Franz Mehring 19070508 Prätorianergesinnung

Franz Mehring: Prätorianergesinnung

8. Mai 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 177-180. Auszug in Gesammelte Schriften, Band 10, S. 307-310, vollständig in Gesammelte Schriften, Band 15]

Die bürgerlichen Parteien ergötzen sich an dem Wahngebilde einer angeblichen Bekehrung der Sozialdemokratie zu „nationalen" Anschauungen, das heißt zu „nationalen" Anschauungen im Sinne des Hottentottenblocks, der in den letzten Wahlen mit Hilfe des Reichslügenverbandes einen so trügerischen Erfolg davongetragen hat.

Tatsächlich ist dieser Wahn nichts als Wahn, doch lässt sich nicht verkennen, dass er durch einzelne Äußerungen von sozialdemokratischer Seite genährt worden ist. Wir sind nicht der Ansicht eines Parteiblatts, dass Genosse Bebel im Reichstag die treffliche Schrift des Genossen Karl Liebknecht über Militarismus und Antimilitarismus1 habe verleugnen wollen und dass es nunmehr um so dringendere Pflicht der Partei sei, sich zu dieser Schrift zu bekennen, die vielleicht formell nicht völlig ausgereift ist, was sich beiläufig aus Liebknechts sonstiger umfassender Parteitätigkeit erklärt, aber die sich durchaus im Rahmen der Parteigrundsätze hält und ein überaus reichhaltiges Material zur Bekämpfung des Militarismus liefert. Unseres Erachtens hat, wie gesagt, Genosse Bebel die Schrift Liebknechts nicht verleugnet und auch nicht verleugnen wollen; es sind nicht völlig zutreffende Parlamentsberichte, die den entgegengesetzten Schein hervorgerufen haben, der dann freilich dadurch verstärkt worden ist, dass sich bei den Militärdebatten des Reichstags keine sozialdemokratische Stimme gefunden hat, die den Versuch des Reichsanwalts, der Schrift des Genossen Liebknecht einen Hochverratsprozess anzuhängen, nach Gebühr gekennzeichnet hätte.

Anders und wirklich anfechtbar vom Standpunkt der Parteigrundsätze aus war die Jungfernrede des Genossen Noske, die als solche denn freilich einen gewissen Anspruch auf milde Beurteilung hat, zumal da sie in ihren prinzipiell anfechtbaren Sätzen so gut wie einstimmig – mit einer oder zwei Ausnahmen – von der gesamten Parteipresse zurückgewiesen worden ist. Die Freude der kapitalistischen Presse über die Entgleisungen des Genossen Noske ist also von sehr kurzer Dauer gewesen, so absurd sie sich auch gebärdete: Das „Berliner Tageblatt" verstieg sich sogar dazu, Lord Byrons bekanntes Wort über Grillparzer zu kopieren, indem es schrieb: Noske ist ein sehr unmelodischer Name, aber die Nachwelt wird ihn sich merken müssen. Genosse Noske ist dadurch viel härter gestraft worden, als sein Missgriff verdiente, den wir heute, nachdem er nahezu von der gesamten Parteipresse zurückgewiesen worden ist, als ein kleines und alles in allem verzeihliches Malheur betrachten dürfen, das dem Genossen Noske nicht weiter nachgetragen zu werden braucht.

Wahrhaft ekelhaft und widerwärtig aber war die Prätorianergesinnung, die bei dieser Gelegenheit den bürgerlichen Parteien aus allen Poren schwitzte und von ihnen als allein echter und lauterer Patriotismus ausposaunt wurde. Danach hat die Nation und ihre gesetzliche Vertretung in Sachen von Krieg und Frieden gar nicht mitzureden, sondern unweigerlich in jedes Kriegsabenteuer zu taumeln, sobald den augenblicklichen Machthabern das ebenso leichte wie wohlfeile, jedem hergelaufenen Bonaparte geläufige Kunststück gelingt, einem von ihnen angezettelten Kriege den äußeren Schein eines Verteidigungskrieges zu geben. Dieser angebliche Patriotismus ist nichts anderes als echte Prätorianergesinnung, wie sie im Verfall des römischen Kaiserreichs herrschte, als das vielleicht korrupteste Zeichen einer Korruption, wie sie ihresgleichen in der Weltgeschichte sucht.

Selbst das mittelalterliche Lehensrecht erkannte ein unumschränktes Recht des Oberherrn nicht an; der Vasall war aller seiner Pflichten ledig, wenn der Oberherr die Pflichten verletzte, die ihm gegen den Vasallen oblagen. Und im preußischen Landrecht, dem viel gepriesenen Gesetzbuch des alten Fritz, ist noch zu lesen, dass der Lehensherr, der seine Gewalt zum Nachteil des Vasallen brauche, um diesen in seiner Gesundheit, Freiheit und Ehre zu schädigen, des Obereigentums und der lehensherrlichen Rechte verlustig gehen solle. Auch Luther schrieb in seinen „Bedenken von der Gegenwehr" – im Jahre 1539, als er seine revolutionäre Periode weit hinter sich hatte und längst zum Fürstenknecht geworden war –: „Und ist kein Unterschied zwischen einem Privatmörder und dem Kaiser, so er außer seinem Amt unrecht Gewalt, und besonders öffentlich oder notorie unrecht Gewalt vornimmt; denn öffentliche violentia hebt auf alle Pflichten zwischen dem Untertan und dem Oberherrn jure naturae."2

Man sieht schon aus diesen Zeugnissen, dass, selbst gemessen an feudalmittelalterlichen Kulturbegriffen, die modische Prätorianergesinnung zusammenbricht, die den augenblicklichen Machthabern das Recht zuspricht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, also die ungeheuerste Entscheidung über die Geschicke der Nation zu fällen, der Nation aber das Recht versagen will, diese Entscheidungen zu prüfen und je nachdem zu billigen oder zu verwerfen. Mit dem Anbruch der neuen Zeit beeilte sich die große französische Revolution, der gesetzlichen Vertretung der Nation das Recht über Krieg und Frieden zu sichern, und es ist vielleicht nicht unzeitig, daran zu erinnern, dass es damals der preußische Gesandte in Paris war, der die Wortführer der Demokratie mit reichhaltigem Material versah, um zu zeigen, in wie nichtswürdiger Weise das Recht über Krieg und Frieden namentlich auch von den deutschen Despoten missbraucht worden war.

In Deutschland fasste die Frage in wahrhaft klassischer Weise Ernst Moritz Arndt in seinem Soldatenkatechismus zusammen, den er 1812 in völligem Einverständnis mit dem Freiherrn vom Stein schrieb, dem „großen Staatsmann", dessen Name heute noch kein Liberaler in den Mund nehmen kann, ohne vor Ehrfurcht zusammen zu knicken. Dabei waren weder Arndt noch Stein auch nur Liberale im heutigen Sinne des Wortes, aber sie waren allerdings aufrechte Männer, die ein Rückgrat besaßen. Was sie wollten und was ebenso Scharnhorst und Gneisenau wollten, die genialsten Feldherren, die das preußische Heer je besessen hat, war nach einem Worte des Biographen Scharnhorsts und Steins: „Kein Landsknechtswesen, kein Söldnertum, kein Militarismus, keine Überhebung des Heeres über das Volk, vielmehr der Soldat Bürger, der Bürger Soldat, und der Monarch, der an der Spitze des Heeres steht, das durch Gesetze und populäre Institutionen beschränkte Haupt der Nation, für die zu arbeiten seine Pflicht und sein Recht ist." In Arndts „Kurzem Katechismus für deutsche Soldaten" heißt es nun: Jetzt treiben die deutschen Fürsten ihre Heere in die fernsten Länder, um andere noch glückliche und freie Völker unterjochen zu helfen; darf da ein deutscher Soldat mitwirken?

Arndt beantwortete die Frage mit einem unumwundenen Nein. Er verkündete das Lob der guten Könige und Fürsten, aber er fügte hinzu: „Wenn ein Fürst anders tut, als wofür Gott ihn eingesetzt hat, so muss der Soldat und Christ Gott mehr gehorchen als den Menschen. Denn wenn ein Fürst seinen Soldaten beföhle, Gewalt zu üben gegen die Unschuld und das Recht; wenn er sie gebrauchte, das Glück und die Freiheit ihrer Mitbürger zu zerstören; wenn er durch sie seine eigenen Landsleute plündern, verheeren, bekämpfen hieße, müssten sie nimmer gehorchen, was wider das Gebot Gottes und das ebenso heilige Gebot streitet, das Gott in unser Gewissen gepflanzt hat. Denn auch ein König darf nimmer tun noch befehlen, was in aller Ewigkeit Unrecht bleibt, und spräche man es mit Engelszungen und schmückte man es mit Engelscheinen aus … Das ist die deutsche Soldatenehre, dass der brave Krieger dem Könige oder dem Fürsten, der ihm zu gebieten wagt, gegen die Freiheit und Ehre des Landes zu fechten, den Degen im Angesicht zerbreche. Das ist deutsche Soldatenehre, dass der Soldat fühlt: er war ein deutscher Mensch, ehe er von deutschen Königen und Fürsten wusste; es war ein deutsches Land, ehe Könige und Fürsten waren; dass er es tief und inniglich fühlt: das Land und das Volk sollen unsterblich und ewig sein, aber die Herren und Fürsten mit ihren Ehren und Schanden sind vergänglich … Gott wird ein strenges Gericht halten über den knechtischen und tierischen Soldaten, der nicht wissen wollte, wozu Gott dem Menschen Gewissen und Vernunft in die Brust gelegt hat."

Ausdrücklich verwarf Arndt die Meinung, dass der Soldat, wenn er zur Fahne eines Königs oder Fürsten geschworen habe, blind alles tun müsse, was ihm geboten würde; er bestritt, dass Soldatenehre ein ander Ding sei als Bürgerehre und Menschenehre: „Du bist", rief er dem Soldaten zu, „ein Mensch, und du sollst den Menschen nicht ausziehen, wenn du die Montur anziehst." In gleichem Geiste schrieb Fichte, das philosophische Orakel des Fürsten Bülow: „Das Volk ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchste Ungereimtheit, die je gesagt worden ist."

Noch aus viel späterer Zeit lassen sich bürgerliche Autoritäten genug anführen, die jene Prätorianergesinnung zurückwiesen, die heute die bürgerliche Welt und nicht zuletzt den Liberalismus beseelt. Auf die Lästerreden von dem Königtum von Gottes Gnaden antwortete sogar der lederne Dahlmann: „Mag einer noch so erfüllt von der göttlichen Einsetzung der Fürsten sein, den will ich noch sehen, der mir beweist, dass der böse Feind die Völker eingesetzt hat; wenn aber er nicht, wer denn sonst?" Und selbst Treitschke protestierte in seinen Vorlesungen dagegen, die deutschen Soldaten den kindermordenden Söldnern des Königs Herodes gleichzustellen, sie daraufhin anzusprechen, dass sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten Vater und Mutter totschlagen müssten. Ohne Gott zu lästern, dürfe man nicht behaupten, dass es eine absolute Hingebung an einen sterblichen Menschen gebe. Wie jeder menschlichen Verpflichtung, so sei auch dem Fahneneid die Schranke des Gewissens gesetzt.

Nicht nur unsertwegen führen wir diese Zeugnisse an, denn für uns sind weder Luther noch der alte Fritz, weder Arndt noch Stein, weder Dahlmann noch Treitschke maßgebende Autoritäten. Aber es ist wohl einmal an der Zeit, durch die gefeiertsten Größen der bürgerlichen Welt selbst die Prätorianergesinnung zu züchtigen, die schon eine Art Hochverrat darin erblicken will, wenn die Arbeiterklasse der Nation das Recht über Krieg und Frieden wahrt, nicht aber dieses Recht den augenblicklichen Machthabern zuerkennt, die, um Arndts Worte zu gebrauchen, mit ihren Ehren und Schanden vergänglich sind.

2 jure naturae (lat.) – das jus naturae ist die im Gegensatz zur kodifizierten natürlich gewordene Rechtsordnung.

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