„Don Carlos"

Don Carlos"

Seitdem Schiller von Dalberg auf die Geschichte des Don Carlos als einen tragischen Stoff aufmerksam gemacht worden war, waren nicht weniger als fünf Jahre verflossen, und mindestens vier Jahre hat er urkundlich an diesem dramatischen Gedicht geschaffen.

Denn am 14. April 1783 schrieb er aus Bauerbach, „früh in der Gartenhütte", an Reinwald: „In diesem herrlichen Hauche des Morgens denk' ich an Sie, Freund, und meinen Carlos … Ich trage ihn auf meinem Busen – ich schwärme mit ihm durch die Gegend um Bauerbach herum. Wenn er einst fertig ist, so werden Sie mich und Leisewitz an Don Carlos und Julius abmessen. Nicht nach der Größe des Pinsels, sondern nach dem Feuer der Farben; nicht nach der Stärke auf dem Instrument, sondern nach dem Ton, in welchem wir spielen. Carlos hat, wenn ich mich des Maßes bedienen darf, von Shakespeares Hamlet die Seele, Blut und Nerven von Leisewitz' Julius und den Puls von mir. Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition die prostituierte Menschheit zu rächen und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will – und sollte mein Carlos dadurch auch für das Theater verlorengehen – einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, auf die Seele stoßen. Ich will – Gott bewahre, dass Sie mich nicht auslachen." Es war derselbe Brief, worin Schiller erläuterte, dass alle Geburten unserer Phantasie zuletzt wir selber wären.

Aus Reinwalds Nachlass hat sich auch der erste Entwurf der Tragödie erhalten, ein noch sehr farbloses und karges Schema, immer aber doch ausreichend, um zu erkennen, dass es sich nur um ein Familiengemälde aus einem fürstlichen Hause handeln sollte. Aus einer phantastischen Erzählung, die von einem französischen Geistlichen schon hundert Jahre früher veröffentlicht worden war, hatte Schiller seinen Stoff genommen und ihn zwar für seine dramatischen Zwecke mannigfach umgestaltet, aber doch an dem eigentlichen Kerne der Fabel festgehalten, der – ganz unhistorischen – Liebe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn. Umgarnt von höfischen Intrigen, fallen die Liebenden dem Argwohn des Königs zum Opfer. „Das Zeugnis der Sterbenden und das Verbrechen seiner Ankläger rechtfertigt den Prinzen zu spät. Schmerz des betrogenen Königs und Rache über die Urheber." So weist der ursprüngliche Entwurf des Dramas eine große Ähnlichkeit mit „Kabale und Liebe" auf; auch sollte er damals wie Schillers andere Jugenddramen in Prosa ausgeführt werden.

In Mannheim jedoch entschloss sich Schiller nach dem Vorbilde Lessings für den fünffüßigen Jambus. Es ist wahrscheinlich, dass Dalbergs Einfluss dabei mitgespielt hat; er bemühte sich in jener Zeit, in seiner Abneigung gegen den Sturm- und Drangstil, den Dichter auf das französische Muster hinzuleiten, und in der Tat begann Schiller die französischen Dramatiker zu studieren, nicht nur, wie er an Dalberg schrieb, um seine dramatischen Kenntnisse zu erweitern und seine Phantasie zu bereichern, sondern auch um dadurch zwischen zwei Extremen, englischem und französischem Geschmack, in ein heilsames Gleichgewicht zu kommen. Dies Studium hat namentlich auf die Komposition des „Carlos" eingewirkt. Dann aber floss auch viel Erlebtes in den Stoff ein. Die heftige Spannung, in die der Dichter damals mit seinem Vater geriet, hat auf die Szenen zwischen dem Infanten und dem Könige frisch abgefärbt, und die Königin Elisabeth, die lebendigste Frauengestalt, die Schiller bis dahin geschaffen hatte, trug die verschönten Züge Charlottens v. Kalb. Vor allem aber hob sich die Gestalt des Königs Philipp, und in der Einleitung zu dem ersten Aufzuge des Dramas, den Schiller in der „Thalia" veröffentlichte, sagt er: „Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muss es, wie mich däucht, durch die Situation und den Charakter König Philipps geschehen. Auf der Wendung, die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze Gewicht der Tragödie … Man erwartet – ich weiß nicht welches? Ungeheuer, sobald von Philipp dem Zweiten die Rede ist – mein Stück fällt zusammen, sobald man ein solches darin findet." Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, dass die Leipziger Freunde gerade auf diesen künstlerischen Fortschritt hofften, noch ehe das erste Heft der „Thalia" erschienen war; Huber schrieb in seinem ersten Briefe an Schiller, sie erwarteten von ihm einen neuen Tyrannen, nicht die gewöhnlichen Theatertyrannen, die vom Dichter durch allerlei in den Mund bedrängter Prinzen oder leidender Prinzessinnen gelegte Ehrentitel und vom Schauspieler durch die ellenlangen Schritte und die brüllende Bassstimme gekennzeichnet würden.

So mag der Verkehr mit diesen Freunden dazu beigetragen haben, dass sich die Gestalt des Königs bei der weiteren Arbeit des Dichters an dem Drama noch mehr verfeinert hat. Dagegen ist nicht mehr nachzuweisen, was den Dichter veranlasst hat, nachdem er den zweiten Aufzug langsam im Laufe eines Jahres vollendet hatte, nun plötzlich seinen ganzen Plan umzuwerfen und den Marquis Posa, der bis dahin nur in einer Nebenrolle, als Vertrauter des Infanten, aufgetreten war, zum eigentlichen Helden zu machen. Schiller selbst hat sich darüber nur mit dem allgemeinen Worte erklärt, Carlos sei in seiner Gunst gefallen, vielleicht aus keinem Grunde, als weil er dem Infanten in Jahren zu weit vorausgesprungen sei, und aus der entgegengesetzten Ursache habe der Marquis Posa den Platz des Helden eingenommen.

Über die Auslegung dieser Sätze durch die bürgerliche Gelehrsamkeit, wonach sich Schiller vom Räuber Moor bis zum Marquis Posa aus einem wüsten Revoluzzer zu einem staatsmännischen Liberalen abgeklärt habe, braucht kein Wort verloren zu werden. Eher leitet eine Bemerkung Schillers in seinen Briefen über den „Carlos" auf die richtige Spur: er sagt hier, er sei weder Illuminat noch Freimaurer, aber wenn beide Verbrüderungen einen moralischen Zweck miteinander gemein hätten und dieser Zweck der wichtigste für die menschliche Gesellschaft sei, so müsse er dem Zweck des Marquis Posa mindestens sehr nahe verwandt sein. Hält man daneben, dass Schiller im „Geisterseher", an dem er gleichzeitig wie am „Carlos" arbeitete, den umgekehrten Prozess schildert, wie sich der Jesuitismus eines Fürsten für seine Zwecke bemächtigen will, so liegt es nahe, anzunehmen, dass Schiller sich in seiner Dresdner Zeit eingehender mit diesen Dingen beschäftigt hat, und das ist um so wahrscheinlicher, als sie in dem Briefwechsel Schillers mit Körner einen mannigfachen Widerhall fanden, nachdem Schiller aus Dresden geschieden war. Er berichtete über seinen Verkehr mit Bode, der eine maßgebende Rolle im Freimaurerorden spielte, und auch über Weishaupt schrieb er einmal ausführlich, den Stifter des Illuminatenordens, der ganz in seiner Nähe als Legationsrat am Coburger Hofe lebte. Körner selbst kann in dieser Richtung freilich nicht auf Schiller eingewirkt haben; in einer Kritik des „Heimlichen Gerichts", eines dramatischen Versuchs, den Huber in der „Thalia" veröffentlichte, bemerkte er trocken, dass „die ganze Ordensidee auf einer Sophisterei des Geistes und des Herzens" beruhe.

So war es in der Tat: der Freimaurer- wie der Illuminatenorden waren ohnmächtige Anläufe seichter Aufklärung gegen die in ihrer Art großartige Organisation des Jesuitenordens. Weishaupt, ursprünglich ein katholischer Priester, dachte etwa so klar wie heutzutage ein altkatholischer Professor. Der von ihm gestiftete Orden sollte namentlich Fürsten und Minister für diese Ziele zu gewinnen suchen: Herrschaft der Vernunft, politische und religiöse Aufklärung und Verbreitung republikanischer Denkweise. Er hat auch mehrere deutsche Fürsten gewonnen, so den Herzog von Braunschweig, der als Seelenverkäufer beinahe noch den Herzog von Württemberg übertrumpfte und sich dann allerdings um die französische Republik verdient gemacht hat, indem er sich bei Valmy von ihren Truppen ins Bockshorn jagen ließ. Der Freimaurerorden hatte an seinem Teil eine gewisse Tradition hinter sich, aber deshalb war er dem wirklichen Leben der Zeit nicht weniger entfremdet. Als Bode im Herbst 1787 von einer Reise nach Paris zurückkehrte, erfuhr Schiller von ihm, dass die französische Nation alle Energie verloren habe und sich mit schnellen Schritten ihrem Verfall nähere. Die Einführung der Notabeln wäre nur ein Kniff der Regierung; sie hätte ihn fünf Jahre zu früh gebraucht und noch etwas unerwarteten Gegendruck gefunden; fünf Jahre später hätte sie diesen nicht mehr riskiert. Das Parlament wolle nichts bedeuten; es mache Schulexerzitien wie die Schulknaben in den Gymnasien und so weiter.

Marquis Posa tritt nun zwar als Ritter des Malteserordens auf, handelt und spricht aber wie ein Ritter des Illuminatenordens. „Alle Grundsätze und Lieblingsgefühle des Marquis drehen sich um republikanische Tugend", erläutert Schiller selbst, und dabei sehen wir nur, wie Posa seine Hand auf den Hebel der despotischen Gewalt legen will, sei es nun im Infanten oder im Könige. Als Abgesandter der niederländischen Rebellion weiß er von dieser nichts zu melden, sondern ergeht sich in den allgemeinsten Schlagworten der Aufklärung, mit denen er das tiefgewurzelte Regierungssystem eines Weltreichs zu erschüttern hofft. In seinen Mitteln so wenig wählerisch wie ein Jesuit, ist er um so ungeschickter in dem Gebrauch dieser Mittel, und der Dichter selbst kann die Verwirrung, die sein Held angestiftet hat, in den „Briefen über Don Carlos" nur mit Argumenten beschönigen, wie etwa: „Er hat den richtigen Gebrauch seiner Urteilskraft verloren – er ist nicht mehr Meister seiner Gedankenreihe – endlich will ich ja den Marquis von Schwärmerei durchaus nicht freigesprochen haben." Freilich blendet der Ritter durch den glänzenden Mantel der Rhetorik, den ihm Schiller um die Schultern gehängt hat, aber den Versuch des Dichters, den Charakter Posas zu retten, hat Körner schon mit den trocknen Worten erledigt: „Du gibst dein Kunstwerk preis und willst nur deine Ideale retten, in die du verliebt bist."

Als Typ des damaligen Freimaurer- und Illuminatenwesens ist Posa vortrefflich herausgekommen, aber als Held des Dichters, der sieben Jahre früher die „Räuber" geschrieben hatte, macht er eine desto miserablere Figur. Doch ist dies Interesse für eine überaus leere Aufklärung nur eine vorübergehende Phase der inneren Revolution gewesen, die sich in Schiller vollzog, als er den „Carlos" schuf, und wie er sich nun in ein Jahrzehnt historischer und philosophischer Studien stürzte, ehe er wieder die tragische Bühne beschritt, so ist er auch schon allzu hart dadurch gestraft worden, dass ihm sein „sonderbarer Schwärmer" sein schönes Gedicht zerrüttet hat.

Vornehmlich durch die feinere, aber deshalb nicht weniger scharfe Charakterzeichnung bekundete „Don Carlos" einen bedeutenden Fortschritt über die früheren Dramen Schillers. Das gilt nicht nur vom König und der Königin und dem Infanten, sondern auch von mancher Nebenrolle, wie der Prinzessin Eboli, die ungleich wahrer herauskommt als ihre Vorläuferinnen, die Lady Milford und Julia Imperiali im „Fiesco", oder dem Großinquisitor, dessen grandios-unheimliche Gestalt die Schrecken der Inquisition greifbarer verkörpert, als sie der Dichter, nach seiner jugendlichen Absicht, in den gewaltigsten Worten hätte darstellen können. Aber wenn nicht alle, so doch die Hauptcharaktere werden durch die Art, wie Posa jäh zum Haupthelden emporgeschnellt wird, erschüttert und verschoben, und ebenso sehr leidet darunter die dramatische Handlung. Im dritten und vierten Akte, wo Posa die Führung hat, rindet sich selbst der Leser, geschweige denn der Hörer nur mit Mühe zurecht, und dafür entschädigt nicht entfernt die Szene zwischen dem Könige und dem Ritter, die sich ohnehin nicht mit ihrem Vorbilde messen kann, der Szene zwischen Nathan und dem Sultan Saladin. Erst im fünften Akte, wo, wie in den beiden ersten Akten, der tragische Konflikt sich zwischen Vater und Sohn abspielt, gemäß den ursprünglichen Absichten des Dichters, erhebt sich das Drama wieder auf die ergreifende Höhe seiner Anfänge.

Die Bühnenwirkung des „Carlos" war nicht groß, dafür wurde das Gedicht ein Liebling der deutschen Lesewelt, dank freilich mehr seinen Schwächen als seinen Vorzügen.

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