Griechentum

Griechentum

Seinen dichterischen Beruf vergaß Schiller aber auch in diesen ersten Jahren nicht, die er in Weimar verlebte, mit so feurigem Eifer er sich in die Geschichte stürzte. Er suchte sich der Antike zu bemächtigen, deren erste Anregungen er in Mannheim erfahren hatte; die Karlsschule war ihm auch hierin alles schuldig geblieben.

Die Anstöße, die ihn auf diesen Weg führten, lassen sich im Einzelnen nicht mehr feststellen; im Ganzen genügt ein Blick auf das, was die antike Bildung für die Goethe, Lessing und Winckelmann, ja auch für die Herder und Wieland bedeutet hatte und bedeutete, um zu verstehen, weshalb Schiller sich der bildenden Kraft des Griechentums unterwarf. „Ich lese jetzt fast nichts als Homer", schrieb er im August 1788 an Körner, „in den nächsten zwei Jahren, habe ich mir vorgenommen, lese ich keine modernen Schriftsteller mehr. Keiner tut mir wohl; jeder führt mich von mir selbst ab, und die Alten geben mir jetzt wahre Genüsse. Zugleich bedarf ich ihrer im höchsten Grade, um meinen eigenen Geschmack zu reinigen, der sich durch Spitzfindigkeit, Künstlichkeit und Witzelei sehr von der wahren Simplizität zu entfernen anfing. Du wirst finden, dass mir ein vertrauter Umgang mit dem Alten äußerst wohltun – vielleicht Klassizität geben wird." Körner hatte auch jetzt seine Bedenken, und nicht ohne Grund.

Schiller konnte sich die griechische Dichtung nur durch Übersetzungen vermitteln, als er 1788 während seines Sommeraufenthalts bei und in Rudolstadt die „Iphigenie in Aulis" von Euripides und Szenen aus den „Phönizierinnen" desselben Dichters in sein geliebtes Deutsch übertrug, musste er sich den Urtext durch lateinische, französische und deutsche Übersetzungen verständlich machen. Für den Dialog benutzte er den fünffüßigen Jambus und für die Chöre gereimte Strophen. Einen dieser Chöre gestand ein so zuständiger Kritiker wie Wilhelm v. Humboldt immer mit großem Vergnügen zu lesen; es war „Die Hochzeit der Thetis":


Wo die Becher des Nektars erklangen,

Auf des Pelion wolkichtem Kranz,

Kamen die zierlich Gelockten und schwangen

Goldene Sohlen im flüchtigen Tanz.

Mit dem melodischen Jubel der Lieder

Feierten sie der Verbundenen Glück;

Der Berg der Centauren hallte sie wider,

Pelions Wald gab sie schmetternd zurück.


Es sei nicht bloß eine Übertragung in eine andere Sprache, sondern in eine andere Gattung von Dichtung, urteilte Humboldt; der antike Geist blicke wie ein Schatten durch das ihm geliehene Gewand, aber in jeder Strophe seien einige Züge des Originals so bedeutsam herausgehoben und so rein hingestellt, dass man dennoch vom Anfange bis zum Ende beim Antiken festgehalten werde.

Höher noch stehen die beiden großen Gedichte, die Schiller im Jahre 1788 aus dem Studium der Antike schöpfte, „Die Götter Griechenlands" und „Die Künstler". Das erste erschien im Märzheft des „Deutschen Merkur" und erregte allgemeines Aufsehen, in seiner scharfen Polemik gegen die „entgötterte Natur" der christlichen Religion, in seiner sehnsüchtigen Schilderung der griechischen Götterwelt:


Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne,

Alles Hohe nahmen sie mit fort,

Alle Farben, alle Lebenstöne,

Und uns blieb nur das entseelte Wort.

Aus der Zeitflut weggerissen, schweben

Sie gerettet auf des Pindus Höhn;

Was unsterblich im Gesang soll leben,

Muss im Leben untergehn.


Dennoch hatten diejenigen Kritiker recht, die, wie Graf Stolberg, den Lebenskern des Gedichts in der Absage des Dichters an den Glauben seiner Jugend erblickten und ihn deshalb heftig befehdeten, nicht aber in dem Preise der griechischen Götter, der schon mit seinem allzu reichlichen Aufgebot ihrer zahllosen Namen mehr den Eindruck des Erdachten als Erlebten macht. Die Angriffe auf das Gedicht regten dann die Frage nach der „Freiheit des Dichters bei der Wahl seiner Stoffe" an, die Körner unter diesem Titel in einem prosaischen Aufsatze behandelte, während Schiller in einem zweiten Gedichte, den „Künstlern", die im November 1788 zuerst entstanden und nach vielfältigen Umarbeitungen im nächsten Frühjahr veröffentlicht wurden, abermals mit den Anschauungen seiner Jugend brach und der Kunst den herrschenden Platz unter allen geistigen Mächten anwies, auch über Moral und Religion. Die Schönheit ist nur eine Hülle der Wahrheit, und die letzte höchste Wahrheit vermag der sterbliche Mensch allein unter dem Bilde der Schönheit zu erfassen:


Nur durch das Morgentor des Schönen

Drangst du in der Erkenntnis Land.

An höhern Glanz sich zu gewöhnen,

Übt sich am Reize der Verstand.


Die vollendete Wahrheit, die furchtbar herrliche Urania, die auf ihrem Sonnenthrone nur von reineren Dämonen angeschaut wird, legt den Menschen zuliebe ihre Feuerkrone ab und erscheint als Schönheit:


Der Anmut Gürtel umgewunden,

Wird sie zum Kind, dass Kinder sie verstehn,

Was wir als Schönheit hier empfunden,

Wird einst als Wahrheit uns entgegengehn.


Historisch und philosophisch sucht Schiller die Kunst als die Lichtbringerin der Menschheit nachzuweisen, die erst die sittliche und wissenschaftliche Kultur verbreite: in einer überströmenden Fülle der Gedanken, die den Bau des Gedichts schwer gefährdet haben, obgleich oder auch weil Schiller unablässig daran feilte, so dass nach seinem eigenen Worte, als „Die Künstler" fertig waren, alles weggestrichen war, was ihn antrieb, sie zu machen. Schon in diesem nüchternen Ausdruck liegt eine Kritik des Gedichts, das kein geschlossenes Kunstwerk, sondern nur reich an schönen Einzelheiten ist und eben auch nur in Einzelheiten antiken Geist atmet, wie in jenem Bilde des Todes, an dem sich Albert Lange in seinem qualvollen Sterben erhob:


Mit dem Geschick in hoher Einigkeit,

Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen,

Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut,

Mit freundlich dargebotnem Busen

Vom sanften Bogen der Notwendigkeit.


Körner war nun doch von dem Gedichte begeistert; er hielt es für das erste klassische Produkt Schillers, der seines Erachtens im lyrischen Fache einzig sei. Keiner der lebenden Dichter könne es mit ihm aufnehmen, wenn er seine ganze Kraft aufbiete, dagegen sei Goethe im Dramatischen ein gefährlicher Nebenbuhler Schillers. Diesen Überschwang der Begeisterung lehnte Schiller mit den bescheidenen Worten ab, die gleichwohl der charakteristischen Wahrheit nicht entbehren: „Das lyrische Fach, das Du mir anweist, sehe ich eher für ein Exilium als für eine eroberte Provinz an. Es ist das kleinlichste und undankbarste von allem. Zuweilen ein Gedicht lasse ich mir gefallen, wiewohl mich die Zeit und Mühe, die mich ,Die Künstler' gekostet haben, auf viele Jahre davon abschrecken. Mit dem Dramatischen will ich es noch auf mehrere Versuche ankommen lassen. Aber mit Goethe messe ich mich nicht, wenn er seine ganze Kraft anwenden will. Er hat weit mehr Genie als ich, und dabei weit mehr Reichtum an Kenntnissen, eine sichere Sinnlichkeit und zu allem diesem einen durch Kunstkenntnis aller Art geläuterten und verfeinerten Geschmack, was mir in einem Grade, der ganz und gar bis zur Unwissenheit geht, mangelt. Hätte ich nicht einige andere Talente, und hätte ich nicht so viel Feinheit gehabt, diese Talente und Fertigkeiten ins Gebiet des Dramas herüberzuziehen, so würde ich in diesem Fache gar nicht neben ihm sichtbar geworden sein. Aber ich habe mir eigentlich ein eigenes Drama nach meinem Talente gebildet, welches mir eine gewisse Excellence darin gibt, eben weil es mein eigen ist." So viel wahre Erkenntnis in diesen Sätzen liegt, so haben sie ihren Verfasser doch nicht gehindert, einen Weg zu beschreiten, auf dem er immer hinter Goethe zurückbleiben musste, eben den Weg der Antike.

Gerade zur Zeit, wo Schiller sie schrieb, beschäftigte er sich mit dem Gedanken „eines epischen Gedichtes im achtzehnten Jahrhundert", das zwar ein ganz anderes sein müsse als eins in der Kindheit der Welt, aber doch das Jahrhundert so widerspiegeln solle, wie in der Iliade alle Zweige der griechischen Kultur anschaulich lebten. Der Held sollte nach einer gelegentlichen Anregung Körners der alte Fritz sein, und Schiller schreckte im Interesse der „Klassizität" nicht davor zurück, eine „Maschinerie" zu erfinden, die in einem so prosaischen Zeitalter die größte Schwierigkeit zu haben scheine, aber das Interesse in hohem Grade erhöhen könne, wenn sie dem modernen Geiste angepasst würde. „Es rollen allerlei Ideen darüber in meinem Kopfe trüb durcheinander, aber es wird sich noch etwas Helles daraus bilden." Glücklicherweise ist das nicht geschehen; Schiller gab den Plan auf, nachdem er ihn immerhin ein paar Jahre erwogen hatte; er konnte den alten Fritz nicht liebgewinnen, die Riesenarbeit der Idealisierung lohnte sich ihm an diesem Charakter nicht. Merkwürdig nur, dass ihm, da in dieser Frideriziade auch Voltaire als freier Denker „vorzüglich in Glorie gestellt" werden sollte, nicht sofort Lessings warnendes Wort einfiel: Gott verzeih' in Gnade ihm seine Henriade!

Ihre unerfreulichste Seite zeigt die antikisierende Richtung Schillers in zwei Rezensionen, die er in der „Jenaer Literaturzeitung" veröffentlichte, die eine im September 1788 über Goethes „Egmont", die andere im Januar 1791 über Bürgers Gedichte. Nicht als ob beide Rezensionen nicht manches Richtige und auch Gerechte enthielten, aber gerade das Geniale verkennt Schiller im Banne einer einseitigen und ihm selbst nicht kongenialen Kunstanschauung. Egmont stolziert ihm in Goethes Schauspiel nicht genug als tragischer Held einher; Schiller tadelt, dass der Dichter ihm eine Menschlichkeit über die andere beilege, um ihn zu uns herabzuziehen; er beklagt, dass Goethe seinem Helden die rechtmäßige Gemahlin und elf legitime Kinder genommen habe, dass er „uns um das rührende Bild eines Vaters, eines liebenden Gemahls bringt, um uns einen Liebhaber von ganz gewöhnlichem Schlage dafür zu geben, der die Ruhe eines liebenswürdigen Mädchens, das ihn nie besitzen und noch weniger seinen Verlust überleben wird, zugrunde richtet, dessen Herz er nicht einmal besitzen kann, ohne eine Liebe, die glücklich hätte werden können, vorher zu zerstören, der also, mit dem besten Herzen zwar, zwei Geschöpfe unglücklich macht, um die sinnenden Runzeln von seiner Stirn wegzubaden". Es ist das erste, aber leider nicht das letzte Mal, wo Schillers erhabenes Ideal in plattes Philistertum umschlägt.

Goethe nahm die Kritik gelassen hin; um so schwerer wurde der arme Bürger getroffen, dem Schillers ungerechtes Urteil herbes Leid angetan hat. Gegen Bürger verfährt Schiller überaus kleinlich; er verschmäht sogar nicht den Tadel unechter Reime, obgleich sein eigenes Konto in diesem Punkte viel schwerer belastet war als das Konto Bürgers; zur Zeit, wo er selbst in aller Gemütlichkeit „blühn" und „dahin" reimte, hält er sich darüber auf, dass Bürger einmal „blähn" und „schön" gereimt habe. Seine Forderung, dass der Lyriker niemals aus der Empfindung heraus dichten dürfe, die ihn beseele, weil diese Empfindung sonst „unausbleiblich von ihrer idealischen Allgemeinheit zu einer unvollkommenen Individualität herabsinke", verwüstet die Gärten der lyrischen Dichtung in wahrhaft vandalischer Weise und erklärt sich an Schiller nur dadurch, dass ihm mit dem Talent auch das Verständnis für die Lyrik der Goethe und Bürger fehlte. So misst er die Gedichte Bürgers an dem Maßstabe seiner „Idealisierkunst" und findet sie alle mehr oder minder unvollkommen, aber statt den Fehler an seinem ungehörigen Maßstabe zu suchen, versteigt er sich zu der die Grenzen einer literarischen Kritik ungebührlich überschreitenden Behauptung, dass den Produkten Bürgers nur deshalb die letzte Hand fehlen müsse, weil sie dem Dichter selbst fehle.

Leider besaß Bürger, den diese Kritik in allem Unglück seiner letzten Lebensjahre traf, nicht freien Humor genug, sie nach Verdienst abzuweisen. Er verteidigte sich nicht eben geschickt, und äußerlich mochte Schiller als Sieger aus dem Streite hervorgehen. Aber Unrecht hat er deshalb nicht weniger an Bürger getan, und es gereicht ihm auch keineswegs zur Entschuldigung, dass er, wie gesagt worden ist, in Bürgers Gedichten seine eigene Jugendlyrik habe verurteilen wollen, die vor seinem durch die Antike „gereinigten" Geschmack nicht mehr bestanden hätte. Wenn er das wollte, so mochte er gleich vor der eigenen Tür kehren, zumal da seine Jugendlyrik zwar Bürgers Manier nachgeahmt, aber nichts von Bürgers Genie verraten hatte.

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