Philosophische Dichtungen

Philosophische Dichtungen

Der erste und alles in allem auch hauptsächlichste Gewinn, den Schiller aus Goethes Freundschaft zog, war sein wiedererwachendes Selbstvertrauen auf seinen dichterischen Beruf; nachdem seine Muse lange Jahre geschwiegen hatte, durfte er im Jahre 1795 mit einem Goethischen Worte sagen, dass sich ihm ein Quell gedrängter Lieder ununterbrochen neu gebar.

Doch hatte Goethe an dieser neuen Lyrik Schillers zunächst keinen oder doch nur einen mittelbaren Anteil. Ihr eigentlicher Geburtshelfer war Wilhelm v. Humboldt, der, um acht Jahre jünger als Schiller, dadurch in dessen Kreise gekommen war, dass er eine Freundin der Schwestern Lengefeld geheiratet hatte, Karoline v. Dacheröden, die einzige bedeutende Frau aus diesem thüringischen Kleinadel. Humboldt lebte einige Jahre in Jena, ehe er große Reisen ins Ausland antrat, war aber im Jahre 1795 durch eine Krankheit seiner Mutter nach seinem Familiengute Tegel bei Berlin zurückgerufen worden und stand von da aus im regsten Briefwechsel mit Schiller. Ein ungemein angeregter und vielseitiger, aber schwer und selbst schwerfällig produzierender Geist, angeekelt von dem geistlosen und rohen Mechanismus des damaligen Staats, den er zudem in der preußischen Fasson aus praktischer Erfahrung kannte, an griechischem Geiste geschult und gleichermaßen ästhetischen wie spekulativen Studien hingegeben, verehrte er in Schiller nicht den Philosophen, der dichtet, oder den Dichter, der philosophiert, sondern den Genius, in dem beide so verschiedene Richtungen aus einer Quelle entsprangen, der beide besaß, aber auch schlechterdings nicht eine allein besitzen konnte.

In der Tat war Schiller, wie nur im Drama ein großer Historiker, so nur in der Lyrik ein großer Philosoph. Seine ästhetischen Abhandlungen, so reich sie im Einzelnen an Gedanken sind, zeigen doch nur den Schüler Kants, der sich, nicht immer mit Erfolg, den Meister fortzubilden bemühte. Dagegen tritt Schiller in seinen philosophischen Dichtungen seinem philosophischen Meister selbständig gegenüber. In der „Kritik der reinen Vernunft" hatte Kant den falschen Schein einer transzendenten (über die Erfahrung hinausgehenden) Vernunft zerstört, in der „Kritik der praktischen Vernunft" aber eine nicht auf Erfahrung gegründete Ideenwelt entwickelt und nicht nur ihr Recht aufs Dasein verteidigt, sondern auch die ganze empirische Erkenntnis der Welt den sittlichen Ideen untergeordnet und wahre Wissenschaftlichkeit nur da angenommen, wo unsere ganze Auffassung der Dinge dergestalt wissenschaftlich geordnet sei, dass der Zweck unseres Daseins, also das sittliche Prinzip, den Bau des Systems bestimme. Kant war, wie der bedeutendste Neukantianer, Albert Lange, mit Recht sagt, scheinbar nur Kritiker und begründete doch eine Spekulation, die nicht nur unwandelbare und schlechthin notwendige ethische Ideen dichtete, sondern auch noch den Anspruch erhob, das gesamte Wissen nach diesen Ideen zu ordnen. Dabei waren diese Ideen selbst nur ein kleinbürgerlicher Aufguss uralter Theologie, und Kant pries sogar seine Vernunftkritik den Regierungen als das sicherste Mittel an, das Volk in der Unvernunft zu erhalten, so dass es gegen Atheismus und Materialismus und freigeisterischen Aberglauben immun werde, ja selbst nicht einmal durch Philosophen- und Pfaffengezänk argwöhnisch gemacht werden könne.

Hier nun verhält sich Schillers philosophische Poesie zu Kants philosophischer Prosa wie das Neue zum Alten Testamente. Schiller selbst legt diesen Vergleich nahe durch den Brief, den er am 17. August 1795 an Goethe richtete, zur selben Zeit, wo er sein berühmtestes philosophisches Gedicht, „Das Reich der Schatten", das er später in „Das Ideal und das Leben" umtaufte, eben vollendet hatte. Er sagt in diesem Briefe: „Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben scheinen mir bloß deshalb so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Charakterzug des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes, des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also, in seiner reinen Form, Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion." Und genau in diesem Sinne lehnte Schiller die Kantischen Imperative, die mosaischen zehn Gebote ab, um an ihre Stelle die freie Neigung zu setzen, womit sich der Mensch ästhetisch erlöst.

In der Welt der Kunst, in den „heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen", lebt jenes Reich des Ideals, in das sich der Mensch aus dem „engen, dumpfen Leben" flüchten muss, um der „Angst des Irdischen" zu entgehen. Dieser Grundgedanke kehrt in den philosophischen Dichtungen Schillers immer wieder, im „Reiche der Schatten", in der „Macht des Gesanges", im „Tanze", in der „Teilung der Erde", im „Pegasus im Joche" und wie vielen anderen noch. In der Welt der Schönheit herrscht die Freiheit der Gedanken, schwinden die Fesseln des Gesetzes, sinken die Schranken der Sinne: in ihr ist die einzige Erlösung von allem schweren Sklavendasein, das den Menschen in den Staub drückt,


Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,

Flammend sich vom Menschen scheidet

Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.

Froh des neuen ungewohnten Schwebens,

Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens

Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.

Des Olympos Harmonien empfangen

Den Verklärten in Kronions Saal,

Und die Göttin mit den Rosenwangen

Reicht ihm lächelnd den Pokal.


Eine zergliedernde Analyse von Schillers philosophischen Dichtungen verbietet sich nicht nur an dieser Stelle aus äußeren Gründen, sondern im gewissen Sinne überhaupt. Humboldt sagt mit Recht, dass Schillers philosophische Poesie die Idee erzeuge und nicht bloß mit einem dichterischen Schmuck umkleide; die dem Leser sich darbietende Idee liege jenseits einer Kluft, über die der Verstand keine Brücke zu schlagen, die nur die dichterisch begeisterte Einbildungskraft zu überspringen vermöge. Und deshalb mischt Hebbel sehr Falsches mit sehr Wahrem untereinander, wenn er – um den Unterschied von Genie und Talent zu kennzeichnen – vom Genie sagt, dass in ihm immer etwas durchaus Neues, streng an ein bestimmtes Individuum Geknüpftes liege, jedoch hinzufügt, dass der mittelmäßigste Poet, der die Abendröte besinge oder ein Sonett auf einen Maikäfer mache, es zu einem Gedichte, wie dem „Spaziergange" Schillers, bringen würde, wenn seine Kraft millionenfach verstärkt würde, aber dass Schiller nie den „Fischer" oder den „Erlkönig" Goethes hätte erzeugen können. Genau die Definition des Genies, die Hebbel gibt, hat Goethe an Schillers philosophischen Gedichten, unter denen „Der Spaziergang" in erster Reihe steht, mit den Worten erläutert: „Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es lässt sich sagen, dass er sowenig in der deutschen als in einer anderen Literatur seinesgleichen hat." Und so schrieb auch August Wilhelm Schlegel, der in Kunstfragen mitreden durfte: „So oft ich das Reich der Schatten seit vorgestern schon las, so kehrt doch jedesmal der Eindruck von etwas Einzigem und, wenn es nicht vorhanden wäre, Unglaublichem zurück."

Aber wie Schiller nur als Dichter ein großer Philosoph war, so bieten seine philosophischen Gedichte nur einen ästhetischen Genuss. Das Neue Testament ist ein großer Fortschritt über das Alte hinaus, aber es ist auch noch Religion, ganz im Sinne Schillers, der sich aus Religion zu keiner der Religionen bekennen wollte. Die ästhetische Erlösung hebt den Dualismus nicht auf, sondern setzt ihn auch immer nur erst voraus. In ein Jenseits braucht sich nur zu retten, wer sich im Diesseits nicht helfen kann; nur von dem Hintergrunde einer hoffnungslosen Wirklichkeit hob sich Schillers Idealismus erhaben ab, und er wurde so unheimlich, wie nur irgendein religiöses Gespenst, als das wirkliche Leben aufhörte, hoffnungslos zu sein. Schiller selbst hat noch den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen getan, als er zum Antritt des neunzehnten Jahrhunderts, zur Zeit, wo „zwo gewaltige Nationen rangen um der Welt alleinigen Besitz", den deutschen Philister ermahnte:


In des Herzens heilig stille Räume

Musst du fliehen aus des Lebens Drang

Freiheit ist nur in dem Reich der Träume

Und das Schöne blüht nur im Gesang.


Ungleich ärger noch klang das „Lied von der Glocke", wo die Französische Revolution zur höheren Ehre des deutschen Spießbürgertums mit hässlichen Schmähungen überhäuft wurde.

Gegen Ende seines Lebens ist Schiller aber selbst noch zu der Erkenntnis gelangt, dass er in seinem Idealismus einem Trugbilde nachgewandert sei. In dem letzten seiner philosophischen Gedichte schildert er, wie er in des Lebens Lenze das Vaterhaus verlassen, all sein Erbteil, seine Habe fröhlich glaubend hingeworfen habe:


Denn mich trieb ein mächtig Hoffen

Und ein dunkles Glaubenswort:

Wandle, riefs, der Weg ist offen,

Immer nach dem Aufgang fort.


Bis zu einer goldnen Pforten

Du gelangst, da gehst du ein,

Denn das Irdische wird dorten

Himmlisch, unvergänglich sein.


Abend wards und wurde Morgen,

Nimmer, nimmer stand ich still;

Aber immer bliebs verborgen,

Was ich suche, was ich will.


Berge lagen mir im Wege,

Ströme hemmten meinen Fuß,

Über Schlünde baut' ich Stege,

Brücken durch den wilden Fluss.


Und zu eines Stroms Gestaden

Kam ich, der nach Morgen floss;

Froh vertrauend seinem Faden,

Werf ich mich in seinen Schoß.


Hin zu einem großen Meere

Trieb mich seiner Wellen Spiel;

Vor mir liegts in weiter Leere,

Näher bin ich nicht dem Ziel.


Ach, kein Steg will dahin führen,

Ach, der Himmel über mir

Will die Erde nie berühren

Und das Dort ist niemals hier.


Dies Gedicht stammt aus dem Jahre 1803, aber in der reichen Ernte, die das Jahr 1795 an philosophischen Dichtungen brachte, findet sich auch eins, das weder von bangen Zweifeln noch von trügerischen Hoffnungen beirrt wird. Unter allen diesen Gedichten Schillers wurde es von Humboldt am tiefsten, aber von Goethe am höchsten gestellt. Es beklagt die zerronnenen Ideale der Jugend, aber es baut sich kein Reich des Ideals in die Wolken: woran es sich in einem persönlichsten Bekenntnis tapfer hält, sagt es in seinen Schlussteilen:


Beschäftigung, die nie ermattet,

Die langsam schafft, doch nie zerstört,

Die zu dem Bau der Ewigkeiten

Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,

Doch von der großen Schuld der Zeiten

Minuten, Tage, Jahre streicht.


Über den Dichter und den Philosophen hinweg hat sich der Mensch Schiller zum Evangelium der Arbeit bekannt, die ihm, durch alle Erdenplagen hindurch, die nur je einen Sterblichen bedrängt haben, das Leben geweiht hat bis zum letzten Atemzuge.

Kommentare