Franz Mehring 19050425 Schiller und die Gegenwart

Franz Mehring: Schiller und die Gegenwart

25. April 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 129-132. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 279-283]

Vor etwa dreißig Jahren erschien eine Übersicht über die Schillerliteratur in Deutschland, die nicht weniger als 67 Gesamtausgaben und 323 Einzelausgaben von Schillers Werken sowie 711 Schriften über den Dichter verzeichnete. Seitdem ist diese Literatur ins Ungemessene angeschwollen, wie eben jetzt wieder, zum hundertsten Todestag des Dichters, eine wahre Meereswoge von Schillerschriften über den deutschen Büchermarkt hereinbricht. Rechnet man dazu, wie unzählige Male über Schiller gehandelt worden ist, in Erscheinungen der periodischen und nichtperiodischen Literatur, die sich nicht ausschließlich mit ihm beschäftigten, so sollte man meinen, nichts müsse leichter sein, als mit wenigen Worten zu sagen, wie es historisch um Schiller bestellt gewesen sei.

Gleichwohl ist diese Meinung durchaus hinfällig. Schon ein flüchtiger Blick in die gegenwärtig wie Pilze aus dem Boden schießenden Schriften über Schiller offenbart einen Sprachenwirrwarr wie einst beim Turmbau zu Babel. Es ist auch kein Zufall, dass es bei aller tropischen Überfülle der Schillerliteratur noch immer an einer leidlichen Biographie des Dichters fehlt, dass die drei großen Anläufe, die in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Brahm, Minor und Weltrich zu diesem Ziele gemacht wurden, in der Mitte oder gar schon im Anfang steckengeblieben sind. Und dabei hat man alle Vorarbeiten für eine abschließende Biographie Schillers längst erledigt. Seine Werke sind mit der berühmten „philologischen Akribie" durchackert und wieder durchackert worden; keine Scholle ihres Erdreichs, die nicht drei-, die nicht zehnmal umgepflügt worden wäre, um jedem Fäserchen darin nachzuspüren, sei es nun des Krauts oder Unkrauts. Ebenso steht es mit dem Briefwechsel des Dichters bis auf die gleichgültigsten Zettel herab, und wie sein Geistesleben bis zu den trivialsten Erläuterungen klargestellt worden ist, so bietet sein einfacher Lebenslauf keine Rätsel irgendwelcher Art, zumal da auch in dieser Beziehung bis zur überflüssigsten Kleinkrämerei herab für das nötige Licht gesorgt worden ist.

Wo steckt denn nun eigentlich die Schwierigkeit, Schillers historische Erscheinung zu begreifen? Sie steckt in dem Walle der Tradition, womit sich die bürgerliche Klasse die Gestalt des Dichters verbaut hat. Ähnlich wie um Lessing hat sich auch um Schiller eine ganze Legende gewoben, wenn auch in einer anderen Tendenz; wie Lessing in unserer klassischen Literatur die historische Mission der Hohenzollern, so soll Schiller in ihr die historische Mission des deutschen Bürgertums versinnbildlichen. Von diesem Standpunkt aus ist alles Mögliche und Unmögliche in Schiller hineingelegt worden, wovon seine arme Seele nicht einmal etwas geahnt, geschweige denn gewusst hat. Und wenn es auch ungerecht sein würde zu sagen, dass diese Legende von vornherein in trügerischer Absicht herangezüchtet worden sei, so ist es doch nur richtig zu sagen, dass, wer als wissenschaftlicher Forscher an Schiller herantreten will, zunächst einmal mit der Legende über Schiller aufräumen muss. Das geht aber über bürgerliche Kraft, und es ist schon ein Kompliment für die ernsteren Literarhistoriker, dass sie sich nicht erst an die heikle Aufgabe wagen oder verstimmt abbrechen, sobald ihre historische Gewissenhaftigkeit in einen unlöslichen Konflikt mit ihren bürgerlichen Vorurteilen gerät. Nur die fingerfertigen Lieferanten der gerade fälligen literarischen Marktware schreiben ohne alle Skrupel ihre Bücher und ihre Büchlein über Schiller, die denn auch danach sind.

So ist es durchaus nicht übertrieben, wenn die deutschen Arbeiterblätter von einem „bürgerlichen Schillerrummel" sprechen. Sogar in die bürgerliche Presse dringt diese Auffassung ein, wenigstens in diejenigen ihrer Organe, die an ihrem Teile bestrebt sind, aus dem gegenwärtigen Schillertrubel mehr als ein bloßes Jahrmarktergötzen zu machen. Die „Frankfurter Zeitung" hat schon wiederholt darüber geklagt, so erhebend und schön wie die Schillerfeier von 1859 werde die Schillerfeier von 1905 nicht werden. Da hat sie freilich recht, aber wer hat sie auch geheißen, Feigen vom Distelstrauche zu ernten? Die Schillerfeier von 1859 beruhte ebenfalls auf der Schillerlegende; das deutsche Bürgertum feierte nicht den Schiller, der historisch-wirklich gewesen war, sondern den Schiller, den es sich für seine Bedürfnisse zurechtgemacht hatte, nicht den Schiller, der den Deutschen den Beruf abgesprochen hatte, jemals eine moderne Nation zu bilden, sondern den Schiller, der angeblich der Herold der deutschen Einheit im Sinne einer modernen Nation gewesen sein sollte. Aber diese Legende selbst hatte damals noch historische Kraft; sie war keine Lüge und keine Phrase; vielmehr war sie wenn auch von keinem starken Willen gezeugt, so doch von einer großen Sehnsucht geboren, und so vermochte sie wirkliche Begeisterung zu entzünden, nicht sowohl eine Begeisterung für Schiller als eine Begeisterung in Schiller. Aber wie kann heute von solchen Dingen überhaupt nur gesprochen werden? Was kann Schiller noch bedeuten für die Bourgeoisie, die ihre ästhetischen, politischen und sozialen Ideale längst an den baren Profit aufgelassen hat? Oder was kann er für das Kleinbürgertum bedeuten, das, vom großen Kapital unrettbar zerstampft, in mittelalterlichen Luftspiegelungen vom Schlage der Zunft sein illusorisches Heil erblickt? Wenn diese Klassen heute mit Schillers Namen krebsen, so ist es im schlimmeren Falle eine Lüge und im besseren Falle eine Phrase.

Anders steht die Arbeiterklasse zu Schiller. Frei von den bürgerlichen Vorurteilen, sieht sie ihn in der Zeit, worin er wirklich gelebt hat; indem sie die historische Bedingtheit seines geistigen Schaffens erkennt, weiß sie eben dadurch seine historische Größe zu würdigen. Sie kann niemals einen Kultus auch nur mit Schillers Geiste treiben, wie ihn die deutsche Bourgeoisie mit Schillers Namen getrieben hat; sie braucht für ihre großen Ziele keine Schwurzeugen aus der Vergangenheit, auch nicht aus der klassischen Literatur, selbst wenn sie nicht schon durch ihren historischen Instinkt davor bewahrt wäre, in der wunderlichen Weise der bürgerlichen Halbschlächtigkeit die Zeiten durcheinanderzuwerfen. Aber eine tiefe Sympathie verbindet sie mit diesem Dichter, dessen mächtiges Freiheitspathos erst in ihren gewaltigen Kämpfen das historische Echo gefunden hat, dessen heldenhaftes Arbeiten und Kämpfen und Leiden ihn immer einer Klasse teuer machen muss, deren Leben auch aus Arbeiten und Kämpfen und Leiden besteht, dessen ernstes Schicksal sie um so tiefer bewegt, als sie mitten in allem Elend doch schon des „Sieges hohe Sicherheit" empfinden darf, die Schiller nur erst in den Wolken einer idealen Welt finden konnte.

Es ist eine kleinliche und dabei auch von völligem Missverständnis des historischen Materialismus zeugende Auffassung, zu sagen, dass Schiller durch die höfische Umgebung, worin er als Mann gelebt habe, sozusagen entrevolutioniert worden sei. Gewiss hat dies höfische Milieu bis zu einem gewissen Grade auf Schiller abgefärbt, wie sich selbst der größte und stärkste Mensch nie völlig dem Einfluss seiner Umwelt zu entziehen vermag, aber nicht diese kleinen Flecken sind das Charakteristische an Schiller, sondern umgekehrt die Hoheit der Gesinnung, die er der unglaublichen Enge der Verhältnisse abzutrotzen wusste, in denen er lebte. Viel feiner und tiefer sagt Albert Lange: „In Schillers ganzem Wesen lag jener Zwiespalt sehr tief, der das achtzehnte Jahrhundert so mächtig bewegte und an welchem nur wenige glückliche Naturen, wie Goethe, fast ahnungslos vorübergingen. Wie in seinem Naturell eine feurig zum Idealen emporstrebende Natur mit einer mächtigen Sinnlichkeit kämpfte, so führte ihm sein Bildungsgang tiefe, gewiss nie völlig geschwundene Eindrücke einer kindlichen Frömmigkeit zu, die bald mit seinem scharfen Verstande in Kampf geraten musste." Damit ist treffend die Zwiespältigkeit der bürgerlichen Aufklärung gekennzeichnet, an der Goethe fast ahnungslos vorüberging, nicht weil er eine glückliche Natur, sondern weil er eine Künstler- und keine Kampfnatur war.

Schiller aber stand unter den großen Kampfnaturen der bürgerlichen Aufklärung in vorderster Reihe. Das erste Zeugnis, das urkundlich über sein persönliches Wesen überliefert worden ist, betont gerade diesen Punkt; Kraftäußerung vor allem habe ihn begeistert, schrieb sein Jugendfreund Scharffenstein, und wenn Schiller kein großer Dichter geworden wäre, so hätte er nur ein großer Mensch im aktiven öffentlichen Leben werden können. Sein ganzes Dichten und Trachten zeigt, dass er das wirkende Leben über das betrachtende erhob, das Tun dem Erkennen, die Tat, – wie es im „Fiesco" heißt, der Kunst und dem Scheine vorzog. Und so sagte schon vor siebzig Jahren der bürgerliche Literarhistoriker Gervinus mit Recht: „Nur da die wirkliche Welt gar zu steil vor den Gesinnungen des Jünglings dalag, ward er auf die Dichtung und das Reich der Ideale zurückgewiesen. Aber auch da nahm er den Stoff fast immer aus der wirklichen, handelnden Geschichte her und schien es richtig für des Dichters höchsten Beruf zu halten, Taten zu besingen, wie er umgekehrt des Dichters Preis die schönste Krone der Taten nannte." Das ist wieder viel klarer und verständiger als die Auffassung, die materialistisch sein soll, aber tatsächlich nur naiv ist, wonach Schiller durch die höfische Umgebung von Weimar aus einem stolzen Revolutionär ein zahmer Philosoph geworden sei.

Der Dualismus, die Zwiespältigkeit der bürgerlichen Aufklärung war untrennbar von ihr und konnte selbst von ihren stärksten Kämpfern nicht überwunden werden; immer danach ringend, das wirkliche Leben über das betrachtende zu erheben, wurden sie immer wieder dazu gezwungen, das wirkliche dem betrachtenden Leben unterzuordnen. So auch setzte der Jüngling Schiller die Tat vor die Kunst und den Schein, während der Mann Schiller die Kunst und den Schein der Tat vorziehen musste. Er hat seine Welt des Ideals, die heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen, mit aller dichterischen Kunst geschmückt, über die er verfügte, und als Werk des Genius bleibt sie der Menschheit unverloren; wer sie rein ästhetisch genießen will – was immer nur die Sache weniger gewesen ist und sein konnte –, der wird einen seltenen Genuss haben. Aber als Weltanschauung hat sie für die moderne Arbeiterklasse nur den Wert einer blinkenden Glasperle, denn diese Klasse braucht sich kein Reich in die Wolken zu bauen, da sie ihr Reich auf der festen Erde gründen kann und gründet.

Dies ist der große Vorbehalt, den die moderne Arbeiterbewegung gegen alle bürgerliche Aufklärung zu machen hat, und somit auch gegen den größten Dichter dieser Aufklärung. Denn wenn wir heute kaum noch begreifen, wie jemals ernsthaft darüber gestritten werden konnte, ob Goethe oder Schiller der größere Dichter gewesen sei, so darf man doch mit gutem Fuge sagen, dass unter den großen Gestalten der bürgerlichen Aufklärung, und nicht nur in Deutschland, keine mit dichterischen Gaben so reich gesegnet gewesen sei wie Schiller. Weder höchste noch reine Kunst findet sich in seinen dichterischen Werken, und die herbe Kritik, die einst die romantische und dann die naturalistische Schule an seinem Dichterberuf übte, focht ästhetisch nicht eben mit ganz stumpfen Waffen. Aber immer wieder sank die Schale zugunsten Schillers, zumal in der Arbeiterklasse, die sich zu ihrem Glücke ihren Geschmack noch nicht von den starren Formen einer mehr oder minder einseitigen Ästhetik regeln zu lassen braucht.

Solange sie mitten in dem heißen Kampfe um der Menschheit große Gegenstände steht, wird sie gern die tönende Stimme dieses Kämpfers hören, der aus seinem tapferen Herzen den unversieglichen Mut schöpfte, alle Plagen einer geknechteten Welt zu überwinden.

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