Die Flucht

Die Flucht

Im Mai 1782 war Rieger gestorben, und die württembergische Generalität heischte von Schiller das landesübliche offizielle Grabgedicht. Er hatte bereits in seiner „Anthologie" ein überschwängliches Lobgedicht auf den alten Menschenräuber aufgenommen, wenn auch nicht verfasst, und sich „dieses Anlasses gefreut, seine wärmste Hochachtung gegen denselben vor der ganzen Welt entblößen zu können".

Man muss es in diesem Punkte mit den bürgerlichen Aufklärern nicht allzu genau nehmen. Wie Hutten und andere Humanisten ihre Harfen vor manchem Despoten und Despotenknechte stimmten, sobald diese dem „neuen Studium" günstig waren oder günstig zu sein schienen, so auch noch die Voltaire und Genossen. Lessing war mit seiner spröden Ablehnung allen Mäzenatentums immer erst ein weißer Rabe. Irgendeine besondere Gunst hat Schiller durch Rieger nicht erfahren, aber Rieger war sein Pate, er war auch für seine Person nicht solch Lumpazius wie die Montmartin und Wittleder und zudem nicht nur ein Helfershelfer, sondern auch ein Opfer des Despotismus, wodurch die Möglichkeit gegeben war, den Herzog zu prügeln, indem Rieger gelobt wurde.

Von dieser Möglichkeit machte Schiller einen reichlichen Gebrauch, als er das Grablied auf Rieger dichtete. Er züchtigte den Lebenden, indem er dem Toten wider die historische Wahrheit nachsang:


Höher als das Lächeln deines Fürsten,

(Ach! wonach so manche geizig dürsten!)

Höher war dir der, der ewig ist.

Nicht um Erdengötter klein zu kriechen,

Fürstengunst mit Untertanenflüchen

Zu erwuchern war dein Trachten nie.

Elende beim Fürsten zu vertreten,

Für die Unschuld an dem Thron zu beten,

War dein Stolz auf Erden hie.


Und wenn der Dichter dann die „lorbeervollen Alten" des württembergischen Kriegsheeres heranruft, so lässt er den Tod „dumpfig hohl" aus „ihres Riegers Bahre" sprechen:


Erdengötter! glaubt ihr ungerochen

Mit der Größe kindisch kleinem Stolz -

Alles fasst der schmale Raum von Holz -

Gegen mich zu pochen?


Hilft euch des Monarchen Gunst,

Die oft nur am Rittersterne funkelt,

Hilft des Höflings Schlangenkunst,

Wenn sich brechend euer Aug verdunkelt?


Wird man dort nach Riegers Range fragen?

Folgt ihm wohl KARLS Gnade bis dahin?

Wird er höher von dem Ritterkreuz getragen

Als vom Jubel seiner Segnenden?


Das Gedicht schließt mit der Versicherung, dass „der selige Verklärte" die große Prüfung bestanden habe, weil seinem Herzen die Menschheit werter gewesen sei als der Größe prangender Betrug.

Dies Poem, das die württembergische Generalität am Sarge ihres Kameraden niederlegte, konnte der Herzog nicht ignorieren, und fast jeder Vers musste den an die unsäglichsten Schmeicheleien gewöhnten Despoten wie ein Peitschenhieb treffen. Da er jedoch am 20. Mai eine Reise nach Wien antrat, so verschob er seine Rache, und inzwischen bot sich ihm die Gelegenheit, sie in einer Form zu kühlen, die ihm das blamable Eingeständnis ersparte, sich durch das Gedicht auf Rieger verletzt zu fühlen.

Schiller selbst wollte das unerträgliche Joch abwerfen und hoffte, dass Dalberg ihn als Theaterdichter nach Mannheim rufen würde. Zunächst bat er, namentlich um für den „Fiesco" zu lernen, um eine neue Vorstellung der „Räuber", die Dalberg auch bewilligte; gemeinsam mit Frau v. Wolzogen und Frau Vischer fuhr Schiller hinüber, wieder ohne Urlaub, und erhielt auch eine allgemeine, jedoch ganz unverbindliche Zusage von Dalberg, ihn beim Herzoge frei zu machen. Als Schiller nach Stuttgart zurückgekehrt war, suchte er das kaum lauwarme Eisen zu schmieden, indem er an Dalberg schrieb, dieser möge den Herzog an der Eitelkeit packen: „Daher würden ihm Euer Exzellenz von der Seite ungemein kitzeln, wenn Sie in dem Brief, den Sie ihm wegen mir schreiben, einfließen ließen, dass – Sie mich für eine Geburt von ihm, für einen durch ihn Gebildeten halten und dass also durch diese Vokation seiner Erziehungsanstalt quasi das Hauptkompliment gemacht würde, als würden ihre Produkte von verschiedenen Kennern geschätzt und gesucht. Dieses ist der Passe partout beim Herzog."

Jedoch so leicht war der Gimpel nicht zu fangen, und er stürzte sich recht wie ein Geier über den Vogelsteller, der ihm diese harmlose Leimrute aufgestellt hatte. Die guten Weiber, die mit Schiller heimlich nach Stuttgart gereist waren, hatten geplaudert, und der Herzog erfuhr, dass Schiller ohne Urlaub die Stadt verlassen hatte, und nun gar zu einer Reise ins „Ausland". Der Sünder musste vor ihm erscheinen, wurde mit aller fürstlichen Flegelei angefahren und für vierzehn Tage in Arrest gesteckt. In diesen Arresttagen, im Hochsommer 1782, entstand dem Dichter ein neues Trauerspiel, worin er seine Peiniger in einen Arrest ewiger Schande sperrte.

Sobald er wieder frei war, wandte er sich von neuem an Dalberg, verhieß ihm, binnen eines Monats den „Fiesco" fertigzustellen und die Geschichte des „Don Carlos" zu bearbeiten, auf die ihn Dalberg hingewiesen hatte; er wollte dem Intendanten zeigen, dass dieser an ihm einen fruchtbaren Theaterdichter gewinnen würde. Aber ehe ihm von dem zögernden Hofmann irgendeine Hilfe kommen konnte, traf ihn ein neuer Schlag; eine beiläufige Stelle in den „Räubern", in der von dem Spitzbubenklima des Graubündener Landes gesprochen wurde, hatte einige Lokalpatrioten mobil gemacht, die ihre schweizerische Heimat durch den Verfasser der „Räuber" angetastet glaubten. Eine unwürdige Durchstecherei brachte die Sache vor den Herzog, der nun um so weniger Spaß verstand, als gerade im Chur, der Hauptstadt von Graubünden, Schriften gegen sein sultanisches Regiment veröffentlicht worden waren. Abermals musste Schiller vor ihm erscheinen und erhielt den gemessenen Befehl, keine anderen Schriften als medizinische zu veröffentlichen; „ich sage Ihm, bei Kassation schreibt Er keine Komödien mehr"; so wurde Schiller entlassen.

Er fasste sofort den Entschluss, sich diesem Mordversuch auf seine geistige Existenz durch die Flucht aus Württemberg zu entziehen. Schubarts Schicksal stand warnend vor seinen Augen. Er beeilte sich, den „Fiesco" fertigzustellen, um nicht mit leeren Händen vor Dalberg zu erscheinen, und wohl nur die Rücksicht auf seine Eltern, die ganz von der Gnade des Herzogs abhingen, veranlasste ihn, am 1. September noch ein Schreiben an diesen zu richten, worin er um die Erlaubnis bat, fernerhin literarisch tätig sein zu dürfen, gegen das Versprechen, alle seine Produkte vorher der herzoglichen Zensur zu unterwerfen. Zum Glück ging der Herzog darauf nicht ein, sondern antwortete nur mit dem Verbote, bei Strafe des Arrestes nochmals an ihn zu schreiben.

Für seine Flucht gewann Schiller einen Begleiter und Helfer an dem treuen Streicher, der zu seiner musikalischen Ausbildung nach Hamburg übersiedeln wollte. Unter falschem Namen entkamen sie am Abend des 22. September glücklich durchs Esslinger Tor, an dem Scharffenstein die Wache hatte, und fuhren durch die stille Nacht dahin, in einem mächtigen Feuerscheine von der Solitüde her, wo der Herzog ein schwelgerisches Fest feierte.

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