„Wallenstein"

Wallenstein"

Der Hauptfehler war, ich hatte mich zu lange mit dem Stücke getragen; ein dramatisches Werk aber kann und soll nur die Blüte eines einzigen Sommers sein." So hatte Schiller in den „Briefen über Don Carlos" geschrieben, aber wenn er an diesem Drama drei oder vier Jahre gearbeitet hatte, so am „Wallenstein" sechs bis sieben Jahre. Etwa seit dem Jahre 1790 hatte er sich mit dem Stoffe beschäftigt, und im Winter 1798 auf 1799 vollendete er das große Werk. So lange hatte er seine Waffen geprüft und gewogen, hatte er gewaltige Vorarbeiten und Zurüstungen gemacht, in dem Bewusstsein, dass dieser Wurf über seinen dramatischen Beruf entscheiden werde.

Er selbst sprach aus, dass er eine neue Bahn betrete, in dem Prologe, mit dem er im Oktober 1798 die Einweihung der erneuerten Schaubühne in Weimar durch „Wallensteins Lager" einleitete:


Die neue Ära, die der Kunst Thaliens

Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch

Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend,

Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis

Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen,

Nicht unwert des erhabenen Moments

Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen.

Denn nur der große Gegenstand vermag

Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen,

Im engen Kreis verengert sich der Sinn,

Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.

Und jetzt an des Jahrhunderts ernster Wende,

Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird,

Wo wir den Kampf gewaltiger Naturen

Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn,

Und um der Menschheit große Gegenstände,

Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen,

Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne

Auch höhern Flug versuchen, ja, sie muss,

Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.


Das war so etwas wie ein dramatisches Programm. Man darf zwar billig daran zweifeln, ob „Wallenstein" wirklich auf einem „höhern Schauplatz" spielt als „Kabale und Liebe"; eine bürgerliche Dramatik, die sich wurzelecht entwickelt und verzweigt hätte, wäre leicht aller historischen Dramatik überlegen gewesen. Aber eine Schwalbe konnte keinen Sommer machen, und selbst ein Friedrich Schiller vermochte nicht die Bedingungen zu schaffen, unter denen das bürgerliche Drama in Deutschland sich auf klassische Höhe hätte schwingen können. So wie sich dies Drama am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ausnahm, watend in dem Sumpfe der Iffland und Kotzebue, spielte es sich allerdings auf dem denkbar niedrigsten Schauplatz ab, und wie sich eine Erneuerung des deutschen Lebens nur dadurch vollzog, dass europäische Kriege über seine Grenzen hereinbrachen, so mag man etwas wie dichterischen Seherblick darin sehen, dass Schiller große historische Kämpfe auf die Bretter brachte, die nach seinem eigenen Worte die Welt bedeuteten.

Nur darf man sich nicht, wie es allzu oft geschehen ist, zu der Behauptung versteigen, den Friedländer habe Napoleon aus der Taufe gehoben und in den Männern vom Rütli habe die preußische Landwehr mit Gott für König und Vaterland ihre Schatten vorausgeworfen. Als Schiller den „Wallenstein" vollendete, war Bonaparte nur einer unter den Generalen der französischen Republik und zudem auf der Expedition in Ägypten verschollen. Sieht man aber auch von diesem äußeren Umstände ganz ab, so hatte Schiller sich nicht mit zähester Mühe zehn Jahre durch historische und philosophische Studien gearbeitet, um am flachen Ufer einer patriotischen Gesinnungstüchtigkeit zu stranden, auch wenn sie zu seiner Zeit überhaupt schon ein Begriff gewesen wäre. In der verschlungenen Verkettung allgemeiner und persönlicher Geschicke hatte er sich seiner revolutionären Jugenddramatik entfremdet, und um so viel er sich ihr entfremdet hatte, um so viel hatte seine Mannesdramatik an genialer Ursprünglichkeit verloren. Aber in demselben Maße hatte Schiller auch an durchgebildetem Kunstverstande gewonnen, und nichts lag ihm ferner, als die Wirkung seiner dramatischen Kunst durch die Gestaltung von „Nationalgegenständen" zu steigern.

Die Frage, um die es sich hier handelt, wird am hellsten durch einen Vergleich zwischen Schiller und Hebbel beleuchtet. Hebbel stand in einem tief empfundenen Gegensatze zu Schiller; er hat oft hart über ihn geurteilt, aber da er als ein Ebenbürtiger aus dem innersten Zwange seiner Künstlernatur mit ihm stritt, so haben seine Urteile doch immer Hand und Fuß; ja auch wo sie sehr einseitig werden, erleuchten sie gerade in dieser Einseitigkeit die tiefsten Probleme der Kunst. Hebbel wusste sehr gut, wo er reicher war als Schiller; er tadelte an dessen Kunst, dass sie das Adern- und Nervengeflecht der dramatischen Gestalten in ihren Hauptstämmen, jedoch nicht bis zum Haargewebe bloßzulegen wisse. Aber nicht ebenso gut wusste Hebbel, worin er ärmer war als Schiller. Die Entwicklung der beiden Dichter hat manche Ähnlichkeit; auch der Dichter der „Nibelungen" hat nicht völlig gehalten, was der Dichter der „Maria Magdalena" versprochen hatte, und es sind ähnliche Gründe, durch die beide in ihren reifen Jahren dem historischen Drama zugewandt wurden. Allein vergleicht man, was sie auf diesem Gebiete geschaffen haben, so sieht man sofort, wie gern Hebbel im Dämmer-, Schiller aber im Sonnenlichte der Geschichte weilt. Über die historischen Dramen Hebbels wölbt sich ein klarer und reicher Sternenhimmel; sie haben nichts von der freudigen Helle, die über die historischen Dramen Schillers strömt. Einmal begegnen sich beide Dichter, in je ihrem letzten Drama, im „Demetrius", den Hebbel fast vollendet, Schiller nur bis in den Anfang des zweiten Aufzugs geführt hat, aber während Schiller nicht ohne langes Bedenken an die „abenteuerliche Expedition", an das „tolle Sujet" heranging, war die Geschichte des falschen Demetrius der modernste Stoff, den Hebbel aus historischen Quellen geschöpft hat. Gewiss wäre er kein so großer Dramatiker, wie er tatsächlich gewesen ist; ja er wäre überhaupt kein großer Dramatiker, wenn er seinen historischen Dramen nicht eine eigentümliche historische Stimmung gegeben hätte. Jedoch auf den Höhen der geschichtlichen Entwicklung findet sich Hebbel nicht zurecht; er versteht nicht, was Schiller meisterhaft versteht, dem noch gestaltlos ringenden Leben der Zeit im historischen Stoff einen weittönenden Resonanzboden zu geben, seine historischen Helden in all ihrer historischen Eigentümlichheit aus den Herzen der Zeitgenossen emporwachsen zu lassen.

Nirgends bewährt Schiller diese Kunst so glänzend wie im „Wallenstein", und nirgends lässt sich auch so schlagend nachweisen, dass er dabei nicht in einer künstlerisch anfechtbaren Tendenz, sondern unbewusst als Dichter schuf. Wallenstein als historischer Charakter war ihm im höchsten Grade unsympathisch, wie er schon in seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" gezeigt hatte. Schiller fand den Stoff undankbar und unpoetisch; er schrieb an Goethe, er habe nie eine solche Kälte für seinen Stoff mit einer solchen Wärme für seine Arbeit vereinigt. Ihn leitete ein rein ästhetisches Interesse, wobei er dann freilich auch nach der anderen Seite hin am eigenen Leibe erfuhr, wie wenig der Dichter in seinem Gestalten und Schaffen durch allgemeine Begriffe einer noch so trefflichen Ästhetik gefördert wird; „in dieser Stimmung" war er „unphilosophisch genug, alles, was er selbst und andere von der Ästhetik wussten, für einen einzigen erfahrungsmäßigen Vorteil, für einen Kunstgriff des Handwerks herzugeben". Mit Anspannung seiner ganzen Kraft suchte Schiller das subjektive Empfinden auszuschalten, das er ehedem in seine dramatischen Gestalten gelegt hatte; ganz und gar verleugnete er das ästhetische Bekenntnis seiner Jugend, wonach alle Geburten der dichterischen Phantasie nur der Dichter selbst seien. Er setzte eine gewaltige Energie daran, das objektive Kunstschaffen Goethes zu erreichen, so klar er sich darüber war, dass er es niemals ganz erreichen könne. Aber so nahe kam er seinem Ziel, dass bekanntlich Goethe für den Verfasser oder Mitverfasser namentlich von „Wallensteins Lager" gehalten wurde, wodurch Goethe selbst veranlasst wurde, zu erklären, er habe nur zwei einzelne Verszeilen hinein korrigiert. Und es war auch wohl im Hinblick auf den „Wallenstein", als Goethe sagte, dass er sich erlaube, Schiller für einen Dichter und sogar für einen großen Dichter zu halten, obgleich die romantischen Imperatoren und Diktatoren behaupteten, er sei keiner.

So sehr Schillers „Wallenstein" unter dem Rat und dem Vorbilde Goethes entstanden ist, so ist er – und Schillers historisches Drama überhaupt – doch eine durchaus eigentümliche und selbständige Erscheinung der dichterischen Kunst. Schillers Drama ist nicht das Drama Shakespeares oder das Drama Goethes oder das Drama Hebbels, aber daraus folgt keineswegs, dass es überhaupt kein Drama von künstlerischem Werte sei. Alle Ästhetik hat nur eine bedingte Geltung, da auch sie dem historischen Wandel unterliegt, und im Grunde schafft sich jedes schöpferische Kunstwerk seine eigene Ästhetik. So verkehrt es ist, die Shakespeare, Goethe und Hebbel mit dem Maßstabe Schillers zu messen, so verkehrt ist es auch, Schiller auf der Waage der Shakespeare oder Goethe oder Hebbel zu leicht zu befinden. Dies meinte Goethe, wenn er sagte, Schillers „Wallenstein" sei so groß, dass ihm nichts an die Seite gesetzt werden könne. Das wäre übertrieben, wenn damit gesagt sein sollte, „Wallenstein" sei die überragende Krone der dramatischen Weltliteratur, aber es ist vollkommen richtig in dem Sinne, dass jede echte und ursprüngliche Schöpfung der Kunst an sich unvergleichlich sei.

Es ist doch der Dichter der „Räuber", der den „Wallenstein" geschaffen hat, und der Dichter des „Wallenstein" hat sich von Goethe nur angeeignet, was der Dichter der „Räuber" vertragen konnte. So schrieb auch Schiller an Goethe, sein „Wallenstein" solle das ganze System desjenigen, was bei ihren commercio in seine Natur übergehen könne, in concreto zeigen und enthalten. Die Grenzen dieses Verschmelzungsprozesses zeigen sich deutlich, wenn Schiller gestand, wohl werde ihm erst, wenn er vom Wallenstein zum Max Piccolomini komme, aber den Rat Körners, diesen jungen Helden noch mehr in den Mittelpunkt des Dramas zu rücken, zur Verwunderung des alten Freundes mit der rauen Bemerkung zurückwies, er habe entgegengesetzte Ansichten über tragische Poesie, die er nicht wohl aufgeben könne. Körner berührte gerade den Punkt, wo die eigene Neigung des Dichters mit der Pflicht stritt, die ihm eine reifere Empfindung für künstlerisches Wirken auferlegte, und wenn die Episode Max-Thekla oft als der wunde Punkt des Dramas bezeichnet worden ist, so ist sie es nur dadurch, dass sie in sich aufzehrte, was sonst, so wie der Dichter nun einmal war, das klare und reine Weltbild der mächtigen Dichtung hätte trüben können.

Dies Weltbild aber entworfen zu haben – „illuminiert und fresco", wie es einst der junge Schiller vom Dramatiker verlangt hatte – ist das unsterbliche Verdienst des reifen Dichters. Oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen: in drei mächtigen Terrassen erhebt sich dieser gewaltige Bau, dessen imposanter Eindruck nicht im geringsten geschmälert wird, wenn spähende Kleinmeisterei hier oder da einiges zerbröckelndes Mauerwerk entdeckt. Was Schiller seine „Idealisierkunst", die „Riesenarbeit des Idealisierens" zu nennen pflegte, hier zeigte es sich in künstlerischer Vollendung, und herrlich erfüllte sich sein Wort, dass der Mensch nur durch das Morgentor des Schönen in das Land der Erkenntnis dringe.

Er hat Wallenstein und Wallensteins Welt idealisiert, aber eben dadurch ihr historisches Wesen schärfer und tiefer erfasst als die damaligen Historiker und auch er selbst als Historiker es irgend vermochten. Und voll tiefen Sinnes verknüpfte er die Gegenwart mit der Vergangenheit, indem er mitten in der grauenhaften Auflösung des Reiches den tragischen Untergang des Helden schilderte, der im Kampfe mit dem ehernen Schicksal diese Auflösung hatte hindern wollen.

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