Franz Mehring 19050508 Schiller und die Arbeiter

Franz Mehring: Schiller und die Arbeiter

8. Mai 1905

[ungezeichnet. Leipziger Volkszeitung Nr. 104, 8. Mai 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 275-278]

Am Vorabend der Schlacht bei Jena, die den friderizianischen Preußen ein ebenso verdientes wie ruhmloses Ende bereitete – im nächsten Jahre werden wir ihren Säkulartag feiern –, wetzten die Berliner Gardeleutnants, sozusagen die Creme des ostelbischen Junkertums, ihre Degen auf den Steinstufen, die zum Hotel des französischen Gesandten hinaufführten, und sangen dazu das Reiterlied aus „Wallensteins Lager".

Auf der einen Seite ist diese Tatsache überaus charakteristisch für die überragende Dichtergröße Schillers; konnte er einst eine verkommene und verrottete Klasse begeistern, die längst in dem Grabe der Schande verwest, das ihr die Geschichte geschaufelt hat, so begeistert er heute noch das deutsche Proletariat, die revolutionärste aller modernen Klassen. Auf der andern Seite zieht jedoch die Erinnerung an den taumelnden Rausch, den Schillers Pathos einst in den Jammerhelden von Jena entzündete, der proletarischen Begeisterung für Schiller eine bestimmte Grenze.

Eine bestimmte Grenze nicht in dem Sinne, als ob der moderne Arbeiter sich für Schiller nur bis zu einem gewissen Grade begeistern dürfe; sowenig sich die Begeisterung für lange Jahre einpökeln lässt, sowenig lässt sie sich literweise abmessen. Die Grenze liegt nicht in dem Wie oder Wie viel, sondern in dem Was und Bis wohin. Die Bourgeoisie feiert den ganzen Schiller, wie er leibte und lebte; sie nimmt unbesehen seine sämtlichen Werke in ihr geistiges Inventar auf; sie verhimmelt gleichermaßen das Große und das Kleine an ihm und beweist eben dadurch, dass sie jede innere Beziehung zu ihm verloren hat. Denn wenn sie wirklich noch seines Geistes einen Hauch spürte, so würde sie lebhaft empfinden, dass sie in einer völlig andern Welt lebt, als in der Schiller lebte, dass sie die Dinge mit ganz anderen Augen nicht nur ansieht, sondern auch ansehen muss, als er sie angesehen hat.

In einen gleichen Fehler kann die Arbeiterklasse nicht verfallen, nicht weil sie um so viel genauere und reichere Hilfsmittel zum Studium Schillers besäße als die Bourgeoisie – vielmehr steht sie ihr in dieser Beziehung unendlich nach –, sondern weil sie noch eine innere Beziehung zu Schiller hat. Wenn Goethe gesagt hat, der Gedanke der Freiheit sei in Schillers ganzem Leben und Schaffen lebendig, so ist es dieser Gedanke, der den Dichter der „Räuber" und des „Tell" der Bourgeoisie ebenso entfremdet hat, wie er die Arbeiterklasse immer wieder zu ihm heranzieht. Daraus ergibt sich aber zugleich, dass die Bourgeoisie – da sie sich nun einmal für Schiller begeistern muss und will, um den Schein zu erwecken, als kenne sie noch höhere Interessen als die praktisch-nüchterne Geldmacherei – Schillers Freiheitsidee möglichst ins Unbestimmt-Verschwimmende verwischen muss, während die Arbeiterklasse gerade diese Freiheitsidee so konkret wie möglich zu erfassen bestrebt ist, wobei sie dann eben auf eine bestimmte Schranke stößt.

Um noch einmal an die historische Reminiszenz anzuknüpfen, womit wir diese Zeilen eröffneten, so darf kein Arbeiter, der sich für Schiller begeistert, auch nur einen Augenblick vergessen, dass Schiller starb, noch ehe die Schlacht bei Jena geschlagen war, oder, mit andern Worten, dass seit Schillers Tod die deutsche Welt von Grund aus umgestaltet worden ist. Eine ganz andre Welt, als wir sehen, stand vor Schillers Augen, als er seine unsterblichen Werke schuf, die jedoch niemals den Rang unsterblicher Werke erreicht haben würden, wenn sie nicht tief und unlöslich eben in ihrer Zeit gewurzelt hätten. Gerade dies meinte Schiller selbst, als er sagte:


Denn wer den Besten seiner Zeit genug

Getan, der hat gelebt für alle Zeiten.


Um diesen ganzen Zusammenhang noch an einem Beispiele zu erläutern, so wählen wir den Idealismus Schillers, den die Bourgeoisie für ihr Leben gern dem „rohen Materialismus" des klassenbewussten Proletariats aufschwatzen möchte. Die Voraussetzung von Schillers Idealismus war der unversöhnliche Widerspruch zwischen dem Guten und dem Wirklichen, zwischen einem menschenwürdigen Dasein der Massen und der unheilbaren Verrottung, die in dem Deutschland seiner Zeit bestand; eine Versöhnung dieses Widerspruches fand Schiller, wenn auch nur für einen kleinen Kreis auserlesener Geister, im Reiche der Kunst oder der gleichbedeutenden Begriffe, unter denen er sie darstellte: des Scheins, der Gestalt, der Form, des Bildes, des Gesanges. Das war für Schillers Zeit, der jede praktische Möglichkeit auch nur des bürgerlichen Klassenkampfes fehlte, eine bedeutsame und in ihrer Art großartige Anschauung, aus der die edelsten und erhabensten Früchte unsrer klassischen Literatur erwachsen sind. Aber diese Anschauung brach zusammen oder wirkte doch unheilvoll, soweit sie künstlich aufrechterhalten wurde, von dem Augenblick an, wo ein bürgerlicher Klassenkampf in Deutschland möglich wurde. Nun gar seitdem der proletarische Klassenkampf entbrannt ist, der, im schroffsten Gegensatz zu dem Schillerschen Idealismus, von der Voraussetzung ausgeht, dass durchaus kein unversöhnlicher Widerspruch zwischen dem Guten und dem Wirklichen, zwischen dem menschenwürdigen Dasein der Massen und dem Zwange der gesellschaftlichen Einrichtungen besteht, sondern dass dieser Widerspruch durch die Beseitigung aller herrschenden und unterdrückenden Klassen alsbald aufgehoben sein würde, seitdem ist der Idealismus Schillers nur eine wertlose Scherbe, an der sich der proletarische Klassenkampf wohl die Finger zerschneiden, aber in der sich niemals seine eigentümliche Größe widerspiegeln kann.

Man sage nicht, dass eine Herabsetzung Schillers darin liege, wenn die moderne Arbeiterklasse sein geistiges Erbe nur mit kritischem Vorbehalt antritt. Im Gegenteil! Sie erweist dem Genius die höchste und würdigste Ehre, wenn sie an ihm trennt, was noch lebendig und was schon abgestorben ist. Despotischer Größenwahn mag sich an der unmenschlichen Vorstellung ergötzen, dass sein Ruhm in Ewigkeit dauere, wenn alles so bleibe, wie es von ihm dekretiert und reglementiert worden sei. Große Denker und Dichter aber huldigen einem schöneren Ehrgeize. Ihre Werke sollen nur eine Stufe auf dem Vollendungsgange der Menschheit sein, und je schneller die Menschheit auf dieser Stufe zu höheren Zielen emporsteigt, um so herrlicher sehen sie die Arbeit ihres Lebens gekrönt. Schiller selbst, wenn er heute sprechen könnte, würde sein Dasein für verloren erklären, wenn die deutsche Welt seit seinem Tode nicht unendlich vorwärtsgekommen wäre.

In diesem Sinne dürfen auch die modernen Arbeiter von Schiller sagen: Denn er war unser! Sie ehren ihn, wie es seiner und ihrer würdig ist, indem sie ihn aus seiner Zeit heraus begreifen. Ihn an unsrer Zeit zu messen hieße ihm Unrecht tun oder unsrer Zeit. Schafft man hier oder da eine scheinbar vollkommene Harmonie, so klaffen an hundert andern Stellen um so tiefere Risse.

Freilich um Schiller und Schillers Lebenswerk historisch zu begreifen, dazu bedarf es ernsten Lernens und Nachdenkens. Aber das ist eine genussreiche Arbeit, der moderne Proletarier ihre Mußestunden nicht fruchtlos opfern werden. Denn wenn sie, um über die Bourgeoisie zu siegen, ihr auch geistig überlegen sein müssen, so gibt es für sie kein Bildungsmittel, das sie so reich und schnell fördern kann wie unsre klassische Literatur.

Für die Bourgeoisie wird das Gedächtnis Schillers nach dem eitlen Klingklang einiger Wochen wieder verrauscht sein; für die Arbeiterklasse aber wird es – so hoffen und wünschen wir – dauern, im Geiste des klassischen Wortes:


Was du ererbt von deinen Vätern hast,

Erwirb es, um es zu besitzen.

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