Franz Mehring 19050308 März-Aphorismen

Franz Mehring: März-Aphorismen

8. März 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 769-772. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 263-267]

Die Iden des März kehren wieder, die seit zwei Jahrtausenden den Despoten so oft verhängnisvoll geworden sind. Auch dieser März sieht den Untergang eines Despotismus, wie er grauenvoller niemals früher bestanden hat. Eben jetzt treffen neue Nachrichten von zarischen Niederlagen in Ostasien ein, und gegenüber dem dräuenden Antlitz der Revolution, die sich in Russland selbst gegen ihn erhebt, taumelt der Zar hilflos hin und her, indem er sich bald an die selbstherrliche Macht zu klammern sucht, die seinen Händen schon entglitten ist, bald in Verheißungen ergeht, die das nahende Verhängnis so wenig beschwören können wie das ohnmächtige Lallen eines Knaben den Sturm auf dem Weltmeer.

Würdiger oder doch männlicher als dieser Romanow wussten Karl Stuart und selbst Ludwig Capet zu enden.1 Sie haben in ihren Todesnöten ihr Land verraten, aber die Stufen des Blutgerüstes erstiegen sie mit leidlichem Mute. Vielleicht weil die Stuarts und die Capets auf das Handwerk der Könige dressiert waren, was man von den Romanows eigentlich nicht sagen kann. Seit Michail Fedorowitsch Romanow, ein siebzehnjähriger Junge, im Jahre 1613 auf den Zarenthron gesetzt wurde, weil sich die beiden mächtigsten Bojarengeschlechter der Mstislawski und der Trubetzkoi so genau die Waage hielten, dass jedes zwar das andere von der Zarenwahl ausschließen, aber den Thron nicht aus eigener Kraft erobern konnte, seitdem war im Hause Romanow der Ehebruch so heimisch wie der Meuchelmord, und man kann vielleicht sagen, dass für jeden echten Romanow, der meuchelmörderisch um die Ecke kam, ein falscher Romanow ehebrecherisch gezeugt wurde.

Schon deshalb sind die Romanows die berufensten Vorkämpfer der legitimen Monarchie, weil ihr historisches Dasein der ausgesuchteste Hohn auf den Begriff der legitimen Monarchie ist. Sie endet in Nikolaus II. als groteske Karikatur, und Freiligrath war viel zu barmherzig, als er so einen letzten Monarchen im Getümmel einer Weltschlacht enden ließ.2

Überhaupt sind die Dichter nicht immer Seher. Vor hundert Jahren ahnte der gute Schiller auch nichts von dem heutigen Zustand des zarischen Despotismus; sonst hätte er sicherlich sein letztes Drama nicht auf eine Apotheose der Romanows angelegt. Er hat diese Verherrlichung nicht mehr auszuführen vermocht, aber seine Absichten gehen klar aus dem prosaischen Entwurf seines „Demetrius" hervor. Der falsche Demetrius erhebt sich gegen den Zaren Boris und erringt solche Erfolge, dass der Zar sich durch Gift tötet, mit Hinterlassung zweier Kinder, des Sohnes Feodor und der Tochter Axinia. Es heißt nun in Schillers Entwurf: „Allgemeine Verwirrung bei der Nachricht vom Tode des Zaren. Die Bojaren bilden einen Reichsrat und herrschen im Kreml. Romanow (nachheriger Zar und Stammvater des jetzt regierenden Hauses) tritt auf an der Spitze einer bewaffneten Macht, schwört an der Brust des Zaren seinem Sohne Feodor den Eid der Treue und nötigt die Bojaren, seinem Beispiel zu folgen. Rache und Ehrsucht sind fern von seiner Seele; er folgt bloß dem Rechte. Axinia liebt er ohne Hoffnung und wird, ohne es zu wissen, wiedergeliebt. Romanow will zur Armee, um diese für den Zaren zu gewinnen … Romanow, der zu spät kam, ist nach Moskau zurückgekehrt, um Feodor und Axinia zu schützen. Alles ist vergebens, er selbst wird gefangen gesetzt … Romanow im Gefängnis wird durch eine überirdische Erscheinung getröstet. Axiniens (die inzwischen vergiftet ist) Geist steht vor ihm, öffnet ihm einen Blick in künftige, schönere Zeiten und befiehlt ihm, ruhig das Schicksal reifen zu lassen und sich nicht mit Blut zu beflecken. Romanow erhält einen Wink, dass er selbst zum Throne berufen sei. Kurz nachher wird er zur Teilnehmung an der Verschwörung gegen Demetrius aufgefordert; er lehnt es ab." Soweit Schiller. Sein Romanow ist also ein Ausbund von Tugend, wie nicht einmal seine Jungfrau von Orleans, die ja nicht frei von menschlicher Schwäche ist. Historisch ist davon nicht eine Silbe richtig; der erste Romanow kam als unmündiger Knabe auf den Thron, nach dem Sturze des Demetrius und nur, weil sich die beiden Adelsfamilien nicht einigen konnten, als schwarzes Pferd, wie es bei den Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten zu heißen pflegt. Auf dem Throne erwies er sich als völlig unfähig, wurde von Polen und Schweden nach Noten zusammengedroschen und musste ihnen große Teile des Reiches abtreten, in dessen Innerm Zustände grässlichster Verkommenheit herrschten.

Indessen, die historische Wahrheit ist für den Dichter nicht unbedingt heilig; kraft seines ästhetischen Rechtes darf er sie verletzen. Aber wie steht es ästhetisch mit der Verherrlichung der Romanows durch Schiller? Er selbst hat sich darüber schon lange Jahre vorher in der Kritik ausgesprochen, die er an Goethes „Egmont" übte, wo dem schlafenden Helden im Traume die Freiheit als überirdische Erscheinung in der Gestalt Klärchens erscheint. „Je höher die Illusion in dem Stücke getrieben ist", sagt Schiller, „desto unbegreiflicher wird man es finden, dass der Verfasser selbst sie mutwillig zerstört… Mitten aus der wahrsten und rührendsten Situation werden wir durch ein Salto mortale in eine Opernwelt versetzt, um einen Traum – zu sehen. Lächerlich würde es sein, dem Verfasser dartun zu wollen, wie sehr dadurch unserem Gefühl Gewalt angetan wurde; das hat er so gut und besser gewusst als wir. Aber ihm schien die Idee, Klärchen und Freiheit, Egmonts beide herrschenden Gefühle, in Egmonts Kopf allegorisch zu verbinden, gehaltreich genug, um diese Freiheit allenfalls zu entschuldigen. Gefalle dieser Gedanke, wem er will – Rezensent gesteht, dass er gern einen sinnreichen Einfall entbehrt hätte, um eine Empfindung ungestört zu genießen." Diese Kritik trifft auch auf Axiniens überirdische Erscheinung zu, nur dass der bei einem Egmont noch sinnreiche Einfall bei einem Romanow rein sinnlos geworden ist.

Man möchte es fast als Genugtuung empfinden, dass Schiller, wenn er doch schon in der Blüte seiner Jahre sterben sollte, nicht noch einige Monate länger gelebt hat, denn sonst hätte er nach der millionenmal totgepeitschten Phrase nicht das ideale Bild des schweizerischen Freiheitshelden, sondern die überirdische Verklärung des zarischen Despotismus als sein geistiges Testament hinterlassen.

Man wird uns nicht in Verdacht haben, als ob wir mit diesen Bemerkungen an Schiller herummäkeln wollten. Wir haben uns schon vor acht Tagen gegen die tendenziöse Verzerrung seiner historischen Gestalt gewandt3, und eben dies ist auch heute unser Zweck. Denn ob man ihn ab- oder auf schminkt, das ist derselbe Trödel; wenn man dem angeblichen Dichter der „akademischen Freiheit" einen angeblichen Dichter der „bürgerlichen Revolution" entgegenstellt, so ist belletristisches Gerede hüben wie drüben.4 Wir meinen, dass Schiller groß genug sei, um eine ehrliche Darstellung seines Wesens und seines Wirkens aus seiner Zeit heraus zu ertragen, und wenn er uns für alle Schönfärberei nach rechts wie nach links zu gut ist, so ist uns die bürgerliche Revolution nicht minder oder noch mehr zu gut dazu.

Schillers revolutionärste Gestalt ist der Räuber Moor, der das bürgerliche Gesetz unter seine Füße rollt, um sich dann selbst dem Henker auszuliefern, weil er eitle Kinderei unternommen habe, weil er zur zerschmetternden Einsicht gekommen ist, dass zwei Menschen wie er den ganzen sittlichen Bau der Welt zerstören würden. Marquis Posa ist allerdings der Abgesandte einer Revolution, die bis zu einem gewissen Grade bürgerlich genannt werden kann, aber er führt ihre Sache wie ein Illuminat oder Freimaurer, der die Völker glücklich machen zu können hofft, wenn er einen zukünftigen oder auch gegenwärtigen König zu tugendhaften Grundsätzen bekehrt. Was dann gar der Kampf der schweizerischen Urkantone gegen das Haus Habsburg – selbst wenn man ihn nicht in historisch reaktionärem Sinne auffasst, wie es der junge Engels in einem prächtigen Aufsatze getan hat – mit der „bürgerlichen Revolution" zu tun hat, ist vollends nicht abzusehen. Nicht als ob damit bestritten werden soll, dass Schillers Dichtung revolutionäre Elemente enthält und auch revolutionär gewirkt hat, aber diese Elemente wollen historisch begriffen sein, und mit dem historischen Begriffe der „bürgerlichen Revolution" haben sie gar nichts zu tun.

Als Schiller diese Revolution mit leibhaftigen Augen sah, kam er ihr zwar freundlich entgegen, aber seine Freundlichkeit hörte auf, sobald ihm klar wurde, dass es sich in der bürgerlichen Revolution nicht um ein ideales Freiheitspathos, sondern um die Verwirklichung reeller Klasseninteressen handelte, die ihm unverständlich und ebendeshalb unheimlich waren. Danach hat er den revolutionären „Schindersknechten" sehr energisch abgesagt. Man braucht sich nur das Lirum Larum über die Selbstbefreiung der Völker in seinem „Liede von der Glocke", diesem Hohenlied des deutschen Philisters, im Geiste zu vergegenwärtigen, um darüber klar zu sein, dass Schiller nicht der Dichter der „bürgerlichen Revolution" gewesen ist, sondern – insoweit als er seine spießbürgerliche Auffassung dieser Revolution dem deutschen Kleinbürgertum einzuimpfen verstanden hat – seinen gerüttelten und geschüttelten Anteil an ihrem Scheitern in Deutschland trägt. Den Arbeitern darf man diesen Zusammenhang um so weniger durch belletristelnde Schlagworte verwischen, als Schiller mit gutem Fug auch in ihren Kreisen eine große Popularität genießt.

Schillers Empörung über die bürgerliche Revolution begann, als das schuldige Haupt Ludwig Capets vom Schafott rollte. Wer sich durch solche Akte allzu später Sühne die Revolution verleiden lässt, hat sie nie verstanden.

Ehrlicher aber war Schiller mit seinem Abscheu vor der bürgerlichen Revolution als die Bourgeoisie selbst, die sehr gut weiß, dass sie ihre Revolution nur mit Blut und Feuer machen kann, aber, sobald sie ihr Schäfchen im Trockenen hat, sich gerne anstellt, als sei sie nur durch verschwenderischen Gebrauch von Rosenwasser an ihr Ziel gelangt. Was hat die französische Bourgeoisie über die idyllischen Anfänge ihrer großen Revolution zusammengeschwärmt und muss sich doch von einem „verstopften Geiste", wie Taine, die Wahrheit vorhalten lassen: „Zuerst leuchten einzelne Feuer auf, die man erstickt oder die von selbst verlöschen; aber einen Augenblick darauf, am selben Orte oder nahebei, beginnt ihr Knattern oder Knistern von neuem, und ihre vielfältige Anzahl wie ihre Wiederholung zeigen die gewaltige Masse des Zündstoffes auf, der explodieren will. In den vier Monaten, die dem Sturme auf die Bastille vorhergehen, kann man mehr als dreihundert Revolten in Frankreich zählen." Ist hier nicht genau das Bild beschrieben, das wir gegenwärtig in Russland sehen? Und so mag man den reaktionären Bewunderern Väterchens gern das kurze Gelüste an dem schnellen Erlöschen der einzelnen Feuer gönnen, die doch nur den Sturm auf die Bastille ankündigen und vielleicht schon für den alten Revolutionsmonat März.


1 Karl I. (aus dem Hause der Stuarts) wurde während des zweiten Bürgerkrieges der englischen Revolution am 30. Januar 1849 hingerichtet. Ludwig Capet – gemeint ist Ludwig XVI. – wurde auf Beschluss des Konvents am 21. Januar 1793 hingerichtet.

2 Mehring spielt auf Freiligraths politische Fabel „Eispalast" an.

3 Siehe den Artikel „Ein Vorgeschmack zur Schillerfeier" (1. März 1905).

4 Mehring spielt auf die Schiller-Auffassung Kurt Eisners an. Siehe „Eine Schiller-Ausgabe" (27. Januar 1911).

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