Franz Mehring 19111117 Heinrich v. Kleist

Franz Mehring: Heinrich v. Kleist

17. November 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 241-248. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 311-321]

In seiner kampffrohen und kecken Art hat der junge Lessing einmal über das Geflenne von den „unglücklichen Dichtern" gespottet.

Er meinte, diejenigen, die so zu reden die Natur unglücklich gemacht habe als die Blinden, gehörten eigentlich gar nicht darunter, weil sie unglücklich gewesen sein würden, wenn sie auch keine Dichter geworden wären. Andere hätten ihre üblen Eigenschaften unglücklich gemacht, und auch diese seien nicht als unglückliche Dichter, sondern als Bösewichter oder als Toren anzusehen. Die einzigen, die als unglückliche Dichter gelten dürften, seien diejenigen, die eine unschuldige Ausübung der Dichtkunst oder eine allzu ernsthafte Beschäftigung mit ihr, die uns gemeiniglich zu allen anderen Verrichtungen ungeschickt lasse, ihr Glück zu machen verhindert habe. Und in diesem Verstand sei ihre Anzahl sehr klein.

Ob zu dieser sehr kleinen Anzahl Heinrich v. Kleist gehört, dessen hundertster Todestag am 21. November dieses Jahres wiederkehrt, könnte fraglich erscheinen. An Siechtum des Leibes und der Seele hat es ihm nicht gefehlt, und sein Leben ist selbst, nicht mit Unrecht, eine entsetzliche Krankheitsgeschichte genannt worden. Auch ist es reich an Handlungen und Unterlassungen, in deren Lichte Kleist wenn auch keineswegs als ein Bösewicht, so doch als unbegreiflicher Tor erscheint. Am letzten Ende ist es aber doch seine allzu ernsthafte Beschäftigung mit der Dichtkunst gewesen, die ihn zu allen anderen Verrichtungen ungeschickt gelassen, ihm ein trauriges Leben und einen elenden Tod beschieden hat, so dass wahr bleibt, was sein großer Mitbewerber um den Kranz dramatischen Ruhmes, was Hebbel in den schwersten Tagen eigener Not von ihm gesungen hat:


Er war ein Dichter und ein Mann wie einer,

Er brauchte selbst dem Höchsten nicht zu weichen,

An Kraft sind wenige ihm zu vergleichen,

An unerhörtem Unglück, glaub' ich, keiner.


Und dies Unglück ist auch dem toten Kleist treu geblieben. Wie er, der geborene Dramatiker, bei seinen Lebzeiten nie eines seiner Dramen auf den Brettern gesehen hat, ein beispielloser Fall in aller Geschichte, so haben sie sich auch nach seinem Tode nicht die Bühne zu erobern vermocht, mit einer einzigen Ausnahme, dem „Käthchen von Heilbronn", dem schwächsten von allen, das im vorigen Jahrhundert, oft genug freilich in einer von unberufenen Händen verschandelten Form, ein Lieblingsstück namentlich der Frauenwelt geworden ist. Der „Zerbrochene Krug", die „Hermannsschlacht", der „Prinz von Homburg" werden zwar auch gespielt, und neuestens haben zwei Berliner Theater zum hundertsten Todestag des Dichters sich selbst an die „Penthesilea" gewagt, doch wirklich eingebürgert, als ein dauernder Besitz des Theaters, haben sich diese Dramen nicht, und das ärgste Los von ihnen hat der „Prinz von Homburg" gezogen, wenn er für die Paradefestlichkeiten desselben Hofes missbraucht wird, der kalten Blutes den Dichter hat verhungern lassen.

Nur – in einem dürfte sich Kleist glücklich preisen, wenn er heute noch lebte: die Literatur über sein Leben und seine Werke beginnt ins Ungemessene anzuschwellen; ein papierener Nachruhm ist ihm geworden, auf den er, wäre sein Ehrgeiz darauf gerichtet gewesen, wohl stolz sein könnte. Es ist eine fast unübersehbare Reihe von Biographen und Herausgebern, die er gefunden hat: von den Tieck und Bülow, den Koberstein und Köpke, den Treitschke und Wilbrandt bis auf die Brahm und Erich Schmidt.1 Es sind darunter sehr fleißige und tüchtige Arbeiten, aber im ganzen entspricht das Ergebnis doch nicht dem gewaltigen Aufwand. Viele Gerüchte über Kleists Leben sind klargestellt, und auch die byzantinische Legende hat dabei, wie gern anerkannt sei, manch derben Puff erhalten: Es ist eitel Humbug, dass die Königin Luise den Dichter durch ein Jahresgehalt von 60 Louisdor unterstützt oder der König Friedrich Wilhelm III. noch kurz vor Kleists Tode dem Unglücklichen eine Anstellung versprochen und ihm die Wahl gelassen habe, ob er königlicher Adjutant werden oder eine Kompagnie befehligen wolle. Beide Legenden trugen zwar von jeher den Stempel komischen Unsinns an der Stirn, aber es ist unter den obwaltenden Umständen aller Ehren wert, wenn sie von bürgerlichen Literarhistorikern ausdrücklich preisgegeben werden. Jedoch im Grunde sind die Rätsel, in die Kleists Dasein gehüllt ist, trotz aller eifrigen Arbeit nicht gelöst worden, und ob sie nun so oder so zu erklären versucht worden sind, so bestätigen sie schließlich das Urteil Goethes, der in Kleist einen von Natur schön intentionierten, aber von einer unheilbaren Krankheit ergriffenen Körper sah.

Dieser krankhafte Zug geht wie durch Kleists Leben, so auch durch seine Werke. Die fixe Idee des Selbstmordes zu zweien hat ihn manches Jahr beschäftigt, ehe er sie ausführte, und immer wieder kehrte er auf sie zurück. Mag die Überlieferung unrichtig sein, wonach er eine der ziemlich häufigen Perioden seines Lebens, wo er völlig in einem für uns undurchdringlichen Dunkel verschwindet, im Irrenhaus zugebracht habe, so ruft nur allzu viel in seinem Tun und Lassen den Verdacht hervor, dass er zeitweise unter den Anfällen offenbarer Geistesstörung gelitten hat. Und so ist auch, wenigstens unter seinen größeren Dichtungen, kaum eine, die nicht unter krankhaften Einfällen litte, unter spukhaften Auswüchsen, die auch dem freudigsten Leser den Genuss empfindlich stören: sei es nun, dass der Held als Nachtwandler handelt und leidet oder die Heldin durch einen vom Himmel kommenden Cherub aus Feuersnot gerettet wird, oder dass eine Frau, an deren Totenbett uns der Dichter geführt hat, als weissagende Zigeunerin wieder aufersteht.2 Ganz frei von dieser „Unart seines Geistes", wie Kleist in lichten Augenblicken selbst zu sagen pflegte, ist im Grunde nur der „Zerbrochene Krug".

Damit muss man sich bei Kleist ein für allemal abfinden, und was der Dichter dabei verliert, gewinnt der Mann, der trotz der krankhaften Disposition, durch die ihn, um mit Lessing zu reden, die Natur unglücklich gemacht hatte, dennoch so viel Herrliches geschaffen hat. Dieser Gesichtspunkt entzieht sich überhaupt der psychologischen Würdigung, wie nicht näher dargelegt zu werden braucht. Ein Gesichtspunkt dagegen, der einen tiefen Einblick in Kleists Wesen und namentlich auch in sein unglückliches Schicksal als Dichter gewährt, ist von seinen Biographen und Herausgebern kaum je berührt worden. Soviel ich sehe, hat ihn nur Treitschke einmal flüchtig gestreift, und auch nicht etwa in seinem Aufsatz über Kleist, sondern in einer beiläufigen Rezension, wo er – obendrein in ganz beiläufigem Zusammenhang – sagt, dass Kleist sein Lebtag ein preußischer Offizier der alten Schule geblieben sei.

Wohlverstanden: geblieben sei. Denn dass Kleist, als Sprössling einer armen Offiziersfamilie, in blutjungen Jahren schon und nach sehr unzulänglicher Schulbildung, so dass der sprachgewaltige Mann niemals völlig die Schwierigkeiten der Grammatik überwunden hat, ins Offizierskorps des friderizianischen Heeres gesteckt wurde, versteht sich von selbst. Er hat die tragikomischen Rheinfeldzüge gegen die Französische Revolution mitgemacht, ohne jede kriegerische Begeisterung; an seine Schwester Ulrike, die ihm sein ganzes Leben hindurch die opferfreudigste und treueste Freundin geblieben ist, schrieb er 1795: „Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlichen Taten bezahlen zu können."

Nach dem Baseler Frieden desselben Jahres kehrte Kleist in die Garnison Potsdam zurück, wo er ähnlich wie vierzig Jahre früher sein älterer Namensvetter Ewald Kleist, der Dichter des „Frühlings", der ihm an Begabung unendlich nachstand, aber ebenfalls an periodischer „Melancholie" krankte, unter dem rohen und ungebildeten Treiben seiner Kameraden unsäglich litt. So zog er im Jahre 1799 den bunten Rock aus und begann im Alter von zweiundzwanzig Jahren auf der Universität seiner Vaterstadt Frankfurt a. O. zu studieren.

Bald genug zeigte sich, dass er, zumal bei seiner mangelhaften Vorbildung, kein Stern der Wissenschaft werden konnte. Er begann jetzt ein unstetes Wanderleben durch Süddeutschland, die Schweiz, Frankreich, das, immer wieder durch geistige und körperliche Leiden unterbrochen, den Dichter in ihm erweckte. Und in seiner überreizten Art wollte er nun gleich den Kranz von Goethes Stirn reißen, ein Drama schaffen, das die Größe der Griechen und Shakespeares vereine, und nach Vollendung dieses vollkommenen Kunstwerkes sterben. Zu seinem Helden wählte er sich den Normannenhäuptling Guiscard, und mit diesem Stoffe hat er jahrelang gerungen, bis er am 3. Oktober 1803 der Schwester die erschütternden Worte schreibt: „Der Himmel weiß, meine teuerste Ulrike (und ich will umkommen, wenn es nicht wörtlich wahr ist), wie gern ich einen Blutstropfen aus meinem Herzen für jeden Buchstaben eines Briefes gäbe, der so anfangen könnte: Mein Gedicht ist fertig. Aber Du weißt, wer nach dem Sprichwort mehr tut, als er kann. Ich habe nun ein halbtausend hintereinander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herab zu ringen; jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, dass es genug sei. Sie küsst mir gerührt den Schweiß von der Stirn und tröstet mich, wenn jeder ihrer lieben Söhne nur ebenso viel täte, so würde unserem Namen ein Platz unter den Sternen nicht fehlen. Und so sei es denn genug … Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich ein Jahrtausend vor seinem Geiste… Die Hölle gab mir meine halben Talente; der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar keines." In einem Augenblick unseliger Verzweiflung hat Kleist damals verbrannt, was von seinem Drama fertig war. Nur die ersten fünfhundert Verse haben sich erhalten, ein mächtiger Torso, an dem man wohl begreift, dass der alte Wieland, dem Kleist einzelne Szenen des Gedichtes vorgelesen hatte, begeistert ausrufen konnte, Kleist sei dazu berufen, die durch Goethe und Schiller noch offengelassene große Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen; wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, so würde sie eben das sein, was Kleists Guiskard sei, sofern nur das Ganze jenen Szenen entspräche.

Damals suchte Kleist den Tod unter französischen Fahnen; er wanderte nach Boulogne, wo Bonaparte die große Expedition nach England rüstete; von St. Omer aus schickte er der Schwester den Abschiedsgruß: „Was ich Dir schreiben werde, kann Dir vielleicht das Leben kosten, aber ich muss, ich muss, ich muss es vollbringen. Ich habe in Paris mein Werk, soweit es fertig war, durchlesen, verworfen und verbrannt, und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein Kind, alle übrigen hin. Ich kann mich Deiner Freundschaft nicht würdig zeigen, ich kann ohne diese Freundschaft doch nicht leben; ich stürze mich in den Tod. Sei ruhig, Du Erhabene, ich werde den schönen Tod der Schlachten sterben. Ich habe die Hauptstadt dieses Landes verlassen, ich bin an seine Nordküste gewandert, ich werde französische Kriegsdienste nehmen, das Heer wird bald nach England hinüber rudern, unser aller Verderben lauert über dem Meere; ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendliche Grab." Doch als er, ohne Pass, zu Fuß wandernd, in die Nähe des französischen Heeres kam, drohte ihm ein schimpflicher Tod, der Tod des Spions; davor schauderte er doch zurück. Er bat den preußischen Gesandten in Paris um einen Pass, erhielt ihn zwar, allein direkt nach Potsdam, wo er im Juni 1804 eintraf, nachdem er auf der Rückreise in Mainz eine tödliche Krankheit durchgemacht hatte, die ihn, wie man meint, vor gänzlicher Geisteszerrüttung bewahrt haben soll.

Den Bemühungen seiner Familie gelang es, den gänzlich gebrochenen Mann zum Eintritt in die Beamtenlaufbahn zu bewegen, und er wurde bei der Domänenkammer in Königsberg angestellt, nachdem ihn der Generaladjutant des Königs, der alberne Tabakschmaucher Köckeritz, ernstlich vor dem „Verschemachen" verwarnt und die eigene Schwester, die ihm schon einen großen Tell ihres Vermögens geopfert hatte, in würdigerer Form das Versprechen abgenommen hatte, im Staatsdienst zu verharren. Aber der Dichter war nun einmal erwacht und verlangte sein unveräußerliches Recht. Misstrauisch geworden gegen die eigene Kraft, versuchte sich Kleist jetzt zunächst an Übersetzungen aus dem Französischen, an Fabeln La Fontaines, an einem frivolen Lustspiel Molières, dem er einen feierlichen, mystisch-religiösen Hintergrund gab.3 Noch seltsamer war, dass er einen antiken Sagenstoff wählte, um den ganzen Schmerz und Glanz seiner Seele hineinzulegen. Das Schicksal der Amazonenkönigin Penthesilea, die in Achill den herrlichsten der Männer zu ihren Füßen niederzwingen will und nach kurzem Rausche des Übermuts ihre Zähne in den zuckenden Leichnam des Geliebten schlägt, soll ihm sein eigenes Schicksal versinnbildlichen, sein Ringen um das vollkommene Kunstwerk und seinen furchtbaren Fall von der Höhe. Er selbst hat in diesem Gedicht, das bei seinem Mangel an Handlung kaum ein Drama genannt werden darf und in der Tat nur durch den zum Teil wunderbaren Glanz der Sprache blendet, stets sein Eigenstes gesehen, was doch nur wieder auf die „Unart seines Geistes" zurückzuführen ist. Die „Penthesilea" für die Bühne zu erobern wird stets ein spielerisches Experiment bleiben, auch wenn ein paar große Theater den hundertsten Todestag des Dichters dadurch am würdigsten zu ehren meinen.

Jedoch zur selben Zeit schrieb Kleist den „Zerbrochenen Krug", zu dem er die Anregung schon einige Jahre früher bei einem Aufenthalt in der Schweiz durch einen Kupferstich erhalten hatte; in diesem kleinen Meisterwerk, das nur an einer allzu großen Länge leidet, stand er mit breiten Füßen auf fester Erde, und zugleich begann er sich der Novelle zuzuwenden, die ihm reiche Lorbeeren verhieß, wenn auch nicht so reiche wie das Drama. In diese Anfänge gesunden Schaffens brach die Katastrophe von 1806 herein, die den altpreußischen Staat zerschmetterte. Es ist nun die herkömmliche Auffassung, dass Kleist am Unglück des Vaterlandes zum nationalen und politischen Dichter gereift sei, dass sein verwüstetes Leben dadurch einen neuen und reichen Inhalt gewonnen habe, dass er sich mit der inbrünstigen Liebe eines großen Herzens fest an sein Volk geklammert und die herrlichen Werke geschrieben habe, die ihn an die Spitze unserer politischen Sänger stellten; dabei bleibt es nur nach der eigenen Ansicht dieser Historiker „unbegreiflich", dass er jenen finsteren Lebensüberdruss mit sich umhergetragen habe, der ihn schließlich zum Selbstmord trieb.

Dies entscheidende Rätsel seines Lebens ist aber keineswegs „unbegreiflich"; es löst sich sehr einfach dadurch, dass Kleist gegenüber der gewaltigen Umwälzung des nationalen Lebens durch die französische Eroberung doch nur den Fremdenhass des altpreußischen Junkers und Offiziers aufzubringen vermochte. Dieser Hass, wie er in beißenden Satiren, in gewaltigen Kriegsliedern, vor allem in seiner mächtigen „Hermannsschlacht" ausbrach, hatte sicherlich einen dämonisch-genialen Zug, und man braucht ihn wahrlich nicht darauf zurückzuführen, dass Kleist persönlich von den Franzosen sehr übel behandelt und einen großen Teil des Jahres 1807 unter dem gänzlich unbegründeten Verdacht der Spionage auf französischen Festungen herumgeschleppt worden war. Gewiss empfand Kleist die nationale Schmach aufs tiefste, aber er sah nur ihre Vollstrecker, nicht ihre Urheber; fremd und kaltsinnig stand er den Reformen der Stein und Schön, der Scharnhorst und Gneisenau gegenüber, trennte er sich von den vorwärtsdrängenden Kräften des Volkes und geriet immer tiefer in die Arme jener faulen Romantik, die in Napoleon weit mehr den Erben der Revolution hasste als den Zwingherrn der Nation. Die bigott-reaktionären Aufstände der Spanier und der Tiroler4 waren das Ideal Kleists, und es ist nur ein neues Quidproquo der bürgerlichen Literarhistoriker, wenn sie sagen, Kleists heiße und hinreißende Worte seien verhallt, weil die Deutschen zu gesittet gewesen seien, den Krieg wie die spanischen Guerillas zu führen. Ernst Moritz Arndt hat nicht minder „maßlos" als Kleist zum Kampfe gegen den Franzmann aufgerufen, aber obgleich er als Dichter unendlich tief unter Kleist stand, fanden seine Worte das Ohr der Massen, weil in ihnen der Odem einer neuen Zeit wehte.

Nach seiner Entlassung aus der französischen Gefangenschaft kehrte Kleist nicht nach Preußen zurück, das von französischen Truppen überschwemmt war, sondern siedelte sich in Dresden an, wo er vom Herbste 1807 bis zum Frühling 1809 seine produktivste Zeit, aber freilich auch die Zeit erlebte, die ihn in unlösbare Konflikte verstrickte. Fast dramatisch verkörperten sich dem geborenen Dramatiker die Gegensätze, in denen sich sein Leben aufreiben sollte. Auf der einen Seite Pfuel, der spätere Kriegsminister und Ministerpräsident von 1848, und Rühle v. Lilienstern, der es bis zum Chef des Großen Generalstabs in Berlin bringen sollte, alte Kameraden aus der Potsdamer Zeit, die den Kreisen der preußischen Reformer nahestanden und immer redlich bemüht gewesen sind, Kleists besseres Teil zu retten, auf der anderen Seite die romantischen Apostaten und Sophisten Gentz und Adam Müller, von denen Gentz den Dichter von Wien her begönnerte, Müller ihm aber wie ein böser Genius im Nacken saß. Mit Müller zusammen gab Kleist den „Phöbus" heraus, eine Monatsschrift, die nur einen Jahrgang erlebte, da sie sich fast allein von den Beiträgen der beiden Herausgeber nähren musste. Das Geld zu diesem Unternehmen hatten Pfuel, Rühle und die Schwester Ulrike hergegeben; Müller hatte sich vorsichtig zurückgehalten, aber er verstand es, geistig den lenksamen Dichter immer mehr zu beherrschen. Schon im „Käthchen von Heilbronn", das Kleist in diesen Dresdener Tagen schuf, zeigt sich eine ungesunde Schönfärberei des Mittelalters, eine Unsicherheit des dramatischen Stils, die neben die märchenhaft-rührende Gestalt der Heldin die abstoßend-realistische Karikatur der Gegenspielerin Kunigunde stellte, und der junkerliche Trick bricht hässlich hervor, indem der biedere Graf Wetter v. Strahl Käthchen trotz ihrer hingebenden Liebe mit der Peitsche zurückweist, solange sie als die eheliche Tochter eines ehrsamen Waffenschmieds gilt, aber sie begeistert als „Prinzessin von Schwaben" zu seinem ehelichen Gemahl erhebt, sobald sich herausstellt, dass sie die Frucht eines kaiserlichen Ehebruchs ist.

Hoch über diesem Ritterschauspiel steht die „Hermannsschlacht", die ebenfalls der Dresdener Zeit Kleists angehört. Es wird immer bewundernswert bleiben, wie er diesen ganz undramatischen Stoff zu bewältigen gewusst hat, wie er die ausgesprochene Tendenz so durchaus mit künstlerischen Mitteln vertritt, dass dies Werk allein genügen würde, für immer das törichte Gerede zurückzuweisen, als ob Tendenz mit Kunst unvereinbar sei. Selbst die „Unart seines Geistes" weiß Kleist dichterisch zu adeln, denn die gespenstische Alraune, die den Pfad des Varus im Teutoburger Walde kreuzt, ist durchaus dichterisch empfunden. Jedoch die hohe Kunst, womit Kleist den Vernichtungskrieg barbarischer Stämme gegen eine überlegene Kultur zu schildern weiß und zu verherrlichen sucht – bis in so hässliche Szenen hinein wie jene, in der Thusnelda ihren römischen Verehrer, mit dem sie viel zu lange kokettiert hatte, um ein Recht zum Zorne über seine Treulosigkeit zu haben, durch einen Bären zerfleischen lässt –, zeigt doch nur, dass die „Hermannsschlacht", wie Kleists patriotische Dichtung überhaupt, sich im dumpfen Banne historisch rückständiger Anschauungen bewegt. In der Tat konnte nur ein preußischer Junker und Offizier des alten Schlages mit den Schlussworten des Dramas auf das Paris der großen Revolution zielen:


Denn eh' doch, seh' ich ein, erschwingt der Kreis der Welt

Vor dieser Mordbrut keine Ruhe,

Als bis das Raubnest ganz zerstört

Und nichts als eine schwarze Fahne

Von seinem öden Trümmerhaufen weht!


Wie die Tendenz dann freilich, sobald sie sich unkünstlerischer Mittel bedient, auch das edelste Kunstwerk zerstören kann, verrät ein drittes Werk Kleists aus der Dresdener Zeit, „Michael Kohlhaas", die schönste seiner Erzählungen. Zur Hälfte oder zu zwei Dritteln ist sie über jedes Lob erhaben, auch deshalb, weil sich der junkerliche Trotz des Dichters zum Kampfe eines starken Mannes für sein gutes Recht verklärt, aber dann zerfasert sie sich in eine abgeschmackte Zigeunergeschichte, um in einem bei den Haaren herbeigezogenen Zusammenhang den König von Sachsen als napoleonischen Vasallen mit dem schmählichen Untergang seines Geschlechts zu bedrohen.

Als im Frühjahr 1809 der Krieg zwischen Frankreich und Österreich ausbrach, stiegen die Hoffnungen Kleists aufs höchste; er besang den hartherzigen Despoten, der auf dem österreichischen Throne saß, als den Retter der Welt, der dem Mordgeiste in die Bahn trete, und den Erzherzog Karl feierte er nach der Schlacht bei Aspern als den „Überwinder des Unüberwindlichen". Er siedelte nach Prag über, um den Ereignissen näher zu sein, aber bald schlug die Schlacht bei Wagram alle seine Hoffnungen nieder, und es folgte nun einer jener furchtbaren Zusammenbrüche, an denen Kleists kurzes Dasein so reich ist: schwere Krankheit, Selbstmordversuche und Anfälle von Wahnsinn, in deren einem er sich mit dem Gedanken trug, Napoleon mit Arsenik zu vergiften.

Im November 1809 kehrte er, nachdem alle Hoffnungen gescheitert waren, die er auf Wien gesetzt hatte, nach Berlin zurück. Er kam gerade zur rechten Zeit, um den preußischen König, der aus dem Königsberger Exil, wohin er nach der Schlacht bei Jena geflüchtet war, in die preußische Hauptstadt zurücksiedelte, mit einem schönen, aber leider ganz sinnlosen Gedicht zu begrüßen. Tatsächlich kam der König als französischer Kriegsgefangener nach Berlin, auf Befehl Napoleons, der ihn fester unter der Faust haben wollte; Kleist aber sang den armseligen Menschen an:


Blick auf, o Herr! Du kehrst als Sieger wieder,

Wie hoch auch jener Cäsar triumphiert;

Ihm ist die Schar der Götter zugefallen,

Jedoch den Menschen hast du wohl gefallen.


So konnte wieder nur ein preußischer Junker und Offizier alten Schlages den Idioten feiern, der damals den Reformern, die ihm seine Krone retten wollten, durch seinen verbohrten Eigensinn jeden Tag zur bittern Qual machte. Und während in den Kreisen dieser Reformer der Gedanke zu rumoren begann, den unfähigen König zu entthronen, sang Kleist in seinem „Prinzen von Homburg" das hohe Lied der Subordination unter den königlichen Willen. Kleist hat in diesem Drama das halb Unmögliche möglich gemacht, er hat das Altpreußentum in seiner Mischung von Brutalität und Stupidität in die Sphäre der Kunst zu erheben gewusst, und bis auf die nachtwandlerischen Neigungen des Helden, die doch nicht so leicht, wie Hebbel meinte, aus dem Organismus des Dramas zu lösen sind, ist der „Prinz von Homburg" reich an künstlerischen Qualitäten; er steht einzig da in unserer dramatischen Literatur durch den kühnen Versuch, schon durch die drohenden Schatten des Todes zu erreichen, was in der Tragödie sonst nur durch den Tod erreicht wird: die sittliche Läuterung und Verklärung des Helden. Aber die edle Kunst der Dichtung wurde zum Verhängnis des Dichters; der banausische Hof lehnte das Drama mit aufrichtigem Entsetzen ab, und sowenig wie die „Hermannsschlacht" hat Kleist seinen „Prinzen von Homburg" von der Bühne zu geschweigen auch nur in den Druck zu bringen gewusst. Beide Dramen sind erst ein Jahrzehnt nach seinem Tode durch Tieck veröffentlicht worden.

Dieser letzte Schlag hat ihn dann völlig gebrochen. Kleist kämpfte nunmehr hilflos mit der gemeinsten Not des Lebens, und wie der Dichter es nur noch zu einigen hässlichen Schauergeschichten brachte, so verlor der Mann jeden Halt. Als Kleist im Herbste 1810 ein dürftiges Winkelblatt, die „Berliner Abendblätter", herauszugeben begann, erbat er für sie die Unterstützung des Staatskanzlers Hardenberg, während er die Spalten seiner Zeitung zugleich einem Aufsatz Adam Müllers öffnete, der die Reformen Hardenbergs mit dem giftigsten Hohne übergoss. Kleist wurde dadurch in eine Reihe von hässlichen Händeln verwickelt, in denen er einen beklagenswerten Mangel an Mut und Würde zeigte. Sicherlich haben seine Biographen recht, wenn sie sein Petitionieren bei Hardenberg mit dem heutigen Offiziösentum nicht verwechselt haben wollen, aber sie haben unrecht, wenn sie es mit der „Leichtgläubigkeit" Kleists zu entschuldigen suchen, dass er den schmählichen Aufsatz Müllers in sein Blatt aufnahm. So weltfremd war Kleist nicht, zumal da ihm die Reformen Hardenbergs doppelt verhasst sein mussten, weil sie – was damals bekannter war, als es heute ist – nur ein Abklatsch der Gesetzgebung waren, die der König „Morgen-Wieder-Lustik" auf Befehl Napoleons in seinem neugebackenen Königreich Westfalen eingeführt hatte. Dass gleichwohl Kleist für seine Person die Unterstützung der Reformer beanspruchte, die sich in amtlicher Stellung befanden, war alte Junkertradition, aber man versteht danach auch die herbe Ablehnung, die Kleist bei charaktervolleren Reformern fand als dem leichtblütigen Hardenberg. Gneisenau, der gewiss ein Franzosenhasser und auch – wie seine klassische Abhandlung über die „Freiheit der Röcke" [wohl Druckfehler für: Freiheit der Rücken] zeigt – ein literarisch gebildeter Mann war, hat sich nicht für Kleist interessiert, als ihn der Unselige in den letzten Nöten seines Lebens aufsuchte.

In einer ältlichen hysterischen Frau gewann Kleist endlich den Gefährten des Selbstmords5, den er unter den rüstigen Freunden seiner Jugend vergebens gesucht hatte. Ehe er sie und sich erschoss, schrieb er seiner Schwester Ulrike: „Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in den Kräften einer Schwester, sondern in den Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war." Ihm war auf Erden nicht zu helfen, weil der geniale Dichter, der die höchsten Flüge wagen durfte, sich niemals dauernd über die niederen Regionen des altpreußischen Junkertums zu erheben vermochte. Es ist nicht nach der Lehre des alten Weisen Mitleid und Furcht6, die das Trauerspiel dieses Lebens erregt, aber Mitleid mit dem Opfer und Hass gegen den Krebsschaden der deutschen Nation.

1 Mehring hat folgende Ausgaben gesammelter Werke und Monographien über Kleist im Auge: 1. Heinrich von Kleist: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck, 3 Bde., Berlin 1826. 2. Kleists Werke. Hrsg. von Erich Schmidt, Reinhold Steig und Georg Minde-Ponet, 5 Bde., Berlin 1904/05. 3. Kleists Leben und Briefe. Hrsg. von E. v. Bülow, Berlin 1848. 4. Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike. Hrsg. von Karl August Koberstein, Berlin 1860. 5. Heinrich von Kleist: Politische Schriften. Hrsg. von Rudolf Köpke, Berlin 1862. 6. Heinrich von Treitschke: Heinrich von Kleist, 1858. 7. Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist, Nördlingen 1863. 8. Otto Brahm: Heinrich von Kleist, Berlin 1884.

2 Mehring meint den „Prinzen von Homburg" und „Käthchen von Heilbronn".

3 Gemeint ist die Tragikomödie „Amphitryon" (1805).

4 Der Versuch Napoleons, Spanien zu unterjochen, löste am 2. Mai 1808 einen nationalen Befreiungskrieg aus, der 1813 zur Befreiung Spaniens führte. 1809 brach der Freiheitskampf der Tiroler unter Andreas Hofer gegen Napoleon aus. Mehring schätzt den Charakter dieser Kämpfe hier zu einseitig ein.

5 Gemeint ist Henriette Vogel.

6 Mehring meint Aristoteles' „Poetik".

Kommentare