„Die Jungfrau von Orleans"

Die Jungfrau von Orleans"

Der „Maria Stuart" folgte „Die Jungfrau von Orleans" auf dem Fuße. Im Juli 1800 begann Schiller diese „romantische Tragödie", und im April 1801 hatte er sie beendet.

Mitten in der Arbeit schrieb er an Körner: „Mein neues Stück wird auch durch den Stoff großes Interesse erregen, hier ist eine Hauptperson, und gegen die, was das Interesse betrifft, alle übrigen Personen, deren keine geringe Zahl ist, in keine Betrachtung kommen. Aber der Stoff ist der reinen Tragödie würdig, und wenn ich ihm durch die Behandlung so viel geben kann, als ich der Maria Stuart habe geben können, so werde ich viel Glück damit machen." Viel Glück hat Schiller allerdings mit der „Jungfrau von Orleans" gemacht; als ihre erste Aufführung im Herbst 1801 stattfand – nicht in Weimar, wo sich der Herzog widersetzte, sondern in Leipzig –, war Schiller zugegen und wurde mit rauschendem Beifall überschüttet. Doch war der große Erfolg nur der technischen Meisterschaft des Bühnendichters geschuldet; ästhetisch trat die Jungfrau noch weiter hinter „Maria Stuart" zurück als diese hinter „Wallenstein".

Das historische Mädchen von Orleans war eine naive Heldin: am Ausgange des Mittelalters aufgewachsen in einem entlegenen Grenztale, wo sich im frommen Kirchenglauben noch nicht einmal der uralt heidnische Einschlag verwischt hatte, und doch schon durch die nahe Berührung mit fremdem Wesen eine für die damalige Zeit so moderne Empfindung wie das nationale Bewusstsein zu erwachen begann. Eben die völlige Mischung der religiösen und der nationalen Empfindung machte aus Jeanne d'Arc eine historische Erscheinung von höchster Eigentümlichkeit, und ebendeshalb wurde sie zuerst gar nicht verstanden von dem höfischen Ritterpack, dem die religiöse Empfindung längst entschwunden und die nationale Empfindung noch lange nicht erwacht war. Gerade von hier aus erklärt sich aber auch die geheimnisvolle und gleichsam überirdische Macht, die das Mädchen von Orleans auf die Heeres- und Volksmassen ihrer Zeit ausübte, mochten sie in ihr nun das Werkzeug himmlischer oder höllischer Dämonen sehen.

Es ist klar, dass die dichterische Wiederbelebung einer solchen Gestalt nur einem naiven Genie möglich ist, und in der unermesslichen, poetischen und prosaischen Literatur, die sich seit Jahrhunderten über Jeanne d'Arc aufgehäuft hat, ist dies Genie noch nicht erschienen. Shakespeare schildert die Jungfrau in seinem „Heinrich VI." als eine verbuhlte Lagerdirne, und Voltaire hat sie zur Heldin eines komischen Epos gemacht, dem man jungfräuliche Sittsamkeit auch gerade nicht nachsagen kann. Nicht als ob der große Spötter dem Mädchen von Orleans gram gewesen wäre; er lobt sonst wohl die „wackere Amazone", aber er meinte: „Man mache nur aus Johanne keine Inspirierte, sondern eine beherzte Idiotin, die sich für inspiriert hielt; eine Dorfheldin, die man eine große Rolle spielen ließ; ein mutiges Mädchen, das Inquisitoren und Doktoren mit feiger Grausamkeit verbrennen ließen." Eine historische Gestalt, wie die Jungfrau, war für die bürgerliche Aufklärung in dem Maße unverständlich, wie ihr alle national-religiöse Schwärmerei fremd war. Zur bürgerlichen Aufklärung gehörte aber auch Schiller, und er hat die Heldin nicht weniger misshandelt als Voltaire, nur dass er mit dem Herzen ein Problem lösen wollte, das Voltaire mit dem Witze zu lösen versucht hatte. „Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen, Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott", so urteilte Schiller über Voltaires Epos, während er von seiner tragischen Dichtung sagte: „Mit einer Glorie hat sie dich umgeben, dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben." Aber ein Zerrbild ist seine Heldin nicht minder als die Heldin Voltaires.

Während die historische Jungfrau niemals das Schwert gegen die Feinde zog, sondern immer nur die Fahne dem Heere vorantrug, mäht Schillers Heldin ganze Reihen von Engländern nieder, und sie verliert den Glauben an ihre göttliche Mission, weil sie einen Engländer, dem sie schon das Schwert an die Kehle gesetzt hat, in einer Anwandlung von zärtlichem Gefühl laufen lässt. Wie sie sich blitzschnell in den britischen Lord verliebt, so verlieben sich die französischen Heerführer umschichtig in sie und verlangen das Dorfmädchen zu ihrem ehelichen Gemahl, obenan Graf Dunois, der Bastard von Orleans. Man braucht aber nur die urkundliche Aussage des historischen Grafen Dunois über das historische Mädchen von Orleans zu lesen, um sofort zu erkennen, was Schiller hier angerichtet hat; sie lautet: „Mir selbst und anderen ist, wann und wie oft wir mit Johanna verkehrten, nie der Gedanke oder der Wunsch gekommen, dass sie ein Weib sein möchte. Mir scheint, sie war etwas Heiliges." Die wenigen Worte geben ein klareres Bild vom Wesen der Jeanne d'Arc als Schillers Trauerspiel.

Die ganze „Romantik", die er in das Leben der naiven Heldin gedichtet hat, ist unwahr, von ihrem pathetisch-sentimentalen Monologe im Vorspiel bis zum Schlusse, wo sie zentnerschwere Ketten sprengt, um den Franzosen neuen Sieg zu erfechten. Damit verglichen, ist die wirkliche Geschichte des Mädchens von Orleans, wie sie uns in den zeitgenössischen Urkunden überliefert ist, ungleich poetischer als die Dichtung Schillers. Die Wirkung, die von dem Stück ausgegangen ist und wohl noch ausgeht, ist rein äußerlicher und theatralischer Art. Und da Schiller allen Fleiß auf die künstlerische Gestaltung der Hauptperson verwandt hat, so ist das Drama auch arm an fesselnden Charakteren. Scharf geschnittene Köpfe wie im „Wallenstein", aber auch noch in der „Maria Stuart", finden sich in der „Jungfrau" nicht mehr. Die französischen Heerführer hüben, die Dunois, La Hire, Du Chatel, die englischen Heerführer drüben, die Talbot, Lionel, Fastolf sind alle über einen Leisten geschlagen; höchstens dass Dunois und Talbot um einen Schatten erkennbarer sind.

Aber die „Jungfrau" soll einen großen Wendepunkt im Leben ihres Dichters bezeichnen, die Wendung vom Kosmopolitismus zum Patriotismus. Zum Beweise dafür wird der bekannte Vers von der Nation angeführt, die nichtswürdig sein würde, wenn sie nicht ihr alles freudig an ihre Ehre setzte. Nun war Schiller bei dem dramatischen Missgriffe, den er mit der „Jungfrau von Orleans" tat, doch nicht so von allen guten Geistern verlassen, um das nationale Element des Stoffes zu übersehen, und er gab diesem Element das ihm gebührende Recht, selbstverständlich innerhalb der historischen Schranken, die dem Stoffe gezogen waren. Man macht dem Dichter im Grunde ein schlechtes Kompliment, wenn man ihm nachrühmt, einen Ausbruch seines modernen Patriotismus mitten in das mittelalterliche Drama geschleudert zu haben, aber er ist leicht gegen den Vorwurf einer ungehörigen Tendenzmache zu verteidigen. Denn nicht der Dichter spricht jenes totgepeitschte Zitat, sondern der Bastard von Orleans, und unverstümmelt lautet es genauso, wie sich der nationale Gedanke im Hirn eines französischen Prinzen am Ausgange des Mittelalters spiegeln mochte:


Für seinen König muss das Volk sich opfern,

Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt.

Der Franke weiß es nicht und will's nicht anders.

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht

Ihr alles freudig setzt an ihre Ehre.


Vielleicht sagen resignierte Gemüter: aber in dem vollständigen Zitat ist ja erst recht die preußische Landwehr mit Gott für König und Vaterland prophezeit! Das wäre denn freilich gut ausgelegt, und es bliebe nur der Wunsch, dass die gutgesinnten Patrioten das nichtswürdige Zitat immer recht vollständig zitieren möchten, um ganz klarzustellen, dass nur ein mittelalterlicher Feudalherr für die Ehre einer Nation halten konnte, was für eine moderne Nation eine Schande sein würde, nämlich sich für ihren König zu opfern.

So auch ist es nicht Schillers Meinung, sondern eine flüchtige Laune des königlichen Schwächlings Karl, wenn es in der „Jungfrau" heißt:


Drum soll der Sänger mit dem König gehen,

Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.


Darüber hatte Schiller seine eigenen Erfahrungen mit den Herzögen von Württemberg und Weimar, Erfahrungen, die ihm unmöglich eine so optimistische Auffassung der Beziehungen zwischen König und Sänger einflößen konnten.

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