Tod und Nachruhm

Tod und Nachruhm

Am 9. Mai 1805 starb Schiller. Der Tod kam ihm als ein Erlöser; nach der Aussage der Ärzte hätte sein Lebensfaden nur um den Preis furchtbarer Leiden noch kurze Zeit fortgesponnen werden können.

Und nun erfüllte sich an ihm sein prophetisches Wort:


Denn das irdische Leben flieht,

Und die Toten dauern immer.


Der Ruhm, den er als das höchste der irdischen Güter gepriesen hatte, kränzte sein Grab mit unvergänglichen Lorbeeren, und derweil sein Leib in Staub zerfiel, lebte sein großer Name fort. Schiller wurde der gefeierte Lieblingsdichter der Nation, obgleich niemand besser wusste als Schiller selbst, dass er nicht ihr größter Dichter war.

Hebbel hat sogar die Tatsache auf die Schwächen Schillers zurückgeführt, die dem deutschen Nationalcharakter als Vorzüge erschienen seien. Dieser Charakter liebe das Unbestimmt-Verschwimmende, das eines sein und doch daneben etwas anderes scheinen wolle, und deshalb sei Schiller, der nie etwas ganz Exklusives, etwas durchaus nur Poetisches biete, sein Lieblingsdichter. „Wenn Schiller z. B. als dramatischer Dichter, statt seiner bekannten Vorliebe, einen unbesiegbaren Widerwillen gegen alles Sentenzenwesen gehabt und hinreichendes Gestaltungsvermögen besessen hätte, um den Ausfall, der dadurch in der Ökonomie seiner Stücke entstanden wäre, zu decken: was würde, seiner Nation gegenüber, die Folge davon gewesen sein? So gewiss er dann vor dem höchsten Forum der Ästhetik ganz anders bestehen würde wie jetzt, ebenso gewiss würde er drei Vierteile seines großen Publikums verloren haben, denn der Deutsche kann und will nun einmal in den Charakteren eines Dramas nicht eine Art von höherem Alphabet erblicken, aus dem er sich das Lösungswort selbst zusammensetzen soll; ihm ist eine Figur, der kein Zettel aus dem Munde hängt, sogleich eine rätselhafte, und er wird nie befriedigt, wenn der Poet sich herausnimmt, die Kunst befriedigen zu wollen. Das geht aber im Lyrischen ebenso; ein Bild ohne Unterschrift ist ihm ein Bild ohne Sinn; deshalb zieht er alles Reflektierende vor, und Körner erwies sich nur als echter Deutscher, wenn er in den ,Künstlern' so lange, bis das ,Lied von der Glocke' kam, die Krone aller Lyrik erblickte." Man wird diesem Urteil eine gewisse Bitterkeit anmerken, die aus Hebbels eigenen Erfahrungen stammt, und ebenso aus den Erfahrungen Kleists, auf den Hebbel auch in seinen weiteren Ausführungen anspielt. Zu sagen, dass Schiller gerade deshalb seinen großen Ruf erworben habe, weil er als Dramatiker kräftiger und nachdrücklicher zum Volke gesprochen habe als die Lessing, Herder und Goethe, hieße übersehen, dass die großen Dramatiker der deutschen Literatur, die mit Schiller in gleicher Reihe stehen und ihm als Dramatiker sogar in manchem überlegen gewesen sein mögen, Kleist und Hebbel, lange ungebührlich im Schatten gestanden haben und selbst heute noch nicht zu ihrem Rechte gekommen sind.

Etwas Wahres liegt aber dennoch in der Beweisführung Hebbels. Der Dichter wird immer leichter das Ohr der Massen finden als der Denker und der Forscher, aber der Ruhm des Dichters, der reiner Künstler ist, wird immer mehr in der Zeit als im Raume wachsen. Hieraus erklärt sich der Vorsprung Schillers, sowohl vor den Lessing und Herder als auch vor den Goethe und Hebbel. Nicht als ob die Lessing und Herder nicht auch bis zu einem gewissen Grade Dichter oder die Goethe und Hebbel nicht auch bis zu einem gewissen Grade Denker gewesen wären, aber die Mischung der Elemente war in keinem so gleichmäßig abgewogen wie in Schiller. Dies ist der tatsächliche Kern von Hebbels „Unbestimmt-Verschwimmendem", und was er den „deutschen Nationalcharakter" nennt, war in Wirklichkeit die bürgerliche Klasse in Deutschland, die Bourgeoisie und namentlich auch das Kleinbürgertum. Sie hob den Dichter, in dem sie alles gefunden zu haben glaubte, was ihr Herz bewegte, als ihren Vorkämpfer auf den Schild.

In dem sie alles gefunden zu haben glaubte oder vielmehr, in den sie alles hineinlegte, was ihr Herz bewegte. Denn die Ideen bilden nicht die Interessen, sondern die Interessen bilden die Ideen um. Hier nun kam der Sentenzenreichtum Schillers zu dem Einfluss, den ihm Hebbel zuschreibt, zumal da nach dem bedenklichen Prinzip verfahren wurde, den Dramatiker für das verantwortlich zu machen, was er eine dramatische Person sagen lässt. Und dies bedenkliche Prinzip wurde um so unbedenklicher gehandhabt, als sich die bürgerliche Klasse um die persönlichen Lebensumstände ihres Lieblingsdichters nach seinem Tode so wenig kümmerte wie während seines Lebens. Allzu spät, um das Jahr 1830, veröffentlichten selbst Goethe und Humboldt ihre Briefwechsel mit Schiller, und diese Briefwechsel zeigten ihn wesentlich nur von der ästhetischen Seite. Zu gleicher Zeit erschien die erste Biographie Schillers, verfasst von seiner Schwägerin Karoline v. Wolzogen, die als Witwe eines Weimarischen Oberhofmeisters den Dichter als blassen Schemen darstellte, der mit irdischen Dingen eigentlich nur durch seine Heirat und die dankbare Ehrfurcht verbunden war, die er vor Karl Eugen und Karl August gehegt haben sollte. Der Briefwechsel Schillers mit Körner, die wichtigste Quelle zu seiner Biographie, erschien wenig vor dem Jahre 1848, und auch diese Quelle begann erst nach der stürmischen Zeit von Schillers Jugenddramen zu sprudeln.

So wurde Schiller der liberale, der nationale, der ideale Dichter von Gnaden der bürgerlichen Klasse und im Sinne ihrer Tendenzen. Ihrem engbrüstigen Liberalismus kam es schmeichelnd entgegen, dass Schiller die bürgerliche Revolution bekämpft und selbst geschmäht hatte, hierin kurzsichtiger als manche seiner Zeitgenossen, als Klopstock und Herder, als Kant und Fichte; über seine Jugenddramen, die Schiller selbst in späteren Jahren ungünstig beurteilt hatte oder haben sollte, ging man als über unreife Stilübungen zur Tagesordnung; „Kabale und Liebe" wurde von dem liberalen Literarhistoriker Gervinus kaum weniger heruntergerissen als von Vilmar, dem gehorsamen Trabanten der hessischen Menschenschacherdynastie. Für das mächtige Freiheitspathos aber, das gleichwohl durch Schillers Dramen glühte, von den „Räubern" bis zu „Wilhelm Tell", suchte man sich den ästhetisch und historisch misslungensten Vertreter aus, jenen flachen Phrasenhelden Posa, den Schiller selbst, kaum dass er ihn geschaffen hatte, nur mit Missbehagen betrachten konnte.

Mit noch größerer Vergewaltigung der historischen Tatsachen wurde Schiller zum Herold des nationalen Einheitsgedankens gemacht. Die bürgerliche Klasse gab damit eine klassische Probe ihres gänzlichen Mangels an Selbstvertrauen. Denn unzweifelhaft waren die bürgerlich-nationalen Einheitskämpfe des neunzehnten Jahrhunderts ein historischer Fortschritt gegen das wurzellose Weltbürgertum der bürgerlichen Aufklärung, das im achtzehnten Jahrhundert geherrscht hatte. Aber daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, dass Schiller diesem Weltbürgertum, so wie es nun einmal war, gehuldigt hatte. Er kannte das „Vaterland" als schwäbischen Kanton, aber sonst wollte er der „Zeitgenosse aller Zeiten" sein, und über den Beruf gerade der Deutschen, eine Nation zu bilden, dachte er so wie Goethe:


Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche vergebens;

Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.


Allein Schiller musste nun einmal zum Propheten der nationalen Einheit gemacht werden, und so verstümmelte man die Worte, die er einem mittelalterlichen Feudalherrn in den Mund gelegt hatte, über die Nichtswürdigkeit der Nation, die nicht ihr alles freudig an ihre Ehre setze, oder man stellte sich an, als ob ein anderer mittelalterlicher Feudalherr nicht die schweizerischen Urkantone, sondern eine moderne Nation gemeint hatte, als er sagte:


Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an,

Das halte fest mit deinem ganzen Herzen,

Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.


Am ärgsten aber war der Unfug, den der deutsche Bürgersmann mit Schillers ästhetisch-philosophischem Idealismus getrieben hat. So wie Schiller diesen Idealismus meinte, war er schon zu seinen Lebzeiten das Geheimnis eines sehr engen Kreises gewesen; nach seinem Tode aber wurde er in gänzlichem Missverständnis eine Stütze für alle Halbheit und Zaghaftigkeit der deutschen Spießbürgerei. Er rammte den Philister in all seiner Philisterei fest und zeitigte namentlich das blöde Vorurteil, womit wir uns noch täglich herumzuschlagen haben, nämlich dass der philosophische Idealismus der Glaube an sittliche Ziele sei, der philosophische Materialismus aber Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, so dass jeder wackere Staatsbürger, der einige Brocken von Schillers „idealen" Gedichten aufgeschnappt hat, sich über Männer wie Darwin und Haeckel, Feuerbach und Marx erhaben dünkt. Der Kantische Dualismus bewährte sich auch in der verfeinerten Form, die Schiller ihm gegeben hatte, nicht als eine Überwindung des christlichen Dualismus, sondern als seine Fortsetzung oder genauer als seine Übersetzung aus dem Feudalen ins Bürgerliche. In der Auslegung, die ihm die Bourgeoisie gab, sagte er den Armen nicht mehr, wie der orthodoxe Pfaffe, dass ein leibhaftiger Gott im Himmel throne, der ihn in einem jenseitigen Leben für alle Leiden dieser unvollkommenen Welt trösten werde, aber er sagte, dass der Arme nur ins „Reich der Schatten", ins „Reich des Ideals" zu fliehen brauche, um aller irdischen Not enthoben zu sein. In seinem berühmtesten philosophischen Gedichte hatte Schiller gesungen:


Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden

Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl…

Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen,

Frei sein in des Todes Reichen,

Brechet nicht von seines Gartens Frucht.

An dem Scheine mag der Blick sich weiden,

Des Genusses wandelbare Freuden

Rächet schleunig der Begierde Flucht.


Die deutsche Bourgeoisie aber wandelte diese schönen Strophen in jene abgeschmackte Prosa um, womit sich der kapitalistische Ausbeuter hinter den „Seelenfrieden" der Arbeiter verschanzt, wenn sie ihr „Sinnenglück" durch eine Erhöhung des Arbeitslohnes oder eine Verkürzung der Arbeitszeit fördern wollen.

Man darf den ästhetisch-philosophischen Idealismus Schillers nicht mit dem historisch-philosophischen Idealismus Fichtes und Hegels verwechseln. Schiller flüchtete aus dem engen dumpfen Leben in das Reich der Kunst, während Fichte im kühnen Sturme der Gedanken dies Leben aus aller Dumpfheit und Enge befreien wollte; Fichte verkündete frank und frei den Atheismus, das Recht auf Revolution, die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, eben die Gleichheit, die Schiller nur im Reiche des ästhetischen Scheines gelten lassen wollte. Und so auch flüchtete Hegel nicht aus seiner Zeit, sondern erfasste sie in Gedanken und eroberte mit seiner historischen Dialektik ungezählte Provinzen des Geistes. Schiller spottete über Fichte als einen „Weltverbesserer", aber um so gründlicher und treffender kritisierte der große Idealist Hegel den Idealismus Schillers. Am ärgsten grassierte dieser Idealismus, verzerrt wie er von den bürgerlichen Liberalen war, in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als sich die Wolken des Märzgewitters zu sammeln begannen. Damals schrieb Karl Marx zornig, Schillers Flucht in das Reich des Ideals vertausche nur die gemeine Misere mit der überschwänglichen, und aus diesen Tagen datierte die Abneigung, die unverkennbar hervortritt, wenn Marx und Engels einmal auf Schiller zu sprechen kommen.

Es ist unsinnig, zu behaupten, dass Schillers Geist die Märzkämpfer des Jahres 1848 beseelt habe; die einfachste Wahrheitsliebe verbietet, ihn als Schwurzeugen für eine bürgerliche Revolution anzurufen. Er hat diese Revolution gesehen, aber nicht verstanden. Sie ist ihm ein Gräuel geworden, sobald sie mit ehernen Sandalen einherzuschreiten begann. Es waren die Hallen der Paulskirche, wo im Jahre 1848, wenn nicht der Geist, so doch der Schatten Schillers umging, und diesen Schatten hat die bürgerliche Klasse in Deutschland dann noch einmal beschworen, zehn Jahre später, als sie sich von der Niederlage ihrer Revolution erholt hatte und einen neuen Gang mit der absolutistisch-feudalen Reaktion versuchte. Das große Schillerfest am 10. November 1859, zum hundertsten Geburtstage des Dichters, sah den bürgerlichen Schillerkultus in seinem hellsten Glanze, aber es sah ihn auch zum letzten Mal; seitdem die Revolution von oben und von unten zugleich über das deutsche Bürgertum hereinbrach, ließ es den Mohren gehen, der seine Arbeit getan hatte.

Aber deshalb sind die Lorbeeren auf Schillers Grabe nicht verwelkt.

Nicht nur die Bourgeoisie hat einen Anspruch an ihn, sondern ebenso das Proletariat. Die Arbeiterklasse war noch ein Teil der bürgerlichen Klasse, als Schiller arbeitete und kämpfte. Sie macht sich aus ihm kein Götzenbild, um eigensüchtigen Interessen zu frönen; sie kann ihn nicht mehr als einen unfehlbaren Lehrer und Wegweiser betrachten; sie wandelt andere Wege, als er gewandelt ist. Aber was ihr von seinem Erbe gebührt, das hält sie in unantastbaren Ehren. Immer wird sein Ruf gegen die Tyrannen durch ihre Reihen schallen; immer wird der Dichter der „Räuber" und der „Luise Millerin", des „Wallenstein" und des „Tell" ihren Herzen teuer sein; immer wird sie in bewundernder Dankbarkeit auf dies Leben der Arbeit, des Kampfes und des Leidens blicken, das ein stolzer Wille aufrechterhielt, bis der letzte Funke von körperlicher Kraft erloschen war.

Durch das babylonische Sprachgewirr, das in den herrschenden Klassen zum hundertsten Todestage Schillers lärmt, hört die Arbeiterklasse klar und rein den Grundton seines dichterischen Schaffens im Gelingen und auch im Verfehlen: die Hoheit der Gesinnung, die sich siegreich erhebt über alle Sklaverei.

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