„Wilhelm Tell"

Wilhelm Tell"

Während Schiller noch an der „Braut von Messina" arbeitete, beschäftigte er sich schon mit einem neuen historischen Stoff, auf den er durch das grundlose Gerücht aufmerksam geworden war, er wolle Wilhelm Tell zum Gegenstande eines Dramas machen. Wiederholte Anfragen veranlassten ihn, Tschudis schweizerische Geschichte zu studieren, und nun „ging ihm ein Licht" auf, wie er schon im September 1802 an Körner schrieb; Tschudis „treuherziger, herodotischer, ja fast homerischer Geist" stimmte ihn poetisch.

Freilich war es eine „verteufelte Aufgabe", wie er an Körner schrieb. „Denn wenn ich auch von allen Erwartungen, die das Publikum und das Zeitalter gerade zu diesem Stoffe mitbringt, wie billig, abstrahiere, so bleibt mir doch eine sehr hohe poetische Forderung zu erfüllen – weil hier ein ganzes, lokalbedingtes Volk, ein ganzes und entferntes Zeitalter und, was die Hauptsache ist, ein ganz örtliches, ja beinahe individuelles und einziges Phänomen mit dem Charakter der höchsten Notwendigkeit und Wahrheit soll zur Anschauung gebracht werden. Indes stehen schon die Säulen des Gebäudes fest, und ich hoffe einen soliden Bau zustande zu bringen." Jedoch rückte die Arbeit nur langsam vor, und erst im Januar 1804 wurde sie vollendet.

Wilhelm Tell" ist oft neben und selbst über Schillers „Wallenstein" gestellt worden, was jedenfalls vom künstlerischen Standpunkt aus völlig unrichtig ist. Wilhelm Tell ist kein tragischer Held, wie denn auch Schiller sein Drama nicht ein Trauerspiel, sondern ein Schauspiel genannt hat. Hiermit war mehr gesagt, als dass der Held nicht untergehe. Der Stoff selbst war durchaus epischer Natur, wie Goethe ihn auch als Epos zu behandeln beabsichtigt hatte, und Schillers Schauspiel ist nur ein dramatisiertes Epos. Es fällt in drei Stücke auseinander, die beiden ersten Akte, die in der Rütliszene gipfeln, den dritten und vierten Akt, worin sich der Kampf zwischen Tell und dem Landvogt Geßler abspielt, und endlich den fünften Akt, der von der Parrizida-Szene beherrscht wird. Dass diese Szene das Stück arg verunstaltet, ist kaum jemals bezweifelt worden, und schon Goethe hat sie dem „Einfluss der Frauen" zugeschrieben. Schillers Frau und Schwägerin hielten es für nötig, dass Tell sein Verbrechen, einen Menschenschinder von Landvogt getötet zu haben, wenigstens durch eine Moralpauke über den politischen Mord sühne.

Auch sonst hat der „Einfluss der Frauen" störend auf die künstlerische Ökonomie des Dramas gewirkt. Eingeklemmt zwischen die Ansprüche dieser höfischen Huldinnen und den „Erwartungen, die das Publikum und das Zeitalter gerade zu diesem Stoffe" mitbrachte, hat Schiller die Eidgenossen als gar zu große Philister und den Landvogt als gar zu krassen Theatertyrannen dargestellt. In der Rütliszene heißt es:


Walter Fürst: Abtreiben wollen wir verhassten Zwang;

Die alten Rechte, wie wir sie ererbt

Von unsern Vätern, wollen wir bewahren,

Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen.

Dem Kaiser bleibe, was des Kaisers ist;

Wer einen Herrn hat, dien' ihm pflichtgemäß.

Meier: Ich trage Gut von Österreich zu Lehn.

Walter Fürst: Ihr fahret fort, Östreich die Pflicht zu leisten.

Jost von Weiler: Ich steure an die Herrn von Rappersweil.

Walter Fürst: Ihr fahret fort, zu zinsen und zu steuern.

Rösselmann: Der großen Frau zu Zürch bin ich vereidet.

Walter Fürst: Ihr gebt dem Kloster, was des Klosters ist.


Das ist unkünstlerische Tendenz durch und durch, denn auf dem Rüth, im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts, waren diese Fragen und Zweifel so undenkbar und unmöglich, wie sie im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts einen scharfen Protest gegen das größte Werk der Französischen Revolution bildeten. Dass es sich hier auch nicht um ein beiläufiges Versehen handelte, zeigt die Schlusszeile des Dramas, in der Junker Rudenz alle seine Knechte für frei erklärt. Das ist wieder völlig unhistorisch, aber Schiller schließt dadurch einen Kompromiss zwischen dem „Einfluss der Frauen" und den „Erwartungen des Zeitalters"; nur dass Kompromisse dieser Art künstlerisch ebenso wenig taugen wie politisch.

Auch die Gestalt des Helden leidet unter der abtönenden Tendenz, die sich allzu häufig in dem Drama bemerkbar macht. Im ersten Akte wird die Zumutung des Landvogts, dem Hute die Reverenz zu erweisen, als das äußerste der Schmach hingestellt, das den Schweizern zugemutet werden könne:


Welch neues Unerhörtes hat der Vogt

Sich ausgesonnen! Wir 'nen Hut verehren!

Sagt! Hat man je vernommen von dergleichen?

Kein Ehrenmann wird sich der Schmach bequemen.


Als dann aber Tell im dritten Akt am Hute vorbeigeht, ohne ihn zu grüßen, heißt es:


Frießhardt: Des Landvogts oberherrliche Gewalt

Verachtet er und will sie nicht erkennen.

Stauffacher: Das hätt' der Tell getan?

Melchtal: Das lügst Du, Bube!


Der Söldner Frießhardt urteilt würdiger über Tell als Stauffacher und Melchtal, die politischen Führer der Eidgenossen; besonders eigentümlich nimmt sich die sittliche Entrüstung im Munde des Hitzkopfs Melchtal aus, der eben geschworen hat, dass sich von Alp zu Alp die Feuerzeichen flammend erheben und die festen Schlösser der Tyrannen fallen sollen. Aber genauer als Frießhardt kennen sie allerdings den Tell, der dann, sobald Geßler auf der Bühne erscheint und die dem Hute verweigerte Reverenz ebenso auslegt wie sein Söldner, selbst erklärt:


Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht,

Nicht aus Verachtung Eurer ist's geschehn.

War' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell,

Ich bitt' um Gnad', es soll nicht mehr begegnen.


Also nur aus „Unbedacht" hat sich Tell nicht der Schmach bequemt, der sich kein Ehrenmann bequemen kann, und er bittet um Gnade, indem er verspricht, es nicht wieder zu tun.

So tritt die Tendenz handgreiflich hervor, die Unterwürfigkeit des schweizerischen Helden bis zum äußersten Grade der Selbsterniedrigung zu treiben, damit er das Recht erhalte, sich an dem Tyrannen zu vergreifen, der auch auf solche Unterwürfigkeit nur mit sinnlos wütender Grausamkeit zu antworten weiß. Und es ist eine Art gerechter Strafe für diese unkünstlerische Tendenz, dass Schiller seinen guten Deutschen noch immer nicht genug getan hat, dass die bürgerlichen Kritiker – vom erzdemokratischen Börne bis zum urreaktionären Vilmar – in holder Eintracht sich vor dem „Meuchelmord" bekreuzigen, den Tell am Landvogt Geßler begeht.

Hier aber hat Schiller seinen großen historischen Sinn durchaus bewährt. Nimmt man einmal die Voraussetzung als gegeben an, dass Tell trotz der äußersten Nachgiebigkeit von Geßler in der grausamsten Weise gefoltert wird, so ist das Recht Tells, dies Untier abzuschießen wie einen Wolf des Waldes, so unanfechtbar, dass man sich höchstens wundern könnte, weshalb Tell noch einen langen Monolog braucht, um sich ein unveräußerliches Menschenrecht klarzumachen. Aber so erschöpfend Schiller die Tötung Geßlers als die Notwehr eines in seinen menschlichsten Interessen tödlich verletzten Menschen psychologisch begründet hat, so fasst er sie historisch nur als die Begleiterscheinung des menschenschindenden Despotismus auf, die wohl das Signal zur befreienden Tat geben, aber nicht diese befreiende Tat selbst sein kann. Mit weisem Bedacht lässt Schiller seinen Tell nicht mit auf dem Rütli tagen, und wenn ihn die epische Art des Stoffes auch gehindert hat, die Tat des Einzelnen völlig mit der Tat der Eidgenossen zu verschmelzen, so hat er doch in die Rütliszene das herrliche Bekenntnis gelegt, das, wie einst die Flammenzeichen von Alp zu Alp leuchteten, so sein Freiheitspathos von Geschlecht zu Geschlecht tragen wird:


Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst -

Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,

Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht -

Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr

Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -

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