Buch so lehrreich für die Frage, was Goethe der Gegenwart sein kann und ist.

Hat es je einen genialen Menschen gegeben, der die ihn umgebende Welt mit schöpferischen Künstleraugen angeschaut hat, so war es Goethe. Aber die Welt, die ihn umgab, war eng und kümmerlich, bewohnt von demütigen und zaghaften Philistern, beherrscht von einem armseligen Despotengesindel. Am Hofe eines dieser Winkeltyrannen, der nicht ganz so verkrüppelt sein mochte wie seinesgleichen sonst, aber der deshalb noch lange kein groß und frei denkender Mensch war, hat Goethe den weitaus größten Teil seines Lebens, nahe an sechzig Jahre, gelebt. Die Spuren von alledem finden sich in Goethes Dichtungen ausgeprägt, und zwar umso tiefer, je älter er wurde. Wer ihn als einen nie irreführenden Leuchtturm am Meere des Lebens betrachtet, der muss und wird auf Sandbänke und zwischen Untiefen geraten. Seit Goethes Tode hat das deutsche Volk in einer ununterbrochenen Umwälzung seines nationalen Daseins gelebt; es kann gar nicht einmal, selbst wenn es wollte, sich in die Zustände zurückversetzen, aus denen heraus Goethe künstlerisch geschaffen hat. Das mag einzelnen möglich sein, aber einer ganzen Nation oder auch nur einer Klasse einer Nation ist es nicht möglich. Die Goethefeier dieses Jahres kann kein nationales Ereignis werden, wie die Schillerfeier des Jahres 1859 war, zur Zeit als die Nation in dem nationalen Pathos Schillers noch den klassischen Ausdruck ihres innersten Sehnens empfand. Insofern ist es für einen Goethejubel nach Art jenes Schillerjubels zu spät.

Aber in anderem Sinne ist es dafür auch zu früh. Victor Hehn führt in dem längsten Kapitel seines Buches aus, dass Goethe eigentlich niemals populär gewesen sei, dass er in seinem langen Leben höchstens das eine oder das andere Mal, das eine Mal, als der „Werther", und das andere Mal, als der „Faust" erschien, einen überwältigenden Erfolg davongetragen habe. Das ist richtig, und es ist auch ein rechtes Labsal für die Heroenverehrer, die den Gegenstand ihrer Anbetung über alles Menschliche erheben und sein Verständnis einem kleinen Kreise erlesener Geister vorbehalten wollen. Wer sich von diesem beschränkten Kultus nicht verblenden lässt, wird Goethes geringe Volkstümlichkeit anders auffassen. Goethe ist niemals der einsame Halbgott gewesen, der unnahbar über den Köpfen der wimmelnden Massen daher schritt; er war der größte zwar, aber doch nur einer unter jener bahnbrechenden Vorhut von Denkern und Dichtern, die dem deutschen Volke wieder einen ebenbürtigen Platz unter den großen Kulturnationen erstritten hat. In tausend und aber tausend Rinnsalen ist Goethes unsterbliches Schaffen befruchtend ins deutsche Volksleben geflossen, und es ist wahrlich kein Stumpfsinn der Massen, wenn Unzählige, die ohne seine unerschöpflichen Spenden nicht wären, was sie sind, seinen Namen nicht zu nennen wissen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber er lebt auch nicht allein von der Kunst. Ehe er ein schönes Dasein schaffen kann, muss er erst sein Dasein selbst gesichert haben.

So ist die Kunst bisher das Vorrecht einer bevorzugten Minderheit gewesen, die dann obendrein noch sich zu Ehren das freche Dogma geprägt hat, dass die Massen niemals das volle Sonnenlicht der Kunst, sondern höchstens einige gedämpfte Strahlen dieses Lichtes ertragen könnten. Dies Dogma kann sich lästernd breitmachen, solange es herrschende Klassen gibt, solange die beherrschten Massen um ihr nacktes Dasein ringen müssen und keinen Atemzug Kraft übrigbehalten, sich ein schönes Dasein zu gestalten. Aber es gibt keinen lächerlicheren Unverstand, als sich einzubilden, dass, wenn die bevorzugten Klassen fallen, auch die Kunst fallen wird. Sie wird dann fallen, ja, aber nicht als Kunst, sondern als Vorrecht; sie wird eine verkrüppelnde Hülle abstreifen, um erst zu werden, was sie ihrem Wesen nach sein soll und auch ist: ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit. Dann wird sich jubelnd die Künstlerseele regen, die in jedem rechten Menschen schlummert, und dann auch wird Goethes Name am deutschen Geisteshimmel leuchtend und strahlend hervorbrechen, wie die Sonne aus Wolkendunst hervortritt.

Denn für alle, die im Banne deutscher Kultur großgeworden sind, gibt es keinen echteren, größeren, unvergänglicheren Künstler, als Goethe gewesen ist. Möglich, dass in anderen Völkern und Zeiten größere Dichtergenien gelebt haben, möglich, dass in einer Zukunft, die kein sterbliches Auge zu durchdringen vermag, größere Dichtergenien kommen werden: all dies Wenn und Aber hat David Strauß schon mit dem treffenden Worte abgeschnitten: Möglich, dass der Sirius größer ist als die Sonne, aber unsere Trauben reift er nicht. Die deutsche Kunst hat sich nie so allseitig, so rein und so tief verkörpert wie in Goethe; wir können uns keine Zeit vorstellen, wo diese Sonne aufhören wird zu leuchten und zu wärmen.

Wohl aber sehen wir den Tag näher und näher heranrücken, wo die Wolken verschwunden sein werden, die sie heute nur mit gedämpftem Lichte strahlen lassen. Der Tag, an dem das deutsche Volk sich ökonomisch und politisch befreit hat, wird Goethes Jubeltag werden, weil an ihm die Kunst ein Gemeingut des ganzen Volkes werden wird.

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