Der Regimentsmedikus

Der Regimentsmedikus

Die Befreiung Schillers von dem Zwang der Karlsschule wurde ihm durch eine neue Büberei des Herzogs vergällt. Ohne jede Angabe von Gründen brach Karl Eugen das Versprechen, das er dem Vater Schillers gegeben hatte, den Sohn besser zu versorgen, als durch das theologische Studium möglich gewesen wäre; er steckte ihn vielmehr als Regimentsmedikus in ein verachtetes Infanterieregiment, mit einem Monatsgehalt von 18 Gulden und dem Verbote jeder Privatpraxis. Es war eine überaus ärmliche Stellung, weit ärmlicher, als sie der Vater Schillers in seiner Feldscherzeit bekleidet hatte. Nicht einmal die Quaste zum Degen erhielt der neue Regimentsmedikus, so dass er den Leutnants untergeordnet war, mit denen gemeinsam er vordem den Unterricht der Karlsschule genossen hatte.

Einer von diesen, Schillers guter Freund Scharffenstein, hat die tragikomische Gestalt gezeichnet, in der sich der Dichter der „Räuber" nun täglich, nach dem Besuche des Lazaretts, auf dem Paradeplatz in Stuttgart präsentierte. Lang aufgeschossen, in engen Gamaschen einherschreitend wie ein Storch, eingezwängt in die abgeschmackte Uniform nach altpreußischem Schnitt, drei steife, vergipste Rollen an jeder Seite des Kopfes, auf dessen Wirbel ein kleiner Hut schwebte, während im Nacken ein dicker langer Zopf baumelte und der sehr lange Hals in einer sehr schmalen Binde steckte, dunkelrotes Haar, breite Stirn, tiefliegende dunkelgraue Augen mit entzündeten Lidern, eine dünne, knorplige, in scharfem Winkel hervorspringende Nase, blasse, eingefallene, mit Sommersprossen übersäte Wangen, ein ausdrucksvoller Mund mit vorspringender Unterlippe, eine kreischende unangenehme Stimme – „dieser ganze mit der Idee von Schiller so kontrastierende Apparat war oft nachher der Stoff zu tollem Gelächter in unseren kleinen Kreisen". Aber der ehrliche Freund setzte hinzu: „Der ganze Kopf, der mehr geistermäßig als männlich war, hatte etwas Bedeutendes, Energisches", und obgleich er dem alten Schulkameraden und nunmehrigen Untergebenen auch „die mindeste Eleganz in der Turnüre" absprechen musste, so bekannte er doch freimütig: „Ich erstaunte, und mein Geist beugte sich vor der imponierenden Superiorität Schillers. Dieser kurzen Epoche, wo der Freund mein Lehrer war, verdankt meine Bildung sehr viel."

In den „kleinen Kreisen", von denen Scharffenstein spricht, tobte sich nun Schillers jugendlicher Mut nach langer Entbehrung aus. Groß war der Raum immer noch nicht, worin er sich bewegen konnte, denn ohne Erlaubnis des Generals, der sein Regiment befehligte, durfte er die Stadt nicht verlassen, nicht einmal seine Eltern auf der nahen Solitüde besuchen. Aber wo ihn das Schild eines Adlers oder Ochsen zu einem guten Tropfen lockte, da war er gern heimisch; er hat manchen kräftigen Trunk mit fröhlichen Gesellen getan, und sein burschikoses Leben regte sogar die kleinstädtische Klatschsucht auf. Darum kümmerte sich das junge Genie wenig, aber empfindlicher war der nachdrückliche Protest, den sein dünner Geldbeutel einlegte. Da er seine ärztliche Kunst nur an einigen Krüppeln erweisen konnte, so suchte er literarischen Erwerb an ein paar Blättchen, die in Stuttgart erschienen, und auch durch sein Schauspiel wollte er den „allgewaltigen Mammon" locken, „dem die Herberge unter seinem Dache gar nicht anstand". Doch darf man das in übermütiger Laune hingeschriebene Wort nicht so auffassen, als ob ihm sein großer Erstling gut genug gewesen wäre, um kleine Kneipenschulden zu tilgen. „Wir wollen ein Buch machen, das absolut vom Schinder verbrannt werden muss", pflegte er zu Scharffenstein zu sagen, und Scharffenstein selbst traf das Richtige, wenn er sogar bestritt, dass Schiller es mit den „Räubern" auf literarischen Ruhm abgesehen habe. Er habe vielmehr ein starkes, freies, gegen die Konventionen ankämpfendes Gefühl der Welt bekennen wollen; wäre er kein großer Dichter geworden, so wäre für ihn keine Alternative gewesen, als ein großer Mensch im aktiven öffentlichen Leben zu werden.

Durchaus würdig des revolutionären Gedichts waren die Schicksale, die es dem Dichter eintrug; sie warfen ihn auf rauen Wegen aus einem kümmerlichen Dasein heraus. Da Schiller keinen Verleger fand und das Schauspiel doch unaufhaltsam ans Licht drängte, so gab er es auf eigene Kosten heraus; die paar hundert Gulden, die er zu diesem Zweck auftrieb, haben ihm auf lange Jahre das Leben verbittert. Während des Druckes fand er aber schon einen Verleger, den angesehenen Buchhändler Schwan in Mannheim, der sich lebhaft für das Werk interessierte, als er die ersten Aushängebogen durch Schiller erhielt; es ist nicht recht klar, weshalb ihm der Dichter nicht gleich das Manuskript angeboten hat. Schwan war ehedem ein Freund Lessings gewesen und ein Mann von literarischem Geschmack; er hatte einen Blick für den genialen Wurf der „Räuber", trug die Aushängebogen brühwarm zum Reichsfreiherrn von Dalberg, dem Intendanten des Mannheimer Theaters, und hielt mit seinem guten Rat gegen Schiller nicht zurück, der dafür keineswegs taub war. Denn er war ganz frei von Autoreneitelkeit und hat es mit seinen Arbeiten immer ernst genommen.

So milderte und strich er noch an den fertigen Druckbogen und entkleidete die Vorrede des kraftgenialischen Tones, den er zuerst darin angeschlagen hatte. Es war gewiss nicht seine ganz ehrliche Meinung, wenn er das Schauspiel durch seinen Inhalt von den Bühnen verbannt sah, aber es war auch nicht bloß taktische Vorsicht in der Art, wie er den „Pöbel" behandelte, worunter er keineswegs die Gassenkehrer allein verstanden wissen wollte. „Zu kurzsichtig, mein Ganzes auszureichen, zu kleingeistig, mein Großes zu begreifen, zu boshaft, mein Gutes wissen zu wollen, wird er, fürcht' ich, fast meine Absicht vereiteln, wird vielleicht eine Apologie des Lasters, das ich stürze, darin zu finden meinen, und seine eigene Einfalt dem armen Dichter entgelten lassen, dem man gemeiniglich alles, nur nicht Gerechtigkeit, widerfahren lässt." Schiller räumte seiner Schrift, wegen ihrer merkwürdigen Katastrophe, einen Platz unter den moralischen Büchern ein. Das Laster nehme den Ausgang, der seiner würdig sei; der Verirrte trete wieder in das Geleise der Gesetze; die Tugend gehe siegend davon. „Wer nur so billig gegen mich handelt, mich ganz zu lesen, mich verstehen zu wollen, von dem kann ich erwarten, dass er – nicht den Dichter bewundere, aber den rechtschaffenen Mann in mir hochschätze." Es ist bei alledem subjektive Wahrheit in dieser Erklärung, denn damals und noch auf lange hinaus betrachtete Schiller die Bühne als eine moralische Anstalt.

Die Räuber" erschienen anonym, aber der Name des Verfassers wurde bald bekannt. Sein Buch machte ein ungeheures Aufsehen; so kühn hatte noch keiner der literarischen Stürmer und Dränger gesprochen. Und binnen Jahresfrist erschien es nun auch auf der Bühne, der besten Bühne, die es damals in Deutschland gab. Der Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz war ein prachtliebender und verschwenderischer Despot wie der Herzog von Württemberg, aber doch nicht so nichtswürdig und roh wie dieser, und durch Voltaire, mit dem er korrespondierte, ein wenig aufgeklärt. In Mannheim, das ebenso wie Ludwigsburg eine neugeschaffene Fürstenresidenz war – ein Trutz-Heidelberg, wie jenes ein Trutz-Stuttgart –, hatte er eine Bibliothek und ein Antikenkabinett angelegt, eine Deutsche Gesellschaft gegründet, und auch zu einem deutschen Theater sollte Rat werden, um aus Mannheim den „Sitz des guten Geschmacks" zu machen. Man hatte deshalb mit Lessing verhandelt, doch scheiterten diese Bemühungen in der kläglichen Weise, die aus Lessings Leben bekannt ist, ganz so wie es Schubart in seinem schwäbischen Kraftstil vorausgesagt hatte: „Wenn es nur nicht rasch-aufloderndes Feuer ist, das gleich wieder erstickt, sobald ein Fränzöslein die Hosenfall aufmacht und drein pisst." Statt Lessings kam ein landläufiger Komödiant aus Frankreich; „lachen Sie", schrieb Schwan im April 1777 an Lessing, „Marchand erhält 18.000 Gulden, damit er die dicke Amme sei, die das mächtige Wiegenkind, die deutsche Nationalbühne, womit die Pfalz so lange schwanger geht, zur Geburt helfe. Heiliger Gott, was muss man erleben! Mit Lessing fängt man an und mit Marchand hört man auf." Jedoch in demselben Jahre noch starb die bayrische Linie der Wittelsbacher aus, und Karl Theodor siedelte nach München über; er nahm seinen Marchand mit und verfügte im September 1778, dass zur Entschädigung Mannheims für den Verlust der Hofhaltung ein Mannheimer Nationaltheater errichtet werde, zu dessen Intendanten er den Reichsfreiherrn von Dalberg ernannte. Dalberg war Dilettant, aber nicht ohne Eifer für die Aufgabe, die ihm gestellt war; als der Herzog von Gotha nach dem Tode Eckhofs sein Hoftheater auflöste, gewann Dalberg mit raschem Entschluss die jungen Schauspieler aus Eckhofs Schule, die nun frei geworden waren, Boek, Beil, Iffland, Beck, und er war nicht minder gut beraten, als er sich entschloss, die „Räuber" aufzuführen, an deren szenischer Darstellung selbst ihr Dichter zweifelte.

Freilich geschah es nicht ohne manche Weitläufigkeiten. Dalberg wünschte Änderungen und Milderungen mancherlei Art, auf die Schiller zum Teil einging und eingehen konnte, da er das Schauspiel ohne jede Rücksicht auf die Bühne entworfen hatte. Doch hatte Dalberg nicht nur ästhetische, sondern auch politische Bedenken; namentlich wollte er die Handlung um ein paar Jahrhunderte zurückdatiert, aus den Tagen des Siebenjährigen Krieges in die Zeit des Landfriedens von Kaiser Maximilian verlegt haben, wogegen sich der Dichter heftig sträubte, wenn auch auf die Dauer nicht mit Erfolg. Er klagte: „Allerdings kann jedwedes Theater mit den Schauspielen anfangen, was es will, der Autor muss sichs gefallen lassen." So musste er auch zu anderen Eigenmächtigkeiten Dalbergs schweigen, und selbst die Änderungen, zu denen er sich bereit finden ließ, schädigten die Dichtung im ganzen mehr, als sie ihr im einzelnen nachhelfen mochten. Und nun gar das „Avertissement", das Schiller auf Dalbergs Wunsch für den Theaterzettel entwarf, unterstrich in fast marktschreierischer Geschmacklosigkeit den moralischen Charakter des Dramas.

Am 13. Januar 1782 fand die erste Aufführung statt. Sie sollte um 5 Uhr beginnen, aber schon am Mittag strömten die Zuschauer herbei, nicht aus Mannheim allein, sondern auch aus Darmstadt und Heidelberg, Frankfurt und Mainz. Boek spielte den Karl, Iffland den Franz Moor. In der Szene am Hungerturm entschied sich der mächtige Erfolg. „Das Theater glich einem Irrenhaus", schrieb ein Augenzeuge, „rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Schreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht." Mitten darin aber saß Schiller, unerkannt; er war bei Nacht und Nebel aus Stuttgart entwichen, um diesen großen Sieg zu feiern; die Reisekosten ersetzte ihm das Theater im Betrage von 44 Gulden; sonst erhielt er kein Honorar.

Nun ging nochmals eine gewaltige Wirkung von den „Räubern" aus, obgleich ihr Triumphzug über die deutschen Bühnen von mancher Leidensstation unterbrochen wurde. In einzelnen Städten hinderte die Theaterzensur die Aufführung, so in Danzig und Wien; sogar den Weimarischen Hofschauspielern wurde noch im Jahre 1800, als Goethe und Schiller in Weimar auf der Höhe ihres Schaffens standen, die Aufführung in Lauchstädt verboten. In Leipzig hatten die „Räuber" das tragikomische Schicksal, dass ihre fernere Aufführung durch den Magistrat verboten wurde, als während der ersten Vorstellung im Theater und in der Stadt gestohlen worden war. In Berlin kamen die „Räuber" schon im Januar 1783 zur ersten Aufführung, aber in der grauenvollen Verhunzung eines Herrn Plümicke, der obendrein die späteren Jugenddramen des Dichters in ähnlicher Weise verballhornte.

Auch neue Freunde, die sich nun eng mit seinem Leben verflochten, erwarben die „Räuber" ihrem Dichter. So eine verwitwete Frau v. Wolzogen, die ein Gütchen im Thüringischen besaß, aber viel in Stuttgart lebte, wo ihre Söhne die Karlsschule besuchten, und den Musikus Streicher, der, zwei Jahre jünger als Schiller, schon bewundernd zu ihm aufsah und uns sein Bild ähnlich gezeichnet hat wie Scharffenstein, nur in dem sanfteren Lichte der Verehrung: die kunstlos zurückgelegten rötlichen Haare, die entzündeten Augen, den blendend weißen Hals, die blassen Wangen, die in belebtem Gespräch schnell von hoher Röte gefärbt wurden. Auch mit Schubart wurde Schiller persönlich bekannt durch seinen Paten Rieger, der vom Herzoge wieder in halben Gnaden aufgenommen und zum Kommandanten des Hohenaspergs ernannt worden war. Was er selbst auf dem Hohentwiel erduldet hatte, machte ihn nicht mitleidiger gegen die Staatsgefangenen, die er nun zu bewachen hatte, und namentlich mit pietistischen Schrullen quälte er den armen Schubart. Aber in seiner Art spielte er gern den Gönner der Poeten und ließ Schiller auf die Festung kommen, wo er ihn mit Schubart zusammenbrachte, der seinen größeren Nachfahren mit Küssen und Tränen begrüßte, wie der Täufer den Messias.

Der Erfolg der „Räuber" regte die dramatische Ader Schillers wieder mächtig an; im Frühling und Sommer 1782 arbeitete er an dem „republikanischen Trauerspiele", zu dem ihm die Verschwörung des Fiesco in Genua den historischen Stoff gab. Vorher hatte er noch eine lyrische Blumenlese herausgegeben, im Wettstreite mit dem Schwäbischen Musenalmanach eines sicheren Stäudlin; auf seine Häkeleien mit diesem Dichterling zielte es ab, wenn Schiller seine „Anthologie auf das Jahr 1782" angeblich in Tobolsko erscheinen ließ und eine sibirisch-satirische Vorrede dazu schrieb. Die Sammlung erschien anonym, auch die einzelnen Gedichte sind nur mit Chiffren gezeichnet, doch rühren die meisten wohl von Schiller selbst her; jedenfalls verbarg er sich hinter den verschiedensten Chiffren. Die ersten lyrischen Versuche Schillers datieren noch von der Karlsschule, wo sie unter dem Zeichen Klopstocks standen, während die Gedichte der „Anthologie" dies Zeichen zwar noch keineswegs verschmähen, aber doch weit mehr zur Fahne Bürgers und Schubarts schwören.

So begeisterte sich Schubart für dieser „Lieder Feuerstrom", der „tönend vor ihm niederstürze", doch hat weder die Mitwelt noch die Nachwelt seine Begeisterung geteilt. Die Blumenlese Schillers blühte ganz im Verborgenen, und sie scheint nicht einmal rezensiert worden zu sein, außer von ihm selbst, der auch ihr gegenüber eine strenge Selbstkritik übte. In der Tat steht sie tief unter der Höhe, die damals schon von der deutschen Lyrik erreicht worden war, und nur wenn man von Schillers späteren Gedichten auf sie zurückblickt, gewinnt sie ein ästhetisch-biographisches Interesse. Sie zeigt im Keim, dass Schiller für das eigentliche Lied, für die Empfindungslyrik, durchaus nicht begabt war, aber schon früh eigene Töne anzuschlagen begann, wo er sich mit der Ballade, wie in der „Kindesmörderin" und der „Schlacht", oder mit der philosophischen Dichtung, wie in den Versen auf Rousseau und „An einen Moralisten", oder mit der epigrammatisch scharfen Kampflyrik berührt, wie in der „Männerwürde" oder in den „Schlimmen Monarchen".

Es ist müßig, darüber zu streiten, ob diese Gattungen überhaupt zur lyrischen Dichtung gehören; im Hause der Poesie gibt es viele Wohnungen, und nur wer etwa – um ein heute modisches Beispiel anzuziehen – in Mörike und Storm einzige Lyriker, in Herwegh und Freiligrath dagegen rhetorische Reimschmiede sieht, mag aus einem verzopften Schulbegriffe heraus bestreiten, dass Schiller überhaupt ein Lyriker gewesen sei. Sicherlich aber war die lyrische Empfindung niemals seine starke Seite, und wie er auch in reiferen Jahren kein Liebes- oder Trinklied ohne lastende Gedankenfracht geschrieben hat, so zeigen in seiner frühesten Gedichtsammlung die Lieder an Laura, wie sich ihm selbst die dichterische Empfindung einer jungen Liebe in verworrene Metaphysik verlor. Nach der Überlieferung hat ihm eine platonische Neigung für die Vermieterin seines Junggesellenstübchens, die verwitwete und nicht mehr ganz jugendliche Hauptmann Vischer, diese Lieder eingegeben, und die Fehde mit Stäudlin scheint daraus entsprungen zu sein, dass dieser nur eins davon der Aufnahme in den Schwäbischen Musenalmanach für würdig erachtete. Jedenfalls beurteilte sie Schiller in seiner sonst recht ehrlichen Kritik der „Anthologie" mit der Nachsicht, die ein überzärtlicher Vater missratenen Kindern zu spenden pflegt; er meinte, sie zeichneten sich vorteilhaft vor allen übrigen Gedichten der Sammlung aus; sie seien „in einem eigenen Tone, mit brennender Phantasie und tiefem Gefühl geschrieben"; nur dass sie alle „überspannt" seien, gab er zu.

Eins aber durfte er der „Anthologie" mit gutem Gewissen nachrühmen: „Viele Stellen sind von edlem Freiheitsgefühle beseelt." Darin war der junge Lyriker dem jungen Dramatiker ebenbürtig. In dem „Schlimmen Monarchen" quittierte er dem Herzoge die verlorenen Jugendjahre so:


Decken euch Seraile dann und Schlösser,

Wann des Himmels fürchterlicher Presser

An des großen Pfundes Zinsen mahnt?

Ihr bezahlt den Bankerott der Jugend

Mit Gelübden und mit lächerlicher Tugend,

Die – Hanswurst erfand.


Berget immer die erhabne Schande

Mit des Majestätsrechts Nachtgewande!

Bübelt aus des Thrones Hinterhalt.

Aber zittert für des Liedes Sprache,

Kühnlich durch den Purpur bohrt der Pfeil der Rache

Fürstenherzen kalt.


Noch unmittelbarer rückte Schiller seinem gnädigen Landesherrn auf den Leib im „Venuswagen", einem anonymen Einzeldrucke, der, im Tone Bürgers, die Sünden der Wollust geißelte und den „Volksbeherrschern" ins Stammbuch schrieb:


Lose Buben mäkeln mit dem Fürstensiegel,

Kreaturen vom gekrönten Tier,

Leihen dienstbar seiner Wollust Flügel

und ermauscheln Kron' und Reich dafür.


Ja die Hure (lassts ins Ohr Euch flüstern)

Bleibt auch selbst im Kabinett nicht stumm.

In dem Uhrwerk der Regierung nistern

Öfters Venusfinger um.


Da waren die Anspielungen auf den Juden Süß und die Gräfin Hohenheim schon gar nicht mehr zu verkennen. Aber „Der Venuswagen" mag so wenig wie die „Anthologie" viele Leser gefunden haben. Größeren Anstoß gaben einige Vorstöße Schillers in einem offiziellen Gelegenheitsgedichte, das er nach der damaligen Sitte im Auftrage der Stuttgarter Ärzte einem frühe verstorbenen Kollegen widmete. In dieser „Elegie auf den Tod eines Jünglings" mischten sich kecke Zweifel an der Unsterblichkeit mit einer herben Kritik der gesellschaftlichen Zustände. Der Tote wird gepriesen, dass er in seiner schmalen Zelle dem komisch-tragischen Gewühl entronnen sei, und in diesem Zusammenhange heißt es:


Über Dir mag auch Fortuna gaukeln,

Blind herum nach ihren Buhlen spähn,

Menschen bald auf schwanken Thronen schaukeln,

Bald herum in wüsten Pfützen drehn.


Für einen offiziellen Grabgesang, den auch die Leibärzte des Herzogs vertraten, war dieser Ton dreist genug und scheint auch so gewirkt zu haben. Schiller schrieb einem Freund, die „Fata" des Gedichtes seien zum Totlachen. „Ich fange an, in Aktivität zu kommen, und das kleine hundsföttische Ding hat mich in der Gegend herum berüchtigter gemacht als zwanzig Jahre Praxis. Aber es ist ein Name wie desjenigen, der den Tempel zu Ephesus verbrannte. Gott sei mir gnädig!"

Einstweilen kam es darauf an, wie lange der Herzog „gnädig" genug war, diesen herostratischen Ruhm anwachsen zu lassen, und bei seinem Wesen ist es mehr zum Erstaunen, dass er weit über ein Jahr zusah, als dass er nun mit seiner ganzen Brutalität darein fuhr.

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