Franz Mehring 18930300 Kleists „Zerbrochener Krug"

Franz Mehring: Kleists „Zerbrochener Krug"

März 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 5, S. 3-7. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 325-328]

Unsere klassische Literatur ist bekanntlich arm an guten Lustspielen. Als das erste und eigentlich auch einzige pflegt man Lessings „Minna von Barnhelm" zu nennen. Aber dies Stück ist nicht so frisch geblieben wie Lessings „Emilia" und „Nathan". Nicht so frisch oder doch mindestens nicht so verständlich. Es setzt eine sehr genaue Kenntnis der preußischen Zustände voraus, so wie sie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts sich gestaltet hatten, wenn man dem Dichter und seiner Dichtung gerecht werden will, wenn man erkennen will, wie Lessing diese Zustände lachend geißelt. Die gesinnungstüchtige Gelehrsamkeit oder die verlehrte Gesinnungstüchtigkeit hat es denn auch richtig fertiggebracht, in die „Minna" eine Verherrlichung der preußischen Zustände hineinzulegen, von der Lessings freie Seele nichts gewusst hat. Soweit es die preußische Zensur von dazumal, die jedes offene Wort erwürgte, nur irgend zuließ, hat Lessing in seinem Lustspiel das despotische Regiment des Königs Friedrich gegeißelt, aber das Verständnis dieser feinen und oft sehr versteckten Bezeichnungen ist nur möglich, wenn man die preußischen Zustände des vorigen Jahrhunderts praktisch studiert hat, und insoweit gehört Lessings klassisches Lustspiel leider nicht mehr den lebendigen, nicht mehr den Dichterwerken an, die unbefangen ohne weitläufigen Kommentar genossen werden können. In gewisser Beziehung steht es ähnlich mit Freytags „Journalisten", die gewöhnlich nächst Lessings „Minna" als das beste deutsche Lustspiel genannt zu werden pflegen, obschon in Wirklichkeit denn doch ein sehr beträchtlicher Abstand zwischen beiden besteht. Freytag schildert mit behaglich-breitem und etwas selbstgefälligem Humor die matten politischen Kämpfe, die in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts in Preußen zwischen einem hasenherzigen Liberalismus und einer gewissenlosen Reaktion geführt wurden; seine edelmütigen Vertreter der bürgerlichen Presse, seine gemütlich-wohlwollenden Bourgeois sind heute nicht mehr wahr, falls sie wirklich einmal wahr gewesen sein sollten; auf den Brettern einer Arbeiterbühne würden sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht erheiternd, sondern verstimmend wirken.

So steht Heinrich v. Kleists „Zerbrochener Krug" einsam, wie in dem dramatischen Schaffen seines Dichters auch in unserer Literatur. Er verdankt seine Entstehung einem Zufall, den Kleist selbst also schildert: „Diesem Lustspiele liegt wahrscheinlich ein historisches Faktum, worüber ich jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zum Grunde. Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah. Man bemerkte darauf zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihr widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauernkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Deliktum geschehen war), spielte, sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehen: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter misstrauisch von der Seite an, wie Kreon bei einer ähnlichen Gelegenheit den Ödip, als die Frage war, wer den Lajus erschlagen. Darunter stand: Der zerbrochene Krug. Das Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister." So Kleist, und es kennzeichnet seine dramatische Gestaltungskraft, wie sie bei der Wiedergabe des Bildes in Worten gleich den geschilderten Zustand in Handlung umsetzt. Die andonnernde Gravität des Richters, das scheu-zerknirschte Aussehen der bräutlichen Zeugin, der misstrauische Seitenblick des Gerichtsschreibers auf den Richter, so schießen die Strahlen zusammen zu dem aufleuchtenden, ebenso glücklichen wie komischen Einfall: der Richter selbst hat den Krug zerbrochen bei einem unsauberen Liebesabenteuer und muss, indem er verhört, sich selbst entlarven.

Welch ein psychologisches Meisterstück – dieser Richter Adam, wie er sich festlügt mit frecher Stirn, wie er dann aufgescheucht wird aus allen Schlupfwinkeln seiner dummdreisten Schlauheit, wie er sich nach und nach entpuppt als ein Ungestüm von feiner Unverschämtheit, ein holländischer Falstaff." So ein bürgerlicher Literarhistoriker, und damit ist der komische Held des „Zerbrochenen Kruges" treffend gezeichnet. Bei all seiner Feigheit und Unverschämtheit und Verlogenheit kann man ihm aber nicht völlig gram werden; wie Shakespeare seinem Falstaff, so erhält Kleist auch seinem Dorfrichter Adam etwas von der Sympathie der Hörer, und das war ja auch eine unbedingte Notwendigkeit, denn sonst würde die komische Gestalt zu einer widerwärtigen werden. Wie nun Kleist dieser Notwendigkeit gerecht wird, das setzt seine dramatische Kunst ins hellste Licht, und der Dorfrichter Adam gehört für immer zu den klassischen Gestalten der deutschen Dichtung. Aber auch die anderen Personen des Lustspiels quellen von heiterem Leben; wundervoll ist der holländische Lokalton, die Zeitfarbe des vorigen Jahrhunderts getroffen, und nicht zuletzt bewundernswert ist die virtuose Kühnheit, womit sich der Dichter die Aufgabe so schwer als möglich macht, um sie so glänzend wie möglich zu lösen. Das ganze Lustspiel stellt bis auf ein paar einleitende Szenen die auf dem Kupferstich wiedergegebene Situation dar; der entscheidende Hergang rollt sich nicht vor unseren Augen ab, sondern er wird nachträglich enthüllt, doch der Dichter weiß den Gang des Verhörs so gewandt zu entwickeln, dass wir auf das Geschehene nicht minder gespannt sind wie auf das Zukünftige. Und die Anregung, die der Dichter selbst der bildenden Kunst verdankt, hat er ihr mit Zinseszins zurückgegeben: in den meisterhaften Illustrationen Adolf Menzels zu seinem Lustspiele.

Kleist selbst hat am „Zerbrochenen Kruge" wenig Freude erlebt. Es gelang ihm zwar, ihn vor all seinen anderen Dramen auf die Bühne zu bringen, aber nur mit einem starken Misserfolge. Doch die Schuld daran trug Goethe, der das Lustspiel in drei Aufzüge zerrissen hatte und so in Weimar aufführen ließ. Auch stimmte der weihe- und würdevolle Klassizismus der Weimarer Bühne sehr wenig zu den derben, vollblütigen Gestalten Kleists. Er selbst mochte im „Zerbrochenen Kruge" nur ein Nebenwerk sehen, aber sein einziges Lustspiel hat entweder schon all seine Schau- und Trauerspiele überlebt oder wird sie doch überleben. Von der „Penthesilea" zu geschweigen, so wissen wir mit dem „Käthchen von Heilbronn", mit der „Hermannsschlacht", mit dem „Prinzen von Homburg" nicht mehr viel anzufangen, so reich sie an schönen Einzelheiten sind und so purpurn sie das echte Herzblut eines echten Dichters gefärbt hat. Es war Kleists Verhängnis, dass er durch Abstammung, Erziehung, Lebensberuf immer in Verhältnissen lebte, die seiner genialen Begabung sowenig gerecht werden konnten, wie er ihnen, dass er mit einem Worte zur Romantischen Schule gehörte. Als das Schwert eines fremden Eroberers vollbrachte, was die bürgerlichen Klassen in Deutschland nicht aus eigener Kraft zu vollbringen vermochten, als die napoleonische Fremdherrschaft den ärgsten Schutt vom deutschen Boden räumte, um nun selbst mit unerträglicher Wucht auf allen Klassen der Nation zu lasten, da spiegelte die romantische Dichtung die seltsam zwiespältige Lage der Dinge wider. Die nationalen und sozialen Interessen des Bürgertums traten in einen unversöhnlichen Gegensatz; diese Klasse konnte sich das ausländische Joch nicht abschütteln, ohne sich das einheimische Joch um so tiefer in den Nacken zu drücken. Vergebens suchten sich die Schlegel und Tieck, die Wortführer der Romantik, über diesen klaffenden Abgrund mit angequälter Genialität und der berühmten „Ironie" fort zu schwindeln; vergebens haschten sie in der Literatur aller Völker und Zeiten nach dem Boden, auf dem sie fußen konnten. Die Romantische Schule konnte diesen Boden nur in der „mondbeglänzten Zaubernacht" des Mittelalters gewinnen; nur hier ließen sich nationale Ideale finden. Aber das Mittelalter war die ausgeprägteste Klassenherrschaft der Junker und Pfaffen; aus diesem Zwiespalte der nationalen und der sozialen Interessen gab es kein Entrinnen. So ging der genialste, ja der einzig geniale Dichter der Romantik, eben Heinrich v. Kleist, unter in Irrsinn und Selbstmord.

Unsere Leser kennen das verfallene Grab unter den melancholischen Föhren am Ufer des kleinen Wannsees. Dort ruht Heinrich v. Kleist, der Dichter des „Zerbrochenen Kruges".

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