Ästhetik und Philosophie

Ästhetik und Philosophie

Lange hatte sich Schiller gegen das Studium Kants gesträubt, auf das ihn Körner immer wieder hingewiesen hatte. Es ist wohl sein übertriebenes Misstrauen in den Umfang seiner Vorkenntnisse gewesen, das ihn von einer schwierigen Aufgabe zurückschreckte, aber als er nun die nötige Muße fand, sich in sie zu vertiefen, musste er um so freudiger überrascht sein, auf einen verwandten Geist zu stoßen, der, klarer und schärfer als ihm selbst gegeben war, den Zwiespalt zwischen Sinnenwelt und Sittengesetz zu lösen unternahm und diese Lösung in der Kunst fand.

Zwischen das Reich der Natur, das Reich dessen was ist, und das Reich der Freiheit, das Reich dessen was sein soll, zwischen die Erscheinungswelt, die den menschlichen Willen den Gesetzen der Natur unterwirft, und die Welt der Ideen, wo der freie Wille des Menschen herrscht, hatte Kant als verbindendes Glied das Reich der Kunst gestellt. Nirgends entfaltete sich Kants Genius so glänzend wie in der „Kritik der Urteilskraft". Sie war 1790 erschienen und wurde von Schiller verschlungen, der hier nun die „Mittelkraft" fand, nach der schon der Zögling der Karlsschule gesucht hatte. Hatte die bisherige Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung der Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt oder sie als eine verhüllende Form der Philosophie betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in einem tief durchdachten und ebendeshalb auch künstlich konstruierten, aber an freien und weiten Ausblicken reichen System.

Kritischer als zur Ästhetik Kants stellte sich Schiller zu seiner Ethik. „Es ist immer noch etwas in Kant", schrieb er später einmal an Goethe, „was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöffnet hat, aber die Spuren desselben nicht ganz vertilgen konnte." In der Tat ist Kants Pflichtenlehre mit ihrem kategorischen Imperativ nichts weiter als die philosophische Verkleidung der mosaischen zehn Gebote und seine Lehre von dem radikal Bösen der Menschennatur nichts anderes als die philosophische Verkleidung des Dogmas von der Erbsünde. Der Spinozist Goethe schrieb darüber an den Spinozisten Herder: „Kant hat seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenalter gebraucht, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herangelockt würden, den Saum zu küssen." Nicht anders aber urteilte der Kantianer Schiller, der schon zehn Jahre früher in seiner Selbstkritik der „Räuber" aufs schärfste gegen die Meinung protestiert hatte, dass der Mensch ursprünglich zum Verderblichen neige. Er schrieb im Februar 1793 an Körner, dass Kants Lehre von der Neigung des menschlichen Herzens zum radikal Bösen empörend für sein Gefühl sei, und Kant überhaupt nicht wohl daran tue, die christliche Religion durch philosophische Gründe zu stützen und das morsche Gebäude der Dummheit zu flicken. Und so hat auch Schiller die echte Philisterschrulle Kants verspottet, dass nicht der tugendhaft handle, der sich unter dem Triebe eines mitfühlenden Herzens seinen Mitmenschen, hilfreich erweise – denn er befriedige nur seine eigene Neigung –, sondern etwa der Geizhals, der unter dem Gebote des kategorischen Imperativs mit äußerstem Widerstreben ein Almosen spende.

Unfähig, die bürgerliche Revolution zu begreifen, gab Schiller nun der Kantischen Philosophie die eigentümliche Wendung, dass er aus Kants Reiche der Natur den Naturstaat machte, worunter er den feudalistisch-absolutistischen Staat seiner Zeit verstand, aus Kants Reiche der menschlichen Willensfreiheit aber „den Bau einer wahrhaft politischen Freiheit", und wie Kant das Reich der Kunst als verbindendes Glied zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Freiheit errichtet hatte, so wollte Schiller aus dem Naturstaat über die Brücke der ästhetischen Kultur in den bürgerlichen Vernunftstaat.

Die ästhetischen Abhandlungen, in denen sich Schiller zunächst mit Kant auseinandersetzte, ziehen die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts mit radikaler Schärfe. In einem dieser Aufsätze heißt es: „Eine solche Ausdehnung des Eigentumsrechts, wobei ein Teil der Menschen zugrunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht gegründet." Und in einem anderen: „Des Menschen ist nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erduldet, wirft seine Menschheit weg." Und in einem dritten findet sich jenes schöne Wort über die Sklaverei ohne sklavische Gesinnung, womit dies Lebensbild Schillers eingeleitet worden ist.

Nicht jedoch als ob Schiller deshalb das Ästhetische wieder mit dem Moralischen oder Politischen zusammengeworfen, und der alberne Kalauer Nietzsches über den „Moraltrompeter von Säckingen" irgendeinen Sinn hätte. Schiller hat das Ästhetische, so strenge wie nur immer Kant, vom Moralischen und Politischen gesondert. Er nannte es einen „barbarischen Geschmack", den Dichtern „Nationalgegenstände" zur Bearbeitung zu empfehlen; er schrieb: „Wehe dem griechischen Kunstgeschmacke, wenn er durch die historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen", und so meinte er auch: „Es ist offenbar Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zwecke in ästhetischen Dingen fordert und, um das Reich der Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will." Kants Satz, dass der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung nicht der Stoff, sondern die Form sei, erscheint bei Schiller in der prägnanten Fassung: „Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt." Überhaupt, wenn Schillers ästhetische Abhandlungen nicht immer Kants philosophische Tiefe erreichen, so sind bei ihm die rein ästhetischen Urteile, eben weil er ein Dichter war, oft reicher und schärfer gefasst als bei Kant. Hatte Kants Schönheitsideal noch stark an Winckelmanns griechische Kontur erinnert, und hatte selbst Lessing sich „allenfalls" damit befreunden wollen, dass die Obrigkeit alles Gemeine und Niedrige in der Kunst „unterdrücke", so sicherte Schiller dem Gemeinen und Niedrigen sein gutes Recht in der Kunst. Freilich sagte er, das Grässliche und das Niedrige, die äußersten Grenzposten des Geschmacks, seien sehr behutsam anzuwenden und müssten durch einen erheblichen künstlerischen Zweck gerechtfertigt werden, aber man darf ihn in diesem Punkte mit einiger Nachsicht beurteilen, denn die glorreiche Entdeckung, dass der Dreck um des Dreckes willen die künstlerische Darstellung erheische, konnte erst in einem erleuchteteren Zeitalter gemacht werden.

In den Briefen nun über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Schiller an den Erbprinzen von Augustenburg richtete, wirft er sich selbst zunächst die Frage entgegen, weshalb er sich mit ästhetischen Untersuchungen abgebe, da doch das „vollkommenste aller Kunstwerke, der Bau einer wahren politischen Freiheit", ein „so viel näheres Interesse darbiete", in einem Augenblick, wo auf dem politischen Schauplatze „das große Schicksal der Menschheit" verhandelt werde, „der große Rechtshandel", woran jeder beteiligt sei, der sich Mensch nenne. Er antwortet, das morsche Gebäude des Naturstaats wanke zwar, jedoch finde der freigebige Augenblick ein unempfängliches Geschlecht. Schiller entdeckt „rohe und gesetzlose Triebe" in den „niederen und zahlreicheren Klassen", nur dass er hinzufügt, die „zivilisierten Klassen" böten den noch widrigeren Anblick der Schlaffheit und einer Degeneration des Charakters, die um so mehr empöre, weil die Kultur selbst ihre Quelle sei.

Gewiss fänden sich bei allen Völkern, die in der Kultur begriffen seien, ähnliche Zustände, allein bei einiger Aufmerksamkeit zeige sich ein Kontrast zwischen der heutigen und der ehemaligen, besonders der griechischen Form der Menschheit. Schiller erkennt den Unterschied zwischen der antiken und der bürgerlichen Gesellschaft. Er schreibt in dem Deutschland, das noch nichts von der großen Industrie und kaum etwas von der Manufaktur wusste: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft." Schiller bricht darüber keineswegs in reaktionäre Klagen aus. Er sagt vielmehr: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur." Aber, so fügt Schiller hinzu, auch nur das Instrument; so lange er dauert, ist man erst auf dem Wege zur Kultur. Wie viel immer für das Ganze der Welt durch die getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen wird, so leiden die Individuen unter dem Fluche dieses Weltzwecks. „Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichmäßige Spiel der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur ihre gleichförmige Kultur glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältnis ständen wir also zu dem vergangenen und dem kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner Menschheit entfalten könnte." Schiller zieht auch hier rücksichtslos die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts, und seine Schuld ist es nicht, dass sich die bürgerliche Vernunft auf halbem Wege in dem kapitalistischen Profit verlor und nun nichts mehr von „Zukunftsstaaten" wissen will, worin sich der „freie Wuchs der Menschheit" entfalten kann.

Kann dies Ziel nun aber nach Schillers Auffassung nicht durch den Kampf zwischen den „niederen" und den „zivilisierten Klassen" erreicht werden, so auch durchaus nicht durch den Naturstaat, den absolutistisch-feudalen Staat, dessen barbarische Rohheit und unheilbare Verrottung die ästhetischen Briefe mit beredten Worten schildern. Es ist, als ob Schiller durch das Dunkel des kommenden Jahrhunderts hindurch die Urteilspraxis der preußischen Disziplinargerichtshöfe gesehen hätte, wenn er das beißende Epigramm abschnellt, der Naturstaat werde sich leichter dazu entschließen – und wer könne ihm darin Unrecht geben? –, seinen Mann mit einer Venus Cytherea, der Göttin geiler Lust, als mit einer Venus Urania, der hohen Himmelsgöttin, zu teilen? So kommt denn Schiller zu dem Ergebnisse, dass man durch das ästhetische Problem seinen Weg nehmen müsse, um das politische Problem zu lösen, dass der Weg zur Freiheit durch die Schönheit führe.

Die ästhetischen Briefe Schillers enthüllen das Geheimnis unserer klassischen Literatur; sie weisen einleuchtend genug nach, weshalb der bürgerliche Befreiungskampf des achtzehnten Jahrhunderts sich in Deutschland auf dem Gebiet der Kunst entfalten musste. Aber sie geraten selbstverständlich ins Bodenlose bei dem Versuche, den Weg von der ästhetischen Schönheit zur politischen Freiheit zu finden. Schon im zehnten Briefe gesteht Schiller, die Erfahrung sei vielleicht der Richterstuhl nicht, vor dem sich eine Frage wie diese ausmachen lasse, und je mehr er sich in seine gedankenreichen Untersuchungen vertieft, um so mehr wird ihm das Mittel zum Zwecke. Er sucht wohl noch seinen Grundgedanken in dem Satze festzustellen: „Der Mensch in seinem physischen Zustande erleidet bloß die Macht der Natur, er erledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustande, und er beherrscht sie in dem moralischen", aber die ästhetischen Briefe schließen doch mit dem „ästhetischen Staat" als dem Endziele. „Der Geschmack breitet über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt durch ihn, entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von den Leblosen wie von den Lebendigen ab … Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte, und wenn es wahr ist, dass der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und vollkommensten reift, so müsste man auch hier die gütige Schickung anerkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben." Schließlich antwortet Schiller auf die Frage, ob ein solcher Staat des schönen Scheins existiere und wo er zu finden sei, dass er dem Bedürfnis nach in jeder feingestimmten Seele existiere, aber dass er sich tatsächlich wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finde.

So verkündet sich dieser ästhetisch-philosophische Idealismus selbst als ein Spiel, womit auserlesene Geister sich die traurigen Wände ihres Kerkers vergoldeten, und es wäre heute ein Hohn auf die hungernden Massen, wenn man ihnen zumuten wollte, sich ihrer Fesseln nur „in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit" zu entledigen.

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