Franz Mehring 18930400 Goethes „Egmont"

Franz Mehring: Goethes „Egmont"

April 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 6, S. 3-12. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 63-70]

Das Drama ist der höchste Gipfel der dichterischen Kunst, aber diese Kunst selbst ist es nicht; die Bretter, die die Welt bedeuten, erschöpfen nicht die Welt der Poesie. Was Sophokles und Shakespeare, was von unseren heimischen Dichtern Lessing, Schiller, Kleist, was Hebbel und Anzengruber waren, das kann man im Theater und nach seinem vollen Werte nur im Theater sehen; was immer sie als Dichter Schönes daneben geschaffen haben, ist nicht mehr als Nebenwerk. Indessen gerade an der genialsten und größten Gestalt unserer klassischen Literatur versagt dieser Maßstab. Goethe hat sich all sein Lebtag eifrig mit dem Theater beschäftigt, aber der Schwerpunkt dessen, was er der Welt war, liegt hier nicht. Zwar ist seine Weltdichtung in dramatische Form gegossen, doch ein Drama ist sie nicht in dem Sinne, dass sich erst in seiner szenischen Aufführung all ihre Blütenkelche erschlossen. Im Gegenteil! Wer einmal den „Faust", sei es auch in einer noch so vollendeten Darstellung, gesehen hat, wird mit einem Gefühl der Enttäuschung empfunden haben, wie viel ihm von dem feinsten und zartesten Gedankenglanze des unsterblichen Gedichts zerstört wurde.

Was aber Goethe sonst Dramatisches geschaffen hat, reicht nicht an seine Lyrik und Epik heran. „Iphigenie auf Tauris" und noch mehr „Torquato Tasso" oder gar die „Natürliche Tochter" sind klassische Kunstprodukte wie jene Antiken, an die Heinrich Heine durch sie gemahnt wurde, „die ebenso vollendet, ebenso herrlich, ebenso ruhig sind und ebenfalls mit Wehmut zu empfinden scheinen, dass ihre Starrheit und Kälte sie von unserem jetzigen bewegt warmen Leben abschneidet, dass sie nicht mit uns leiden und jauchzen können, dass sie keine Menschen sind, sondern unglückliche Mischlinge von Gott und Stein". So blieb, wenn Goethes großer Name im Spielplane der Freien Volksbühne vertreten sein sollte – und wer möchte daran zweifeln, dass er hier vertreten sein muss! –, nur die Wahl zwischen „Götz" und „Egmont". Gegen den „Götz" fiel nun mancherlei ins Gewicht. Wohl funkelt in gar mancher Szene dieses dramatisierten Ritterromans das Genie des noch blutjungen Dichters hell auf, aber wertvoll als kulturhistorisches Zeugnis, ist das Drama geringwertig als dichterisches Kunstwerk. Schon Lessing sagte: „Er füllt Därme mit Sand und verkauft sie als Stricke. Wer? Etwa der Dichter, der den Lebenslauf eines Mannes in Dialogen bringt und das Ding für Drama ausschreit?" Vor allem aber – in Götz versündigt sich Goethe gar zu arg an der Geschichte. Mag der dramatische Dichter mit den historischen Tatsachen umspringen, wie er will, so sollen ihm doch nach einem alten Kunstgesetze die historischen Charaktere heilig sein. Allein in dem Ritter mit der eisernen Hand verherrlichte sein Dichter einen gemeinen Strauchdieb, dessen Namen zumeist durch einen bübischen, an den Bauern im Bauernkriege begangenen Verrat in die Jahrbücher der Geschichte gelangt ist, als „einen der edelsten Deutschen"; er wollte das „Andenken eines braven Mannes retten" und verhöhnte um dieses spitzbübischen Junkers willen die Städter und die Bauern. Das aber sind Sachen, die wir heute doch nicht mehr recht genießen können – nicht von wegen der Tendenz, sondern von wegen der Kunst. So ist denn die Wahl des Ausschusses auf den „Egmont" gefallen.

Allerdings ist auch Goethes Egmont ein anderer als der historische, und wieder der historische Egmont war nichts weniger als ein Volksheld, sei es auch nur im bürgerlichen Sinne des Wortes. Die Göttin der Freiheit!, die dem Helden Goethes im Traum kurz vor seiner Hinrichtung in der Gestalt seiner Geliebten erscheint, war beileibe nicht die „Freiheit, die wir meinen". Die ökonomischen Umwälzungen des sechzehnten Jahrhunderts und in ihrer Folge die großen geographischen Entdeckungen dieses Zeitalters verlegten den Welthandel von den Gestaden des Mittelmeeres an die Ufer des Atlantischen Ozeans; auf dem europäischen Kontinente entfaltete die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung in den Niederlanden ihr erstes siegreiches Banner. Der Abfall dieser Lande von der spanischen Oberherrschaft war die revolutionäre Emanzipation einer reichen Städterepublik von der habsburgisch-päpstlichen Weltmonarchie des Mittelalters, eine Emanzipation, die durchaus von ökonomischen Triebfedern bestimmt wurde, sosehr sie äußerlich in den ideologischen Formen eines Religionskrieges zwischen Protestantismus und Katholizismus durchgesetzt werden mochte. Wie wenig der Protestantismus als solcher revolutionär oder der Katholizismus reaktionär war, beweist der einfache Hinweis auf die Geburtsstätte des Protestantismus, auf Deutschland, wo er, dank dem ökonomischen Verfalle dieses Landes, als knechtseliges und verdummendes Dogma tiefer sank, als der Katholizismus in seinen schlimmsten Zeiten jemals gesunken war. Und es geschah nur dank dem ökonomischen Aufschwunge, dank dem schnellen Aufblühen der in all ihren Lebensinteressen der feudal-mittelalterlich-päpstlichen Weltmacht entgegengesetzten niederländischen Städte, dass der Protestantismus hier zur revolutionärsten Macht des Zeitalters wurde, zu einer Macht, die den Egmonts im Grunde nicht weniger widerwärtig war als den Albas.

Denn der historische Egmont stand nicht an der Spitze der damaligen revolutionären Klasse, des holländischen Bürgertums; er war nichts weniger als ein revolutionärer Held. Er gehörte vielmehr zu dem großen Feudaladel der Niederlande, der als Mit-Ausgebeuteter ja manche Interessen mit dem niederländischen Bürgertum gegenüber dem spanischen Oberherrn gemeinsam hatte, aber als Mit-Ausbeuter nicht minder große, ja noch größere Interessen mit dem spanischen Oberherrn gegenüber den niederländischen Städten. Demgemäß war Egmonts Haltung in dem weltgeschichtlichen Befreiungskampfe der Niederlande schwankend, unsicher, zweideutig. Er wäre gewiss lieber Feudalherr von Gottes Gnaden als spanischer Vasall gewesen, aber er war immer noch viel lieber spanischer Vasall als Bürger einer Städterepublik. In dem Zwiespalte seiner Klasseninteressen überwog der Ausbeuter den Ausgebeuteten; Egmont wurde nicht Protestant, sondern blieb Katholik; er suchte sich immer wieder mit dem spanischen Hofe zu stellen. Und sein Unglück war nur, dass dieser Hof nach der Art des Despotismus nicht bloß die übrige Hand, sondern auch den kleinen Finger wollte.

In dieser Beziehung sagt Schiller in einem wenig bekannten historischen Aufsatz1 über Egmont treffend: „Bald nach Errichtung des Geusenbundes brach die Bilderstürmerei in den Provinzen aus. Die Statthalter eilten von Brüssel weg nach ihren Distrikten, um die Ruhe wiederherzustellen. Hier zeichnete sich Egmont durch seinen Diensteifer vor den übrigen aus. Er ließ in Artois und Flandern viele Aufrührer am Leben strafen und brachte die Protestanten zur Ruhe. Aber auch diesen großen Dienst rechnete man ihm nachher als Hochverrat an, weil er den Protestanten einige geringe Konzessionen erteilt hatte, die er nicht imstande gewesen wäre ihnen mit Gewalt zu verweigern." Diese Bewandtnis hatte es in der Tat mit dem „Hochverräter" oder gar dem Freiheitshelden Egmont. Seine schwankende und zweideutige, obschon weit mehr despoten- als volksfreundliche Politik wurde ihm zum Verhängnis gerade beim Despotismus, der immer einen ungeteilten Knecht verlangt und in einem halben Knecht gleich einen ganzen Verräter erblickt. Der spanische König Philipp schickte seinen Henkersknecht Alba mit einem Heere nach Brüssel in dem holden, aber unausrottbaren Wahne des Despotismus, mit der Beseitigung der angeblichen „Führer" gleich den ganzen bürgerlich-protestantischen Aufruhr niederwerfen zu können. Einzelne „Führer", so der Prinz von Oranien, rochen rechtzeitig den Braten und machten sich aus dem Staube. Egmont aber blieb taub für Oraniens Warnungen; er vertraute darauf, dass er ja „die Rebellen zu Boden geworfen" und somit die spanische Dankbarkeit erworben habe. Der bestimmendste Grund für sein Bleiben war aber wohl, dass er nach Art der großen Feudalherren im sechzehnten Jahrhundert an ein ausschweifendes, glänzendes Leben gewöhnt und dadurch tief in Schulden verstrickt war. Mit seiner Flucht hätte er alle Ämter, Einkünfte und Güter verloren und umso weniger im Exil seiner Gemahlin, einer bayrischen Prinzess, und seinen elf Kindern ein „standesgemäßes" Dasein verschaffen können. So fiel er in Albas Hand, der ihn und den Grafen Hoorne sofort verhaften und beide nach einem empörend frechen Gaukelspiele von sogenanntem Prozessverfahren am 5. Juni 1568 enthaupten ließ.

Es liegt auf der Hand, dass der historische Egmont kein tragischer Held war und ist und dass Goethe einen anderen Egmont schaffen musste, wenn er Egmont zum Helden eines Trauerspiels machen wollte. Das hat er auch getan, aber er ist dabei viel glücklicher, viel weniger anstößig verfahren als bei der Idealisierung des Wegelagerers Götz. Ja, man muss anerkennen, dass Goethe den wahren Inhalt der damaligen Kämpfe weit schärfer auffasst als die katholische oder protestantische Geschichtsschreibung unserer Zeit. Es ist ganz im Geiste des historischen Egmont, wenn Goethes Held in der lärmenden Straßenszene des zweiten Aktes die aufsässigen Bürger abwiegelt: „Was an euch ist, Ruhe zu erhalten, Leute, das tut! Ihr seid übel genug angeschrieben. Reizt den König nicht mehr! Er hat zuletzt doch die Gewalt in Händen. Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall soviel Freiheit, als er braucht… Steht fest gegen die fremde Lehre und glaubt nicht, durch Aufruhr befestige man Privilegien! Bleibt zu Hause! Leidet nicht, dass sie sich auf den Straßen rotten!" Meisterhaft scharf ist auch die historische Situation in der großen Unterredung zwischen Alba und Egmont geschildert; wir geben wenigstens einige wenige Sätze daraus:

Alba: Einem großen Übel zusehen, sich mit Hoffnung schmeicheln, der Zeit vertrauen, etwa einmal dreinschlagen, wie im Fastnachtsspiel, dass es klatscht und man doch etwas zu tun scheint, wenn man nichts tun möchte: heißt das nicht, sich verdächtig machen, als sehe man dem Aufruhr mit Vergnügen zu, den man nicht erregen, aber wohl hegen möchte!

Egmont: Nicht jede Absicht ist offenbar, und manche Absicht ist zu missdeuten. Muss man doch von allen Seiten hören, es sei des Königs Absicht weniger, die Provinzen nach einförmigen und klaren Gesetzen zu regieren, die Majestät der Religion zu sichern und einen allgemeinen Frieden seinem Volke zu geben, als vielmehr sie unbedingt zu unterjochen, sie ihrer alten Rechte zu berauben, sich Meister von ihren Besitztümern zu machen, die schönen Rechte des Adels einzuschränken, um derentwillen der Edle allein ihm dienen, ihm Leib und Leben widmen mag. Die Religion, sagt man, sei nur ein prächtiger Teppich, hinter dem man jeden gefährlichen Anschlag nur desto leichter ausdenkt. Das Volk liegt auf den Knien, betet die heiligen gewirkten Zeichen an, und hinten lauscht der Vogelsteller, der sie berücken will.

Alba: Das muss ich von dir hören?

Egmont: Nicht meine Gesinnungen! Nur was bald hier, bald da, von Großen und von Kleinen, Klugen und Toren gesprochen, laut verbreitet wird … Und ebenso natürlich ist's, dass der Bürger von dem regiert sein will, der mit ihm geboren und erzogen ist, der gleichen Begriff mit ihm von Recht und Unrecht gefasst hat, den er als seinen Bruder ansehen kann.

Alba: Und doch hat der Adel mit diesen seinen Brüdern sehr ungleich geteilt.

Egmont: Das ist vor Jahrhunderten geschehen und wird jetzt ohne Neid geduldet. Würden aber neue Menschen ohne Not gesendet, die sich zum zweiten Male auf Unkosten der Nation bereichern wollten, sähe man sich einer strengen, kühnen, unbedingten Habsucht ausgesetzt, das würde eine Gärung machen, die sich nicht leicht in sich selbst auflöste.

In diesen wenigen Sätzen ist der ökonomische Charakter des angeblichen Religionskrieges klar ausgesprochen. Und man sieht auch, dass Goethe seinen Helden keineswegs zu einem edelsten Menschen, zu einem braven Mann, zu einem großen Charakter macht. Alba trifft mit ätzender Schärfe die wunden Stellen Egmonts, und Egmont weiß nur als das zu antworten, was er war: nämlich als ein Feudalherr. Aber allerdings nicht, wie der historische Egmont als ein Feudalherr des sechzehnten Jahrhunderts, der sich in seiner durch die ökonomische Entwicklung längst unhaltbar gewordenen sozialen Stellung nur noch durch allerhand Achselträgereien, Halbheiten, Zweideutigkeiten halten kann, sondern als ein Feudalherr, sagen wir, des dreizehnten Jahrhunderts, der noch den guten Glauben an sein Recht hat, sich mit seinen Hintersassen noch eins fühlt und über etwa doch auftauchende Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner feudalen Besitztitel, an den „schönen Rechten des Adels", sich mit dem glücklichen Gleichmut des großen Herrn wegsetzt: das Unrecht ist schon so lange her, dass es gar nicht mehr wahr ist.

Offenbar war dies auch die Meinung Schillers, als er in seiner berühmten Rezension des „Egmont"2 den Helden „einen Charakter der schöneren Ritterzeit" nennt. Er sagt von ihm: „In der Geschichte ist Egmont kein großer Charakter, er ist es auch in dem Trauerspiele nicht. Hier ist er ein wohlwollender, heiterer und offener Mensch, Freund mit der ganzen Welt, voll leichtsinnigen Vertrauens zu sich selbst und zu anderen, frei und kühn, als ob ihm die Welt gehörte, brav und unerschrocken, wo es gilt, dabei großmütig, liebenswürdig und sanft, prächtig und etwas Prahler, sinnlich und verliebt, ein fröhliches Weltkind – alle diese Eigenschaften in eine lebendige, menschliche, durchaus wahre und individuelle Schilderung verschmolzen, die der verschönernden Kunst nichts, auch gar nichts zu danken hat… Patriot, jedoch ohne sich durch das allgemeine Elend in seinen Freuden stören zu lassen; Liebhaber, ohne darum weniger Essen und Trinken zu lieben. Egmont hat Ehrgeiz, er strebt nach einem großen Ziele; aber das hält ihn nicht ab, jede Blume aufzulesen, die er auf seinem Wege findet, hindert ihn nicht, nachts zu seinem Liebchen zu schleichen, das kostet ihm keine schlaflosen Nächte. Tolldreist wagt er bei St. Quentin und Gravelingen sein Leben, aber er möchte weinen, wenn er von dieser freundlichen, süßen Gewohnheit des Daseins und Wirkens scheiden soll … Durch seine schöne Humanität, nicht durch Außerordentlichkeit soll dieser Charakter uns rühren; wir sollen ihn liebgewinnen, nicht über ihn erstaunen." Das ist ebenso richtig beobachtet, wie vortrefflich ausgedrückt, doch urteilt Schiller unseres Erachtens zu hart über Goethe, wenn er ihm vorwirft, dass der Dichter seinem Helden „eine Menschlichkeit über die andere beilegt, um ihn zu uns herabzuziehen", wenn er tadelt, dass Goethe wider die historische Wahrheit seinem Helden „Gemahlin und Kinder nimmt", dass er „uns um das rührende Bild eines Vaters und liebenden Gemahls bringt, um uns einen Liebhaber von ganz gewöhnlichem Schlage dafür zu geben, der die Ruhe eines liebenswürdigen Mädchens, das ihn nie besitzen und noch weniger seinen Verlust überleben wird, zugrunde richtet, dessen Herz er nicht einmal besitzen kann, ohne eine Liebe, die glücklich hätte werden können, vorher zu zerstören, der also, mit dem besten Herzen zwar, zwei Geschöpfe unglücklich macht, um die sinnenden Runzeln von seiner Stirn weg zu baden". Da schlägt dem guten Schiller der moralisierende Philister doch ein bisschen stark in den Nacken. Zugegeben, dass Egmonts und Klärchens Verhältnis vom Standpunkte der bürgerlichen Moral sehr unsittlich ist, dass der melancholische Philister Brackenburg alles Mitleid verdient, so steht in Klärchen doch eins jener wundervollen weiblichen Geschöpfe vor uns, wie sie nur Goethes Meisterhand schaffen konnte, und die „Menschlichkeit über Menschlichkeit" hat das menschliche Interesse für das Trauerspiel bis heute bewahrt, das, wie wir fürchten, längst erloschen sein würde, wenn Goethe Egmonts Haussegen, die um ihre und ihrer elf Kinder „standesgemäße" Versorgung zitternde Prinzess aus Bayerland, in dramatische Aktion gesetzt hätte.

Sonst lobt Schiller mit Recht, dass die übrigen Charaktere des Dramas mit wenigem treffend gezeichnet sind; „eine einzige Szene schildert uns den schlauen, wortkargen, alles verknüpfenden und alles fürchtenden Oranien". Nur Schillers Lob der Volksszenen scheint uns nicht ganz einwandfrei zu sein oder richtiger: einer gewissen Ergänzung zu bedürfen. Er sagt: „Nicht genug, dass wir diese Menschen vor uns leben und wirken sehen, wir wohnen unter ihnen, wir sind alte Bekannte von ihnen. Auf der einen Seite die fröhliche Geselligkeit, die Gastfreundlichkeit, die Redseligkeit, die Großtuerei dieses Volks, der republikanische Geist, der bei der geringsten Neuerung aufwallt und sich oft ebenso schnell auf die seichtesten Gründe wieder gibt; auf der andern die Lasten, unter denen es jetzt seufzt, von den neuen Bischofsmützen an bis auf die französischen Psalmen, die es nicht singen soll – nichts ist vergessen, nichts ohne die höchste Natur und Wahrheit herbeigeführt." Gewiss, so mag es Goethe gemeint haben, aber mit der „Großtuerei", mit dem Wankelmut des „republikanischen Geistes" hat es doch eine andere Bewandtnis: Diese Gevatter Schneider und Handschuhmacher haben die glorreichen Befreiungskämpfe der Niederlande durchgeführt und nicht die Egmont und Oranien.

Die Komposition des Trauerspiels hat Schiller dann wieder mit zutreffender Schärfe beurteilt, wenn er schreibt: „Hier ist keine hervorstechende Begebenheit, keine vorwaltende Leidenschaft, keine Verwickelung, kein dramatischer Plan, nichts von dem allem; eine bloße Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen und Gemälde, die beinahe durch nichts als den Charakter zusammengehalten werden, der an allem Anteil nimmt und auf den sich alle beziehen. Die Einheit dieses Stücks liegt also weder in den Situationen noch in irgendeiner Leidenschaft, sondern sie liegt in dem Menschen." Damit ist die wesentlichste Schwäche des Dramas vom Standpunkt eines wirksamen Theaterstücks aufgedeckt. Ihre Ursache liegt nicht zuletzt darin, dass Goethe ruckweise durch zehn lange Jahre hindurch den „Egmont" fertiggestellt hat, vom Herbste 1775 bis zum Sommer 1785. Man merkt es auch an dem verschiedenen Tone der einzelnen Teile, dass die Vollendung des Dramas von Goethes Frühzeit bis in seine klassizierende Epoche reicht. Die Volksszenen, die eingestreuten Lieder atmen eine frischere, jugendlichere Schöpfungskraft, als die nur erdachte, von Schiller mit Recht getadelte Schlussvision, wie denn in den Schlussszenen überhaupt die körnige Prosa des Dramas sich nicht selten wie sonst selbst in den Takt der Jamben auflöst. Man braucht Brackenburgs letzten Monolog nur in Versfüße einzuschneiden, und die Verse sind da:


Sie ließ mich stehn, mir selber überlassen.

Sie teilt mit mir den Todestropfen

Und schickt mich weg! von ihrer Seite weg!

Sie zieht mich an und stößt ins Leben mich zurück!

O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir!

Sie geht voran,

Sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen! -

Und soll ich folgen? wieder seitwärts stehn?

Den unauslöschlichen Neid

In jene Wohnungen hinübertragen?

Auf Erden ist kein Bleiben mehr für mich,

Und Höll' und Himmel bieten gleiche Qual…


Doch genug dieser orientierenden Bemerkungen. Immer ist Goethes „Egmont" das Werk eines großen Dichters, und die Probe eines Jahrhunderts hat er bestanden. Freilich nicht ohne Einbuße, aber was tut's? Die Flut der Zeit spült den Irrtum weg, und die Menschheit erbt den unvergänglichen Rest.

1 Mehring meint Friedrich Schillers „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung".

2 Friedrich Schiller: Über „Egmont", Schauspiel von Goethe. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. und eingel. von Alexander Abusch, Bd. 7, Berlin 1955, S.410-419.

Kommentare