Franz Mehring 19050501 Schiller und die großen Sozialisten

Franz Mehring: Schiller und die großen Sozialisten

1. Mai 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 153-156. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 271-274]

Beim Schillertag drängt sich unwillkürlich auch die Frage nach dem Einfluss auf, den Schiller auf Marx, Engels und Lassalle gehabt hat. Es lässt sich nicht viel darüber sagen, denn Marx und Engels sind immer nur beiläufig und Lassalle ist nicht viel häufiger auf Schiller zu sprechen gekommen. Ein Unterschied macht sich dabei insofern geltend, als sich in Lassalles gelegentlichen Äußerungen über Schiller eine lebhafte Sympathie für diesen kundgibt, von der bei Marx und Engels eher das Gegenteil zu spüren ist.

Gleichwohl bestehen hier tiefere Zusammenhänge, die ein gewisses historisches Interesse besitzen. Sagen, dass Marx und Engels von Schiller nicht viel hätten wissen wollen, weil Schiller „Idealist" gewesen sei, hieße vom „Idealismus" in jenem verschwommenen Sinne sprechen, den nicht sowohl Schiller selbst als Schillers bürgerliche Ausleger aufgebracht haben. Von Fichte und Hegel, die „Idealisten" in der kühnsten Bedeutung des Wortes waren, haben Marx und Engels stets mit größter Hochachtung gesprochen und sich gern als ihre Schüler bekannt. Idealismus und Idealismus können je nachdem ganz verschiedene und unter Umständen ganz entgegengesetzte Anschauungen bedeuten.

So auch unterscheiden sich der Idealismus Schillers und der Idealismus Fichtes, was niemand klarer erkannte als Schiller und Fichte selbst, zur Zeit, wo sie – im letzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts – in Jena zusammenlebten. Schiller schrieb damals an Fichte (bei einem Streite, den sie wegen der Aufnahme eines von Fichte verfassten Manuskriptes in die „Horen" hatten): „Wären wir bloß in Prinzipien geteilt, so hätte ich Vertrauen genug in unsere beiderseitige Wahrheitsliebe und Kapazität, um zu hoffen, dass der eine den anderen endlich auf seine Seite neigen würde; aber wir empfinden verschieden, wir sind verschiedene, höchst verschiedene Naturen, und dagegen weiß ich keinen Rat." In ähnlicher Weise, nur noch schroffer, ließ sich Schiller in seinen Briefen an Goethe über Fichte aus, den er einmal „die reichste Quelle von Absurditäten" nannte und den er auch öffentlich als „Weltverbesserer" verspottete.

Damit kommen wir auf den entscheidenden Punkt. Schillers ästhetisch-philosophischer Idealismus bestand in der Flucht aus dem erbärmlichen wirklichen Leben ins Reich der Kunst, während Fichte von dieser Resignation nichts wissen wollte, weshalb ihn Schiller eine „unästhetische" Natur schalt. Fichte wollte vielmehr die Erbärmlichkeit des wirklichen Lebens durch das willenskräftige Ich in eine menschenwürdige Wirklichkeit umschaffen. Es ist leicht einzusehen, einerseits wie weit dieser historisch-philosophische Idealismus vom Idealismus Schillers entfernt, ja ihm geradezu entgegengesetzt war, andererseits wie sehr der Idealismus Schillers, immerhin in ganz missverstandener und verzerrter Form, das Ideal des deutschen Philisters werden musste, der sei' Ruh' haben wollte, während die Fichte und Hegel wie die Kraniche über die Köpfe des deutschen Bürgers flogen, bis sie in Marx und Engels die schöpferischen Umbildner ihres Idealismus fanden.

Unter diesem Gesichtspunkt begreift man denn aber auch sofort, weshalb Marx einmal sagt, Schillers Flucht ins Ideal sei nur die Vertauschung der gemeinen Misere mit der überschwänglichen, oder Engels ein andermal die Verketzerung des philosophischen Materialismus so erklärt, dass der Philister davon nur soviel verstehe, als er an einigen Bildungsbrocken aus Schillers Gedichten aufgeschnappt habe. Marx und Engels hatten gerade in ihren kräftigsten Entwicklungsjahren mit dem Popanz zu kämpfen, den die deutsche Spießbürgerei aus dem Idealismus Schillers gemacht hatte, und ihr Unwille darüber war um so größer, als leichte und leichtfertige Feuilletontalentchen vom Schlage der Karl Grün den missverstandenen Idealismus Schillers mit dem missverstandenen Idealismus Fichtes und Hegels in ein unglaubliches Sammelsurium zusammenkoppelten. Gegen solche belletristische Seichtbeuteleien hatten Marx und Engels immer einen unbändigen Zorn; sie sahen darin eine verhängnisvolle Verwüstung der Arbeiterbewegung, und gewiss mit vollstem Rechte; es wäre nur zu wünschen, dass ihr Zorn heute noch, in der Arbeiterbewegung der Gegenwart, ebenso lebendig wäre.

In diesem Zusammenhang ist nun freilich Schiller selbst bei Marx und Engels zu kurz gekommen. Sie haben sich nie die Mühe genommen, zu unterscheiden oder wenigstens öffentlich hervorzuheben, dass der Idealismus, so wie ihn Schiller meinte, für seine Zeit doch etwas anderes war als der Idealismus, den sich die deutschen Spießer, namentlich in den Jahren von 1815 bis 1848, für ihre Zeit aus Schillers Gedichten zurecht brauten. Marx und Engels wurden sofort misstrauisch, sobald sich der deutsche Bürgersmann für Schiller zu begeistern begann. Selbst die Franzosenhetze im Frühjahr des Jahres 1859 erschien ihnen in günstigerem Lichte als die Schillerfeier im Herbste desselben Jahres. Sie „war wirklich national", schrieb Engels, „viel nationaler als alle Schillerfeste von Archangelsk bis San Franzisco; sie entstand naturwüchsig, instinktiv, unmittelbar."1 Das ist aber unrichtig; von den beiden bürgerlichen Emotionen des Jahres 1859 war die Schillerfeier unzweifelhaft die naturwüchsigere. Lassalle erklärte sie ganz richtig aus dem Fichteschen Wort, dass die Literatur erst das einzige einigende Band der Nation, sei. „In der geistigen Einheit seiner Literatur ist es, wo unser Volk die Bürgschaft seiner eigenen Geisteseinheit und somit das fröhliche Unterpfand seiner nationalen Auferstehung sieht."

Lassalle war nicht minder als Marx und Engels ein Schüler Fichtes und Hegels. Er hat zu Schillers Idealismus keine nähere, aber eine unbefangenere Stellung. Gegen die bürgerliche Verzerrung dieses Idealismus wendet er sich ebenso wie Marx und Engels, aber er tut das, was diese beiden in dem Eifer einer viel drängenderen Notwendigkeit und eines viel heißeren Kampfes unterlassen haben: Er unterscheidet zwischen Schiller und dessen bürgerlichen Interpreten. Karl Grün war eben in den vierziger Jahren viel gefährlicher als Julian Schmidt in den fünfziger Jahren. In seinem Pamphlet gegen diese Helden der bürgerlichen Literarhistorie gibt Lassalle eine schöne und durchaus treffende Charakteristik des Schillerschen Idealismus. Er kommt dann noch – während er im allgemeinen die Versündigungen Julians an Schiller durch seinen Mitarbeiter Bucher abstrafen lässt – auf einen anderen Punkt von allgemeinem Interesse zu sprechen, auf die Frage nach dem Maße von Schillers Bildung.

Sie ist oft sehr wegwerfend beurteilt worden, und gewiss hatte sie manche Lücken infolge des Verbrechens, das der Herzog Karl Eugen von Württemberg an dem Knaben Schiller beging, indem er ihn auf acht Jahre in die Karlsschule sperrte, Lücken, die Schiller auch durch das angestrengteste Studium späterer Jahre nicht mehr ausfüllen konnte. Es war nun aber rein lächerlich, wenn ein Julian Schmidt sich deshalb aufs hohe Pferd gegenüber einem Schiller setzte und den unglaublichen Galimathias von sich gab: „Aus einem unendlich kleinen Vorrat des Stoffes hatte Schiller eine sehr vielseitige Weltanschauung gewonnen, die selbst die Fürstin zuweilen durch ihre geniale Wahrheit überraschte. Daher seine langsame Entwicklung, daher aber auch sein fester Glaube an die Gewalt des Geistes, dem die Wirklichkeit Untertan sei."

Indem Lassalle diesen blühenden Unsinn zergliederte, fällte er über Schillers Bildung das bemerkenswerte und im ganzen gewiss zutreffende Urteil, dass der Verfasser „Wallensteins" und des „Dreißigjährigen Krieges", der Übersetzer des Euripides und der Kenner der antiken Tragödie, die er in seiner „Braut von Messina" wiederzubeleben suche, der gründliche Forscher der Schweizergeschichte, die er in seinem „Tell" so meisterhaft gestalte, und der Verfasser der „Briefe über die ästhetische Erziehung" einen achtungswerten und ausgedehnten Wissenshorizont gehabt habe, der nur hier und da etwas tiefer hätte sein können. Lassalle hat aber nicht bemerkt, dass Julian Schmidt sein sinnloses Gerede noch dazu in sinnlosester Weise abgeschrieben hat, nämlich aus folgenden Sätzen Wilhelm v. Humboldts über Schiller: „Es ist merkwürdig, aus welchem kleinen Vorrat des Stoffes Schiller eine sehr vielseitige Weltansicht gewann, die, wo man sie gewahr wurde, durch genialische Wahrheit überraschte; denn man kann die nicht anders nennen, die durchaus auf keinem äußerlichen Wege entstanden war. Selbst von Deutschland hatte er nur einen Teil gesehen, nie die Schweiz, von der sein ,Tell' doch so lebendige Schilderungen enthält." Man vergleiche diese Sätze Humboldts mit dem, was Julian Schmidt daraus gemacht hat, und man beantworte dann die Frage, ob es je einen ruchloseren Schmierer gegeben hat als den wackeren Julian und wie sehr die mitleidigen Seelen auf dem richtigen Wege sind, die dies unschuldige Opfer des bösen Lassalle heute noch bemitleiden.

Das Beispiel ist aber auch charakteristisch für die Art, wie der Idealismus Schillers, zu dessen tiefsten Kennern Wilhelm v. Humboldt gehörte, für das Verständnis der bürgerlichen Welt zurechtgemacht worden ist. Er wurde in die blödeste Wortmacherei versponnen und hat an seinem Teile dazu beigetragen, den bürgerlichen Klassenkampf in Deutschland zu entnerven. Marx und Engels mussten ihn bekämpfen, wenn sie der großen Aufgabe ihres Lebens gerecht werden wollten; ist Schiller selbst dabei nicht zu seinem Rechte gekommen, so war das – auch in Schillers eigenem Sinne – ungleich leichter zu ertragen als eine geistige Verseuchung der Massen mit belletristischen Salbadereien im Stile der Karl Grün, die ja in dem einen Sinne unsterblich sind, dass sie nie aussterben.

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