„Kabale und Liebe"

Kabale und Liebe"

Dem „republikanischen" folgte das „bürgerliche Trauerspiel", das anfangs „Luise Millerin" hieß und dann auf Ifflands Rat in „Kabale und Liebe" umgetauft wurde. Im Stuttgarter Arreste empfangen, auf den schweren Wandertagen der Flucht nach seinen Grundzügen festgelegt, in Bauerbach vollendet, ist es mehr noch als die „Räuber" und mehr auch als jedes spätere Drama Schillers aus seinem eigensten schöpferischen Drange entstanden. Es ist das einzige unter seinen Dramen, zu dem Schiller sich den Stoff nicht erst gesucht hat, um seine dichterische Wucht hineinzulegen; ihn selbst überwältigend, ist es ihm aus seinem Leben und Leiden erwachsen.

Nicht zwar, als ob es nicht seine literarische Ahnen gehabt hätte. Auf Schritt und Tritt begegnet man Erinnerungen an Lessings „Emilia", mitunter selbst wörtlichen Entlehnungen, und der jüngere Dichter übertrifft nicht immer den älteren; Lady Milford ist ein ungleich schwächeres Abbild der Gräfin Orsina und der Sekretär Wurm nur eine vergröberte Ausgabe des Kammerherrn Marinelli. Auch kleinere Vertreter des bürgerlichen Dramas, das seit Lessings „Sara Sampson" nun doch schon in Deutschland ein Menschenalter hinter sich hatte, wie Heinrich Leopold Wagner, haben nach dem eingehenden Nachweise literarhistorischer Forscher viel zu „Kabale und Liebe" beigesteuert. Ja schon zu Schillers Zeit meinte ein ihm feindlicher Kritiker nicht ohne einen gewissen Anlass, dass die Gestalten des Dramas „die nur ins Übertriebene und Schreckliche gemalten Personen des deutschen Hausvaters" seien, das heißt einer schwächlichen Nachahmung von Diderots „Hausvater", die, von einem gewissen Gemmingen verfasst, längst verschollen ist.

Alle diese literarischen Anregungen waren aber von Schiller erlebt, und wenn sie ihm nun unbewusst in sein Drama hineinströmten, so allein aus dem Grunde, weil er sich achtlos über sie emporschwang. Auch über die „Emilia" schritt er fort mit dem einfachen Bekenntnis: Guastalla liegt in Deutschland. Schiller hob das bürgerliche Drama auf eine revolutionäre Höhe, die es vordem nicht und auch nachher nicht erreicht hat, weder in Lessings „Emilia" noch in Hebbels „Maria Magdalena". Er stellte den höfischen Despotismus und das Kleinbürgertum, die damaligen treibenden Kräfte des deutschen Lebens, in offenem Kampfe gegenüber und brachte frisch aus der Zeitung den Soldatenhandel der deutschen Fürsten auf die Bühne. Es war kein großes nationales Leben, aber es war nationales Leben, es war historische Bewegung, nicht jene atemraubende, herzbedrückende Enge, nicht jene, wie Hebbel selbst es nennt, „schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit", die in Meister Antons vier Pfählen brütet. Sechzig Jahre älter, schlägt „Kabale und Liebe" heute noch wie ein Blitz in ein empfängliches und naives Publikum, dem „Maria Magdalena" neben aller tiefen Wirkung ein Gefühl des Befremdens erregt, wie ein Blick in eine völlig erloschene Welt. Man rede über Tendenz, so viel man will, man zähle alle künstlerischen Vorzüge auf, die „Maria Magdalena" vor „Kabale und Liebe" haben mag: es bleibt doch dabei, dass die dramatische Kunst den historischen Prozess, der sich in ihren Tagen vollzieht, ergreifen soll und dass sie um so länger dauert, je tiefer sie ihn zu ergreifen weiß.

Nirgends in Deutschland standen sich Despotismus und Kleinbürgertum so klar gegenüber wie in Württemberg. Der Herzog und sein feiles Hofgesindel drüben, die Landschaft und ihr zünftlerisch verzopfter Klüngel hüben – unter diesem Gegensatze war das Leben des Dichters verronnen, düster und schwer und trübe, und nun ruft er ihn auf die richtende Szene. Dieser Präsident v. Walter, dieser Hofmarschall v. Kalb, diese Lady Milford, dieser Sekretär Wurm – sie waren ihm schon seit den Tagen seiner Kindheit vertraut; er hatte sie in Ludwigsburg und auf der Karlsschule und in Stuttgart gesehen. Die „falschen Handschriften" des Sekretärs Wurm, die „große Mine", durch die der Präsident Walter seinen Vorgänger in die Luft bläst – kannte er sie nicht aus dem Leben seines Paten Rieger? Und war sein eigener Vater nicht dabei, als „lauter Freiwillige" an fremde Potentaten verhandelt wurden: „Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch' vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf den Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen." Und hatte er es nicht mit angesehen, auf der Solitüde und bis in die Nacht seiner Flucht hinein: „Der Fürst ruft Paradiese aus Wildnissen – lässt die Quellen seines Landes in stolzen Bogen gen Himmel springen oder das Mark seiner Untertanen in einem Feuerwerk hin puffen." Und war sie nicht landkundig, die furchtbare Schilderung: „Die Wollust der Großen dieser Welt ist die nimmersatte Hyäne, die sich mit Heißhunger Opfer sucht. Fürchterlich hatte sie schon in diesem Lande gewütet – hatte Braut und Bräutigam getrennt – hatte selbst der Ehen göttliches Band zerrissen – hier das stille Glück einer Familie geschleift – dort ein junges, unerfahrenes Herz der verheerenden Pest aufgeschlossen, und sterbende Schülerinnen schäumten den Namen ihres Lehrers unter Flüchen und Zuckungen aus… Die traurige Periode hatte einer noch traurigeren Platz gemacht. Hof und Serail wimmelten jetzt von Italiens Auswurf. Flatterhafte Pariserinnen tändelten mit dem furchtbaren Szepter, und das Volk blutete unter ihren Launen." Es ist einfach nicht wahr, was untertänige Kritik oft behauptet hat, dass Schiller den höfischen Despotismus in „Kabale und Liebe" karikiert habe; er hat die brutale Wahrheit nicht brutal abgeschrieben, aber was er dramatisch widerspiegelt, ist einmal grauenhafte Wahrheit gewesen.

Nicht anders steht es um den Vorwurf, dass Schiller der Verworfenheit der Großen die edelmütige Tugend der Kleinen gegenübergestellt habe. Der Stadtmusikant Miller und seine Frau sind trefflich geschaute, aber ebendeshalb nichts weniger als rosig gefärbte Gestalten. Von der Frau ganz zu geschweigen, die, ehrbar in ihrer Weise, aber, dumm und ungebildet zugleich, doch nicht dem heimlichen Gelüste widerstehen kann, ihr bürgerliches Fleisch mit blauem Blute zu verkuppeln, und die sich in feiger Angst wie ein Bleigewicht an den Mann hängt, wenn einmal ein wenig Tatkraft in ihm erwachen will – aber auch Miller selbst, Prachtkerl, wie er in seiner Art ist, auf den Helden kann er sich nicht hinaus spielen. Dem „Tintenkleckser" von Sekretär will er wohl Leib und Seele breiweich zusammendreschen, ihm alle zehn Gebote und alle sieben Bitten im Vaterunser und alle Bücher Mosis und der Propheten aufs Leder schreiben, dass man die blauen Flecken bei der Auferstehung der Toten noch sehen soll, aber vor dem drohenden Zorne des Präsidenten weiß er im selben Atemzuge doch nur den Rat: „Ich nehme meine Tochter in Arm und marsch mit ihr über die Grenze!" Und als der gefürchtete Mann ihm gewaltsam ins Haus dringt und seine Tochter eine Hure schilt, da bringt er es nur mit Zittern und Zagen heraus: „Halten zu Gnaden! Ew. Exzellenz schalten und walten im Land. Das ist meine Stube. Mein devotestes Kompliment, wenn ich dermaleins ein Promemoria bringe, aber den ungehobelten Gast werf ich zur Tür hinaus." Er liebt seine Tochter abgöttisch, und mit tief ergreifenden Worten hält er sie vom Selbstmorde zurück, allein, über ihr zerstörtes Liebesglück tröstet ihn doch ein Beutel voll Gold, den ihm der adlige Liebhaber zuwirft. Nach der Überlieferung hat Schiller diese Gestalt einem Stuttgarter Original abgesehen; auf jeden Fall kann man an ihr das Wesen jenes Kleinbürgertums studieren, das ein gewisses Selbstbewusstsein noch oder schon hatte, das nicht mehr zum bloßen Spielball adliger oder fürstlicher Lüste dienen wollte und so etwas wie ehrlichen Proletarierzorn zu empfinden begann, aber wie weit! entfernt war von der einen rettenden Politik: den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust!

Verbunden werden die beiden Gruppen durch das Liebespaar, den Sohn des Präsidenten und die Tochter des Geigers. Ferdinand ist eine Schöpfung der dichterischen Phantasie, die immerhin vom Blute des Dichters tropft, der zur Zeit, wo er sie entwarf, zum ersten Mal die Wonnen der Liebe und die Qualen der Eifersucht empfand. So ist ihm denn auch zum ersten Mal in der Musikantentochter eine weibliche Gestalt gelungen, und auf ihren Namen taufte er mit gutem Fug das Drama. Denn sie ist die tragische Heldin; sie geht unter in dem Konflikte der Pflichten, die sie gegen ihren Vater und gegen ihren Geliebten hat; sie nennt sich selbst die „Heldin", die „einem Vater den entflohenen Sohn wiederschenkt und einem Bündnis entsagt, das die Fugen der Bürgerwelt auseinandertreiben und die allgemeine ewige Ordnung zugrunde stürzen würde". Es ist derselbe schwächliche Zug, der in anderer Weise auch die Emilia Lessings und die Klara Hebbels kennzeichnet und, ästhetisch viel angefochten, doch tief in den sozialen Bedingungen wurzelt, unter denen ein bürgerliches Drama auf deutschem Boden überhaupt nur werden konnte.

In der Komposition ähnelt „Kabale und Liebe" mannigfach den „Räubern", namentlich in dem hinreißend schnellen Aufstieg, der in der mächtigen Ensembleszene am Schlusse des zweiten Aufzugs gipfelt. Mit der Intrige hat es sich der Dichter auch in „Kabale und Liebe" ein wenig bequem gemacht; sie ist keineswegs „satanisch fein", wie der Präsident von ihr rühmt, worüber man sich um so weniger wegtäuschen kann, als der Sekretär Wurm nicht den Kopf eines Franz Moor auf den Schultern trägt. In der Mitte beider Stücke erlahmt die Handlung, verglichen wenigstens mit der drängenden Fülle des Anfanges; nur dass die gefährlichste Sandbank in „Kabale und Liebe" erst am Schlüsse des vierten Aktes auftaucht, wo sie in den „Räubern" längst überwunden ist.

Die Schuld daran trägt eine Änderung des Planes, die dem Dichter in währender Arbeit entstanden ist und auch einen Hauptcharakter des Stückes, die Lady Milford, schwer geschädigt hat. Ihr Urbild ist die Gräfin Hohenheim, und nach der ursprünglichen Anlage des Dramas sollte sie, wie sich aus einem zufällig erhaltenen Blatte der ersten Handschrift und manchen nicht getilgten Spuren des Dialogs erkennen lässt, zur Gruppe des höfischen Gesindels gehören. Dann aber hat Schiller sie ins Lichte zu malen begonnen, vielleicht unter der bewussten oder unbewussten Suggestion der Frau v. Wolzogen, die mit der Hohenheim bekannt war und bei der Rachsucht, die diese Person in dem Falle Schubarts bewiesen hatte, für das Schicksal ihrer Söhne fürchten mochte. Eben jene Sätze, worin die Lady Milford sich rühmt, zwischen das Lamm und den Tiger getreten zu sein, mit der Opferung ihrer Ehre die Landestöchter vor der Wollust des Fürsten geschützt und dann auch die ausländischen Buhldirnen vertrieben zu haben, wurden von den Freunden der Hohenheim zu ihren Gunsten geltend gemacht, und sie sind vom Dichter erst in der späteren Fassung eingeschoben worden. Sei dem aber so oder anders – je höher der Dichter die Mätresse moralisch hob, desto tiefer drückte er sie ästhetisch herab und machte sie selbst zu einer für die dramatische Handlung ganz überflüssigen Person. Das ist namentlich in der großen Szene zwischen Luise und der Lady Milford am Schlüsse des vierten Aufzuges empfindlich zu spüren.

Über den fünften Akt gehen dann, wie in den „Räubern", alle Schauer des Jüngsten Gerichts und zeigen den Dichter noch ganz im Banne der biblischen Vorstellungen. Der leidige Schluss, der Ausblick auf die irdische Gerechtigkeit, ist mit der tragischen Handlung wenigstens nicht so eng verwachsen wie in Schillers Erstling.

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