„Xenien"

Xenien"

Die philosophischen Gedichte Schillers erschienen zum Teil in den „Horen", zum Teil in einem Musenalmanach, den er für das Jahr 1796 und dann auch für die vier folgenden Jahre herausgab. Der Almanach überlebte die „Horen" noch um zwei Jahre, die es nur auf die kurze Frist von drei Jahren brachten.

Überreich, wie Schiller immer an Plänen war, an dichterischen nicht nur, sondern auch an geschäftlichen, war er oft überrasch in ihrer Ausführung. Auch die „Horen", solange er sich mit ihnen getragen hatte, erwiesen sich schließlich als eine Frühgeburt. „Schillers Geist musste sich manifestieren", meinte Goethe später, und fand es wirklich lustig anzuschauen, wie ihr Briefwechsel mit der pompösen Ankündigung der „Horen" begann und dann Redaktion und Teilnehmer ängstlich nach Manuskript auslugten.

Die „Horen" sollten sich über alles verbreiten, was mit Geschmack und philosophischem Geiste behandelt werden könne, und also sowohl philosophischen Untersuchungen als historischen und poetischen Darstellungen offenstehen. Alles, was entweder bloß den gelehrten Leser interessieren oder den nicht gelehrten Leser befriedigen könne, werde davon ausgeschlossen sein, vorzüglich aber und unbedingt würden sie sich alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezöge. Heißt es so in den Einladungen an die Mitarbeiter, so wird derselbe Gesichtspunkt noch weit schärfer in der öffentlichen Ankündigung der Zeitschrift betont. Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Krieges das Vaterland ängstige, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuere und nur allzu oft Musen und Grazien daraus verscheuche, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung sei, werde es zum dringenden Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluss der Zeiten erhaben sei, die Gemüter wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. Als Mitarbeiter waren in dieser öffentlichen Ankündigung u. a. der Koadjutor Dalberg, Fichte, Gentz, Goethe, Herder, die beiden Humboldts, Schiller und Schlegel genannt.

Es war eine stattliche Phalanx, und auch an geschäftlicher Betriebsamkeit ließen es Herausgeber und Verleger nicht fehlen. Sie griffen dabei selbst zu recht zweifelhaften Mitteln; mit Vorwissen Schillers ließ Cotta in die „Jenaer Literaturzeitung" Rezensionen der „Horen" einrücken, die er selbst bezahlte. Schiller, der zehn Jahre früher in der Ankündigung seiner nunmehr entschlafenen „Thalia" das Publikum als seinen Souverän angeschwärmt hatte, meinte jetzt trocken, dem Publikum müsse man doch alles vormachen. Goethe dachte in diesem Punkt auch etwas souverän; gleich in die ersten Hefte gab er seine „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter", über die selbst der treue Körner schrieb: „Was meint denn Goethe eigentlich mit seinen Unterhaltungen? Das erste Stück war mir begreiflich, und ich erkannte ihn in manchen Stellen. Auch im zweiten interessierte mich die Darstellung bei der ersten Erzählung. Aber für das dritte weiß ich nichts zu sagen. Und was soll daraus werden, wenn es immer decrescendo geht? Von allen Seiten hör' ich Klagen über diese Aufsätze, und wenn ich mich ihrer annehme, so werde ich der Parteilichkeit beschuldigt." An so prachtvollen Beiträgen wie Goethes „Römischen Elegien" stieß sich dann wieder die spießbürgerliche Prüderie. Und Schillers großartiges „Reich der Schatten" verstanden selbst in dem superklugen Berlin nur „äußerst wenige", wie Humboldt meldete. Die ästhetischen Briefe aber wurden in einem vielgelesenen Journal so rezensiert: „Schillers Stil ist nichts anderes als eine ununterbrochene widerliche Mischung von gelehrt aussehenden, abstrakten und schöngeisterischen Phrasen, eine lange Reihe von rhetorischen Künsteleien und ermüdenden Antithesen, die unmöglich so und in dieser Anzahl in der Natur der Dinge gegründet sein können." Auch die Beiträge anderer Mitarbeiter, wie Herders und Humboldts, erwiesen sich als Kaviar fürs Volk.

Unbeschadet der Schuld, die Goethe und Schiller am Misserfolge der „Horen" trugen, war es wesentlich doch der „Widerstand der stumpfen Welt", woran die neue Zeitschrift scheiterte. Der Unmut darüber regte sich zuerst in Goethe, und zwar bei einem Anlass, der nicht unmittelbar die „Horen" betraf. Im Herbste 1795 gab Friedrich Leopold Stolberg, der schon „Die Götter Griechenlands" wegen ihrer antichristlichen Gesinnung denunziert hatte, eine Übersetzung platonischer Gespräche mit einer Vorrede heraus, über die Goethe an Humboldt schrieb: „Haben Sie die monströse Vorrede Stolbergs zu seinen platonischen Gesprächen gesehen? Es ist recht schade, dass er kein Pfaff geworden ist, denn so eine Gemütsart gehört dazu, ohne Scham und Scheu vor der ganzen gebildeten Welt ein Stückchen Oblate als Gott zu elevieren", und ähnlich an Schiller: „Haben Sie die abscheuliche Vorrede Stolbergs zu seinen platonischen Gesprächen gelesen? Die Blößen, die er sich darin gibt, sind so abgeschmackt und unleidlich, dass ich große Lust habe, darein zu fahren und ihn zu züchtigen. Es ist sehr leicht, die Unsinnigkeit dieses bornierten Volkes anschaulich zu machen; man hat dabei das vernünftige Publikum auf seiner Seite, und es gibt eine Art Kriegserklärung gegen die Halbheit, die wir nun in allen Fächern beunruhigen müssen. Durch die geheime Fehde des Verschweigens, Verruckens und Verdruckens, die sie gegen uns führt, hat sie lange verdient, dass ihrer nun auch in Ehren gedacht werde. Bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten, die ich nach und nach zusammenstelle, finde ich es doppelt nötig und nicht zu umgehen. Ich denke gegen Rezensenten, Journalisten, Magazinsammler und Kompendienschreiber sehr frank zu Werke zu gehen." Damit war Schiller sofort einverstanden: „Ich bins herzlich zufrieden, wenn Sie ihnen eins anhängen wollen." Am 29. Dezember schrieb dann Goethe: „Mit hundert Xenien, wie hier ein Dutzend beiliegen, könnte man sich sowohl dem Publiko als seinen Kollegen aufs angenehmste empfehlen", worauf Schiller noch am selben Tage antwortete, der Gedanke mit den „Xenien" sei prächtig und müsse ausgeführt werden.

So entstanden die „Xenien", die Goethe und Schiller als Füchse mit brennenden Schwänzen in das Land der Philister jagten. „Xenien", d. h. Gastgeschenke nach einem Worte des römischen Epigrammendichters Martial: ein satirisches Strafgericht über alles Flaue, Mittelmäßige, Platte, Rückständige und Verdorbene, was sich damals im geistigen Leben Deutschlands breitmachte, nach dem kurzen Aufschwunge des literarischen Sturmes und Dranges. Sie bekamen alle die schmerzende Geißel zu spüren, die flachen Aufklärer vom Schlage der Nicolai, die wässerigen Wochenschriften mit ihrem schielenden Neide auf alles Bedeutende und Große, die dilettantischen Ästhetiker und Kunstschwätzer, die frömmelnden Reaktionäre, wie Lavater und Stolberg, die Fabrikanten des bürgerlichen Dramas mit ihrem trockenen Spaß in der Komödie und ihrem nassen Jammer in der Tragödie und – leider – auch die Freiheitsschwärmer, wie Forster, und die Weltverbesserer, wie Fichte. Jedoch neben diesen strafenden Epigrammen entstanden in nicht minder reicher Fülle klare und körnige Sprüche, die einen Schatz ästhetischer und philosophischer Weisheit enthielten.

An beiden Arten der „Xenien" hat Schiller den reicheren Anteil, wenn sich freilich auch das Eigentumsrecht beider Dichter nicht völlig sondern lässt. Sie arbeiteten gemeinsam, und oft gab einer den Gedanken, der andere die Form, oder was der eine in der ersten Zeile begonnen hatte, führte der andere in der zweiten Zeile aus. Doch soweit sich im einzelnen nachweisen lässt, welche „Xenien" von Goethe und welche von Schiller verfasst worden sind, hat Schiller die schärferen Pfeile geschnitzt und sie zierlicher befiedert. Dagegen hat er auch zuerst und zumeist darauf gedrängt, der kritischen Ladung ein gediegenes Gewicht beizufügen. Als er eine Sendung „Xenien" zur Begutachtung an Goethe gesandt hatte, schickte sie dieser mit den fast bedauernden Worten zurück: „Die ernsthaften und wohlmeinenden sind gegenwärtig so mächtig, dass man denen Lumpenhunden, die angegriffen sind, missgönnt, dass ihrer in so guter Gesellschaft erwähnt wird." Schon die köstliche Gnomenreihe der Votivtafeln allein musste versöhnend wirken, musste zeigen, dass der beißende Spott nur einer lauteren Begeisterung für die Kunst entsprungen war.

Allein sobald die „Xenien" im Musenalmanach für 1797 veröffentlicht wurden, offenbarte sich, dass Goethe „denen Lumpenhunden" wirklich nicht zu viel getan hatte. Es entstand ein furchtbarer Aufruhr, und eine Reihe von Gegenschriften erschien, aber auch nicht eine darunter, die nicht sprechendes Zeugnis von der unglaublichen Verkommenheit der damaligen Literatur abgelegt hätte. Hebbel hat die „Xenien" und die „Gegengeschenke an die Sudelköche in Weimar und Jena" ganz richtig so gekennzeichnet: „Auf der einen Seite ein prachtvoller feuerspeiender Berg, der ebenso viel flüssiges Metall als Lava zu Tage fördert, auf der anderen ein stinkender Schlammvulkan." Campe, der bekannte Kinderschriftsteller, der nur wegen seiner komischen Sprachreinigungsversuche ein wenig aufgezogen worden war, wollte Goethen ein „Federchen" abbürsten, sagte dann aber: „Wir bürsten umsonst, denn an dir ist alles Feder, weil du dir selbst als Phönix, andern aber als Gimpel erscheinst." Und ein anderer Erzieher der Jugend, der Rektor Manso, dem auch nicht mehr als Pedantismus vorgeworfen worden war, dichtete also:


Meint denn der Hammel in Jena, wir wären so dumm, dass wir glaubten,

Er nur habe allein in dem Kalender gestutzt?

Ein mit stützender Bock aus Weimar hat ihm geholfen,

Ohne den stößigen Bock fehlts dem Eunuchen an Kraft.


Da dem ehrwürdigen Pädagogen ein so geistreicher Gedanke noch nicht genügend ausgeschöpft zu sein schien, fügte er hinzu:


Besser stoßen, das ist gewiss, zwei Ochsen als einer,

Somit wisst ihr, warum Goethe sich Schillern verband.


Natürlich fehlte es auch nicht an den guten Freunden, die, ohne selbst getroffen zu sein oder mit den Getroffenen etwas gemein zu haben, dennoch mit hochgezogenen Brauen und wehleidig gekniffenem Munde über die Verletzung des guten Tons, nämlich durch Goethe und Schiller, ihr Klagelied anstimmten. So Papa Wieland und der Erbprinz von Augustenburg, der ein guter Mann war, aber in Nicolai einen ebenso großen Denker und Dichter verehrte wie in Schiller. Mit der Sorte hatte schon Lessing seine liebe Not gehabt, und so nun auch Goethe und Schiller; alle wird sie ja nie.

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