Franz Mehring 18990828 Johann Wolfgang Goethe

Franz Mehring: Johann Wolfgang Goethe

28. August 1899

[Der Wahre Jacob, 1899, Nr. 342, S. 3063-3066. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 53-62]

Am 28. August dieses Jahres sind anderthalb Jahrhunderte verflossen, seitdem der größte Dichter der deutschen Nation geboren wurde. Bei der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages ist seiner wenig gedacht worden, mitten in den Katastrophen, die damals über die deutsche Revolution hereinbrachen; um so mehr ist es eine Pflicht der Pietät, nachzuholen, was vor fünfzig Jahren versäumt wurde, eine Pflicht der Pietät auch für die Arbeiterklasse, die in erster Reihe berufen ist, die großen Überlieferungen deutscher Kultur zu wahren.

Freilich lässt sich schwer in engem Rahmen zusammenfassen, was Goethe seinem Volk und seiner Zeit gewesen ist. Vor seinem unerschöpflichen Geiste, vor dem umfassenden Weltbilde, das sich in seinen Sonnenaugen widergespiegelt hat, begreift sich noch am ehesten der Heroenkultus, den das arbeitende und kämpfende Geschlecht unserer Tage nicht mehr versteht. Jedoch auch Goethe lässt sich an diesem Maßstabe nicht richtig messen. Wohl durfte er am Vorabend seines Todes sagen: „Es wird die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn", aber diese gelassene Zuversicht paarte sich mit dem Bekenntnis: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss", und die Summe seines Lebens zog Goethe doch in den Worten, die für den Geringsten gelten wie für den Größten: „Denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein."

Nicht zwar, als ob Goethe jemals den Kampf zu führen gehabt hätte, der in seiner wie in unserer Zeit der ungeheuren Mehrzahl der Menschen die beste Kraft des Lebens verzehrt. Durch seine Geburt gehörte er den herrschenden Klassen an: sein Vater war ein wohlhabender Mann, der sich den Titel eines Kaiserlichen Rats erworben hatte und in beschaulicher Muße seinen gelehrten Liebhabereien lebte, sein Großvater von mütterlicher Seite der lebenslängliche Schultheiß von Frankfurt a. M., der erste Beamte der alten Reichsstadt. In diesen kleinen städtischen Republiken sah es nicht eben besser aus als in dem vermoderten Reiche selbst; schon der frühreife Knabe Goethe blickte „zeitig in die seltsamen Irrgänge, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist"; ihn selbst aber führte eine glückliche und heitere Kindheit vorwärts auf ebener Bahn, woran die überströmende Liebe seiner jungen Mutter, einer kerngesunden, prächtigen Frau, noch größeres Verdienst haben mochte als die sorgfältige, obschon etwas pedantische Erziehung des älteren Vaters.

Mit sechzehn Jahren bezog Goethe die Universität Leipzig, damals die berufenste und flotteste Hochschule in deutschen Landen. Er sollte nach dem Willen seines Vaters die Rechtswissenschaft studieren, doch seine dichterischen Triebe waren schon erwacht, und er war entschlossen, ihnen zu leben. Seine junge Liebe zu Käthchen Schönkopf, einer Leipziger Wirtstochter, entlockte ihm die ersten Laute der unvergleichlichen Lyrik, die ihm bis in sein spätestes Alter immer gab, zu sagen, was er litt. Doch noch war er nicht frei von dem übermächtigen Einfluss der akademisch-französelnden Schule; die beiden kleinen Lustspiele1, die aus seiner Leipziger Zeit erhalten sind, zeigen ihn noch ganz in ihrem Banne.

Unfertig in jeder Beziehung, kehrte Goethe nach dreijährigem Studium aus Leipzig in sein Vaterhaus zurück. Dann aber nahm sein Leben die entscheidende Wendung, als er im Frühjahr 1770 die Universität Straßburg bezog, um seine juristischen Studien zu vollenden. Leicht und mühelos konnte er sich hier den Doktorhut erwerben; es blieben ihm Kraft und Lust und Zeit genug, seine dichterischen Gaben unter den glücklichsten Sternen zu pflegen. Noch hatte die Französische Revolution das Elsass nicht mit Frankreich verschmolzen, im Kampfe gegen die fremden Bedränger hielt das Grenzland zähe an deutscher Art und Kunst. Lieblich ging das Leben in der anmutigen Landschaft dem Jünglinge ein, den die Wiederkehr der Gesundheit mit brausender Kraft erfüllte; eine neue Liebe, zu Friederike Brion, der Pfarrerstochter von Sesenheim, der holdesten und süßesten Frauengestalt, die durch Goethes reiches Liebesleben geschritten ist, ließ den Quell seiner Lieder reiner und tiefer strömen, und in Herder fand er den Lehrer, der dem erwachenden Genius neue Welten eröffnete, ihn aufs Volkslied, auf Homer, auf Shakespeare verwies.

In der deutschen Literaturgeschichte nennt man die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Zeit des „Sturms und Drangs", und wohl waren es revolutionäre Tage. Die europäische Kultur stand vor einer großen Wendung; die feudale Welt, seit Jahrhunderten vom kapitalistischen Maulwurf untergraben, brach rettungslos zusammen; das bürgerliche Zeitalter dämmerte herauf. Es brauste und gärte in den Gemütern; der frische Hauch einer weltgeschichtlichen Morgendämmerung weckte sie wie aus den dumpfen Banden des Schlafes; sie jauchzten der neuen Sonne entgegen, deren erste Strahlen den historischen Horizont zu färben begannen. Aber umgekehrt wie in der Natur ging diese Sonne im Westen auf, und den Deutschen leuchtete sie erst von fern. Ihre traurige Geschichte legte ihnen das Verhängnis auf, nur im Gedanken und im Liede den neuen Weltentag zu begrüßen, nur auf literarischem Gebiete ihre Revolution zu schlagen. Indem Goethe die Dichtungen schuf, die dem deutschen Sturm und Drange sein klassisches Gepräge gaben, wandte er sich verächtlich und verstimmt von den Schriften des französischen Materialismus ab, den kecken Sturmvögeln der großen Revolution.

Straßburg war die geistige Geburtsstätte des „Götz von Berlichingen", der dramatisierten Geschichte des mittelalterlichen Ritters, die, sich in der Form an Shakespeares Historien anlehnend, mit genialen Strichen eine Fülle atmender Gestalten schuf. Wie lebte und webte da alles, zum Greifen deutlich und klar, ein Bild deutscher Vergangenheit, das in treuherziger Einfalt die deutsche Kraft beschwor, die schon einmal mit mittelalterlichen Trümmern aufgeräumt hatte. Der spitzbübische Strauchdieb, den die Geschichte heute nur noch nennt, weil er die aufständischen Bauern schmählich verraten hat, wurde dem Dichter zum sittlichen Revolutionär, der mit eiserner Faust sich selbst half, wo die erstarrten Satzungen des geschriebenen Rechts versagten. Ein schlagender Beweis, wie gänzlich den Deutschen die Überlieferungen ihrer Geschichte abgerissen waren, aber auch ein bewundernswertes Zeugnis für den Dichter, der aus dem wallenden und wogenden Nebel ein künstlerisches Bild zu gestalten wusste, das heute noch leuchtet wie im Morgensonnenschein.

War der „Götz" in seiner Art eine Befreiung von dem ungesunden Überschwange der Empfindungen, der die Zeit des Sturms und Drangs kennzeichnete, so waren es in ihrer Art die „Leiden des jungen Werther" nicht minder. Goethe schrieb diesen Roman, als er eine lebhafte Neigung für Charlotte Buff gefasst hatte, die Braut eines ihm befreundeten Mannes. Er überwand den Herzenskampf, an dem Werther als Selbstmörder untergeht: auf sein Geschöpf lud er ab, was ihn beunruhigte und peinigte, was an der Gärung der Zeit krankhaft und missschaffen war. Mit wundervoller Kunst behandelte er den quälenden Stoff: klar und milde spannte sich der Himmel Homers über diese vertränte Welt moderner Sentimentalität. An den Busen der Natur riss den Dichter ein verbildetes Geschlecht, und in keinem Kulturdichter hat die Natur je so unmittelbar gelebt wie in Goethe'. Er schildert nicht ihre Erscheinungen, sondern in seinen Dichtungen dampft die Erde, leuchtet die Sonne, funkeln die Sterne, rauscht das Meer. Die „Leiden des jungen Werther" hatten einen ungeheuren Erfolg, weit über die deutschen Grenzen hinaus; während tausend zarte Seelen in wehmütiger Lust über den unglücklichen Helden zerflossen, las sie doch auch nicht weniger als siebenmal der französische General Bonaparte, der eherne Geist, der sich eben anschickte, die Welt zu erobern. Die Hand dieses Dichters löste alle Geheimnisse, die in den tiefbewegten Herzen der Zeit schlummerten.

Einer aber stand doch misstrauisch und zweifelnd dem „Götz" wie dem „Werther" gegenüber, und das war Lessing. Die Goethephilister, die nichts Besseres sind als andere Philister auch, sehen darin hämischen Neid des freien und starken Mannes; was ihn unbehaglich stimmte, war vielmehr der natürliche Verdruss des bürgerlichen Vorkämpfers, der von seiner Klasse den geraden Weg zum Ziele verschmäht sah. Traurig genug, dass heute dieser einfache Zusammenhang noch nicht verstanden wird! Aber nicht Goethe wird dadurch verkleinert, denn die Bahn, die er sieghaft und unwiderstehlich beschritt, war die einzige, die der deutschen Nation nach ihrer historischen Entwicklung offenstand, um wieder ebenbürtig in den Reigen der großen Kulturvölker einzutreten. Wie Goethe damals unter den Lebenden einherschritt, in herzberückender Schönheit, mit lockigem Haupt und strahlenden Augen, das haben Zeitgenossen oft begeistert geschildert: vom Wirbel bis zur Zehe ein echter Künstler, dessen Leier von goldenen Liedern tönte wie sein Köcher von scharfen Pfeilen klang, mächtige Pläne wälzend im geistigen Verkehr mit den großen Gestalten der Vorwelt, einem Prometheus, einem Mahomet, einem Cäsar, und Stein auf Stein schichtend am Faust, dem modernen Weltgedichte.

Jedoch die Bande des deutschen Elends vermochte auch dieser Genius nicht von seinen edlen Gliedern zu streifen. Goethe hatte sich als Advokat in seiner Vaterstadt niedergelassen und mit Elisabeth Schönemann verlobt, einem reichen und schönen Mädchen, das ihn in das leere Treiben des Frankfurter Geldprotzentums zu verstricken drohte. Ein glücklicher Instinkt bewahrte ihn vor der Gefahr, aber der Hafen, in den er sich rettete, war doch nur der Hof eines Kleinfürsten.

Der junge Herzog von Weimar, in dessen Dienste Goethe trat, war keineswegs der hochgesinnte Mäzen, den eine liebedienerische Geschichtsschreibung aus ihm gemacht hat. Gewiss stand er an geistiger und leiblicher Kraft über allen anderen Despoten, die zu jener Zeit am Marke des deutschen Volkes zehrten, aber das wollte nicht viel besagen. Zur Zeit, wo Goethe und Schiller, Herder und Wieland an seinem Hofe lebten, hielt er unbeirrt an dem französisch-höfischen Klassizismus fest, der den literarischen Bedürfnissen des deutschen Duodezdespotismus entsprach, und nach vierzigjährigem Zusammenleben mit Goethe vertrieb er diesen von der Leitung der Weimarer Bühne, um einer seiner Mätressen eine flüchtige Laune zu befriedigen.2 Damals sagte Goethe mit Recht: Karl August hat mich niemals verstanden.

Immerhin war es für einen deutschen Fürsten eine gewisse Leistung, dass der Herzog von Weimar als achtzehnjähriger Brausekopf an dem um acht Jahre älteren kraftgenialischen Dichter großes Gefallen fand und ihn an seinen Hof lud. Am 7. November 1775 zog Goethe in das kleine, schmutzige, winklige Nest an der Ilm ein, wo er 56 Jahre, bis an seinen Tod leben sollte.

Er trat damit in unsäglich dürftige und kleinliche Verhältnisse ein. Das ganze Herzogtum umfasste 34 Geviertmeilen mit etwa 100.000 Einwohnern; nicht größer als ein oder ein paar preußische Kreise, besaß es doch seinen Hof und sein Heer, seine geistlichen und seine weltlichen Behörden, als wäre es eine europäische Großmacht; natürlich alles nach zwerghaftem, aber die arme Bevölkerung deshalb nicht weniger pressendem Zuschnitt. Goethe wurde im Ministerium angestellt, nicht ohne dass der einheimische Klüngel sich heftig dagegen aufgelehnt und auch nicht ohne dass er einen gewissen Grund oder doch Vorwand für seine Quertreibereien gehabt hätte. In einem lustigen Leben tobte sich der junge Herzog aus, und Goethe spielte den Fähnchenführer aller tollen Streiche. Doch dergleichen war herkömmlich an allen deutschen Höfen, und der giftige Klatsch, der sich an Goethes Anfänge in Weimar heftete, wurzelte nur darin, dass der unweise Mentor des Fürsten ausnahmsweise kein strohköpfiger Junker, sondern ein genialer bürgerlicher Dichter war. Auf der anderen Seite ist freilich auch nicht großes Aufheben davon zu machen, dass Goethe sich selbst bald wieder fand, dass er ein Jahrzehnt lang ein fleißiger und gewissenhafter Beamter war; was er als weimarischer Minister geleistet hat und überhaupt nur leisten konnte, das leistet jeder passable preußische Landrat ohne jeden Anspruch auf den Lorbeer der Mit- und Nachwelt.

Von historischem Interesse ist allein, wie diese äußeren Lebensverhältnisse auf den Dichter Goethe wirkten. Er blieb im Bannkreise der herrschenden Klassen, worin er geboren und aufgewachsen war; Lessings kräftigen Abscheu vor dem höfischen Leben besaß er nicht, und seine Muse hat sich fast sechzig Jahre lang höfischen Anforderungen aller Art bequemt. Sein Herz gehörte in diesem Jahrzehnt einer Hofdame, der Frau v. Stein, die sieben Jahre älter war als er und schon sieben Kinder geboren hatte; kein weibliches Wesen sonst hat das Herz des Dichters so lange und so unumschränkt beherrscht wie diese gewiss nicht unbedeutende, aber doch in adligen und höfischen Anschauungen befangene Frau. Wohl schrieb er ihr einmal, als er seine „Iphigenie" zu dichten begann: „Es ist verflucht, der König in Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwirker in Apolda hungerte", und ein andermal von einer Reise: „Wie sehr ich wieder auf diesem dunklen Zuge Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber für Gott die höchste ist", allein die Tugenden, die Goethe an der „niederen Klasse" rühmt – Beschränktheit, Genügsamkeit, Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren –, waren doch eben nur Tugenden, wie sie den herrschenden Klassen an den beherrschten gefallen, damals wie heute.

Jedoch was sich in ihm mehr und mehr gegen die Misere empörte, worin er leben musste, das war der geborene Künstler, der geniale Dichter. Der konnte auf die Dauer nicht „mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen" und seine „Stunden verderben, die Affen menschlich aufzuputzen und die Hunde tanzen zu lehren". Die Förderung der ästhetischen Kultur, die ihm am Herzen lag und die gewiss der einzige Milderungsgrund des deutschen Duodezdespotismus sein konnte, stieß immer wieder auf den Widerstand des Herzogs, der von seiner abgeschmackten Soldatenspielerei, von seinen schmarotzenden Höflingen, von seinen kostspieligen Jagden und Reisen nicht lassen mochte. „Der Frosch ist fürs Wasser gemacht, wenn er gleich auch eine Zeitlang sich auf der Erde befinden kann", seufzte Goethe, und an seinen Freund Knebel schrieb er: „So steig' ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Nötige abfordern, das doch auch ein behaglich Auskommen wäre, wenn er nur für sich selbst schwitzte. Du weißt aber, wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern. Und so geht's weiter, und wir haben's so weit gebracht, dass oben immer an einem Tage mehr verzehrt wird als unten an einem beigebracht werden kann." In diesem hoffnungslosen Kampfe mit dem Hässlichen und Widrigen rieb sich Goethe auf; alle seine großen poetischen Entwürfe blieben unvollendet liegen; der Dichter, der mit „Götz" und „Werther" so glorreich begonnen hatte, schien für die Nation verschwunden zu sein.

Da rettete sich Goethe durch einen schnellen Entschluss, durch eine Reise nach Italien, die er im Sommer 1786 antrat, um zwei Jahre namentlich in Rom zu leben. Dem „ehernen Himmel" Deutschlands entronnen in eine sonnige Natur und in eine Welt der Kunst, die ihm am überwältigendsten in den Bildwerken der Antike entgegentrat, fand sich der Dichter für immer wieder. Nun bildete sich der Ton schnell unter seinem zauberkräftigen Willen; in rascher Fülle drängten sich die Werke des Meisters, „Iphigenie" und „Tasso" und die „Römischen Elegien"; wo immer diese Hand die Saiten berührte, klangen sie wieder wie aus den Tiefen der Menschheit.

Nach seiner Rückkehr fand sich Goethe schwer in den alten kümmerlichen Verhältnissen zurecht. Seine „Gewissensehe" mit Christiane Vulpius, einer derben und drallen Schönheit, die ihm geistig wenig bieten konnte, löste seine Beziehungen zur Frau v. Stein; auch sonst fühlte er sich vereinsamt, und nur seine amtlichen Pflichten lasteten fortan nicht mehr so schwer auf ihm. Der Herzog begann endlich zu begreifen, dass Goethe zu besseren Dingen tauge, als das Rad der kleinstaatlichen Bürokratie zu treten; er ließ ihm so ziemlich freie Hand, und Goethe beschränkte sich im wesentlichen darauf, das Theater in Weimar zu leiten.

Aber auch tiefere Konflikte, die in seines Wesens Wesenheit trafen, drängten heran. Das Wetterleuchten der Französischen Revolution drang über den Rhein, und ihr ideologisches Spiegelbild, die Kantische Philosophie, revolutionierte die deutschen Geister. Die Stürme der Außenwelt bedrohten die umfriedete Welt der Schönheit, die sich der Dichter erbaut hatte. Er wandte sich widerwillig von ihnen ab, ohne eine Spur des historischen Verständnisses, das doch viele geringere Menschen unter den deutschen Zeitgenossen besaßen. Die salzlosen Possen, durch die Goethe die große Revolution verhöhnen wollte, werfen einen tieferen Schatten auf seinen Dichterruhm als selbst die Maskenzüge und sonstigen leeren Versspiele, die er den höfischen Festen in Weimar gewidmet hat. Sein dichterisches Hauptwerk dieser Zeit waren „Wilhelm Meisters Lehrjahre", ein Roman, den er selbst lange für die Krone seiner Dichtung gehalten hat, ohne dass dies Urteil von der Nachwelt beglaubigt worden wäre. So reiche Spuren des Goetheschen Geistes der Roman auch immer an sich tragen mag: alle Kunst erliegt der Armut und Dürftigkeit des Stoffes, des sozialen Lebens im damaligen Deutschland, das sich nur durch die plumpen Hebel eines anmaßenden Krautjunkertums und eines verachteten Schauspielerproletariats aus den Angeln der ehrbar-engen und philiströsen Prosa heben ließ.

Allein was in der Mitte der achtziger Jahre die italienische Reise getan hatte, das tat in der Mitte der neunziger Jahre die Freundschaft mit Schiller. Der letzte und kühnste Ausläufer der Sturm- und Drangperiode, brausend und schäumend noch zu einer Zeit, wo die klassische Ruhe schon zu Goethes künstlerischem Ideal geworden war, hatte Schiller eine heftige Abneigung gegen Goethe gefasst, die von diesem mit großem Misstrauen erwidert wurde. Dann aber fanden sie sich, je mehr Schiller durch das deutsche Elend auf das Gebiet der ästhetischen Kultur gedrängt wurde und je mehr Goethe nach einem Geist verlangte, der ihn zu verstehen fähig war. Ihr zehnjähriges Zusammenwirken bildet den Gipfel unserer klassischen Literatur, von dem unzählige befruchtende Ströme in das geistige Leben der Nation geflossen sind. Unsere Wege und unsere Ziele sind andere geworden, und wir wissen wohl, dass wir nicht auf ästhetischen Wegen die politische und die soziale Freiheit erreichen werden, aber wer eine Ahnung von dem historischen Zusammenhange der deutschen Dinge hat, wird nie ohne dankbare Ehrfurcht der großen Tage gedenken, in denen Goethe und Schiller gemeinsam schufen. Der Streit, wer von beiden in diesem Bunde mehr gegeben oder mehr genommen habe, gehört zu den Wenn- und Aberphantasien, die mit der ernsthaften Geschichtsforschung nichts zu schaffen haben; Goethe hat ihn schon abgetan mit dem drastischen Worte, die Deutschen sollten sich doch daran genügen lassen, zwei solche Kerle gehabt zu haben.

Gewiss war Goethe der genialere und universellere Künstler, doch was er in diesem Jahrzehnt geschaffen hat, trägt die deutlichen Spuren des feurigen Temperaments, das Schiller in den Freundschaftsbund brachte. Gemeinsam sandten sie ihre „Xenien" wie Füchse mit brennenden Schwänzen in die Saat der Philister; in neidlosem Wettkampf zwischen ihnen entstand eine Fülle herrlicher Balladen, und wie anders noch als in der „Iphigenie" und im „Tasso" wusste Goethe in „Hermann und Dorothea" antike Form mit modernem Leben zu füllen! Wie hoch erhob sich dies kleine Epos, mit seinem erhabenen Gleichmaß, mit seiner homerischen Einfachheit, über die abenteuerliche Romantik des „Wilhelm Meister"! Mitten hinein in die kleinbürgerlichen Kreise, die nun doch einmal seit Jahrhunderten den Schwerpunkt des deutschen Lebens bildeten, schritt der Dichter, und was er aus ihnen schöpfte, war die schlichte, die unversiegliche Kraft, die in aller Not und allem Wirrsal den deutschen Namen für eine große Zukunft gerettet hatte.

Unablässig trieb Schiller den Freund zur Vollendung des „Faust", doch war er schon drei Jahre tot, als der Tragödie erster Teil im Jahre 1808 erschien. Goethe hatte früher bereits Bruchstücke aus dem unsterblichen Werke veröffentlicht, das ihn sein Leben lang begleitet hat; sie waren wenig beachtet worden, aber als nun, mitten in den Tagen von Deutschlands tiefster Erniedrigung, die vollendete Dichtung erschien, da schlug sie unwiderstehlich und zündend ein wie einst die „Leiden des jungen Werther". Der Greis erlebte noch einmal die überschwänglichen Triumphe des Jünglings. Nur ein Deutscher konnte dies Gedicht, das alle europäischen Kulturvölker willig als die Krone der modernen Poesie feierten, in all seiner unvergleichlichen Herrlichkeit schaffen, und daraus schöpften die Deutschen ein viel stolzeres Selbstvertrauen, als sie aus den kümmerlichen Reformen schöpfen konnten, zu denen die Not der Fremdherrschaft die heimischen Despoten zwang.

Von nun stand Goethe sein langes Greisenalter hindurch in einsamer Höhe über der Nation. Der Kampf, den sie für ihr nationales Dasein führte, bewegte ihn nicht; rüttelt nur an euren Ketten, der Mann ist euch zu groß, meinte er wohl.

Er ist deshalb viel gescholten worden: mit Unrecht, soweit er viel zu sehr Kulturmensch war, um an der abgeschmackten Franzosenfresserei irgendeinen Geschmack zu finden, mit Recht, soweit er sich in einer Zeit weltbewegender Kämpfe in dem kläglich kleinen Käfig eines deutschen Miniaturhöfchens gefiel. Der große Poet verschwand jetzt allzu oft und allzu weit hinter dem kleinsten Minister, wie sich der gewaltige Sprachmeister in einem feierlich nichtssagenden Greisenstile gefiel. Es war ein zweigeteiltes Leben, das sich so auch in den dichterischen Werken dieser Periode spiegelt. Neben blühenden Oasen enthalten sie trostlos dürre Strecken; es zeugt mehr von einem ästhetischen Straußenmagen als von ästhetischer Feinschmeckerei, wenn die Goethephilister in jeder Zeile auch des alternden Goethe lautere Weisheit rieseln hören.

Eine Macht aber blieb er im deutschen Leben, wie der größte, so auch der letzte Vertreter der klassischen Literatur, die, solange Goethe lebte, den einzigen unanfechtbaren Anspruch des deutschen Volks auf den Ruhm einer Kulturnation bildete. Mit Baschkiren im Bunde waren die Befreiungskriege gegen den Erben der Französischen Revolution geschlagen worden, und ihnen folgte eine scheußliche Reaktion. Die klassische Literatur aber hatte sich selbst ihren Wert erschaffen, und eben hieran dachte Goethe, als er die großsprecherischen Anmaßungen der romantischen Dichterschule, die unter dem Rückstoß des feudalen Ostens auf den bürgerlichen Westen entstanden war, mit den derben Worten abfertigte: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist." Worte, die heute gegenüber der neuen Romantik des bürgerlichen Verfalls denselben treffenden Sinn haben, den sie vor siebzig Jahren gegenüber der alten Romantik des feudalen Verfalls hatten.

Anders stand es mit der Opposition, die ehedem das noch lebenskräftige und zukunftsfrohe Bürgertum gegen Goethe erhob. Er starb am 22. März 1832, als die Pariser Julirevolution den traurigen Tagen der europäischen Restauration ein Ziel gesetzt hatte, als sich die Völker wieder ihrer Rechte gegen die Fürsten entsannen. Die deutsche Jugend, die politisch zu denken und zu handeln begann, die nur den alten Goethe gesehen hatte und selbst in seinen jugendlichen Dichtungen wenig von dem fand, was ihr Herz bewegte, musste sich ablehnend und feindlich zu ihm stellen. Da ist es nicht ohne bittere, harte, ungerechte Urteile abgegangen; man braucht nur zu lesen, was Börne über Goethes und Schillers Briefwechsel schrieb, und Börne war doch immer ein ästhetisch gebildeter und geistreicher Mann. Aber deshalb darf man nicht mit den bürgerlichen Goethephilistern in das Wehgeschrei über das bittere Unrecht einstimmen, das die Nation ihrem größten Sohne angetan haben soll. Eine Nation ist immer noch viel größer als ihr größter Sohn; sie muss ihre Gaben und Kräfte auf allen Gebieten menschlichen Schaffens betätigen, wie es der einzelne niemals kann, der schon in Raum und Zeit so ungleich beschränkter ist. Wie seltsame, wunderliche und selbst empörende Urteile immer über Goethe laut geworden sind, als das politische Leben sich in Deutschland entwickelte, so darf man nie vergessen, dass sie einer historischen Notwendigkeit entsprangen; sollte das deutsche Volk zu einer selbstbewussten Nation werden, so musste die Einseitigkeit der ästhetischen Kultur überwunden, so musste der einst belebende und nun erstarrende Bann des großen Namens Goethe gebrochen werden.

Er selbst gehörte zu den historischen Größen, die ruhig das gerechte Urteil der Nachwelt erwarten können. Sie sieht in ihm nicht mehr das übermenschliche Genie, aber er ist ihr deshalb nicht kleiner geworden, weil er ihr menschlicher geworden ist. Wie vieles von dem, was in seinen Werken abgestorben ist oder tot geboren war, verschuldete seine Zeit, wie vieles von dem, was darin lebendig quillt und sprudelt, ja lebendig quellen und sprudeln wird, solange es eine deutsche, eine europäische Kultur gibt, gehört dem Menschen, der ein Kämpfer war! Die Luft der modernen Zeit ist mit den Keimen gesättigt, die seine gütige Hand in verschwenderischer Fülle ausgestreut hat: Unzählige, die vielleicht nicht einmal Goethes Namen kennen, haben dennoch seines Geistes einen Hauch gespürt. So lebt er fort und wird fortleben auch in jener neuen Welt, die seinem sterblichen Auge noch ganz verschlossen war.

1 Gemeint sind das Schäferspiel „Die Laune des Verliebten" und das satirische Lustspiel „Die Mitschuldigen".

2 Im April setzte Herzog Karl August auf Betreiben seiner Geliebten, der Schauspielerin und Sängerin Karoline Jagemann, durch, dass Goethe aus der Leitung des Weimarer Theaters ausschied.

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