Franz Mehring 19050508 Schiller

Franz Mehring: Schiller

8. Mai 1905

[gez.: fm, Leipziger Volkszeitung, Nr. 104, 8. Mai 1905. Sonderbeilage: Zu Schillers Gedächtnis. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 617-627]

Das Leben des großen Dichters, dessen hundertster Todestag am 9. Mai dieses Jahres wiederkehrt, spielt sich verhältnismäßig einfach ab. Die erste Hälfte, seine Kindheits- und Jünglingsjahre, hat Schiller im südlichen Deutschland verlebt, in Schwaben und in der Pfalz. Dann kam er auf ein paar Jahre nach Kursachsen, nach Leipzig und Gohlis, nach Dresden und Loschwitz. Endlich siedelte er, im Alter von 28 Jahren, nach Weimar über, wo er, abwechselnd mit Jena, den Rest seines Lebens verbracht hat. Er hat wenig von der Welt gesehen, niemals das Gebirge und das Meer, nicht mehr als einige Striche des mittleren und südlichen Deutschlands; selbst nach Norddeutschland ist er nur flüchtig gekommen, auf einen Abstecher nach Berlin, den er kurz vor seinem Tode machte.

Somit hat es keinen besonderen Wert, chronologisch die Ereignisse seines Lebens aufzuzählen. Es sind Zahlen, die man behalten kann, ohne deshalb mehr, oder die man auch vergessen darf, ohne deshalb weniger von Schiller zu wissen. Selbst die Frauenliebe, die im Leben so vieler Dichter einen so bedeutenden Raum einnimmt, spielt in Schillers Leben keine namhafte Rolle. Er ist mehr als einmal verliebt gewesen und hat sich mehr als einmal mit Heiratsplänen getragen, aber das lief bei ihm nur nebenher. Die Frau, die er endlich gewann, war sowenig durch Geist ausgezeichnet wie durch Schönheit; sie war ihm nur eine bequeme Gefährtin, und mehr wollte er auch nicht, dass sie ihm sei. Er hatte einmal die Würde der Frauen in einem Gedichte besungen, das um seiner klingenden und schwingenden Verse willen viel zitiert wird, jedoch bei genauerer Prüfung auch nur ergibt, dass Schiller nicht groß von den Frauen dachte und auch nicht tief für sie empfand. Das gleiche bestätigen seine dramatischen Frauencharaktere, mit sehr wenigen Ausnahmen, zu denen die Jungfrau von Orleans am wenigsten gehört, obgleich er sie mit dem Herzen geschaffen haben wollte.

Höher als die Liebe stand ihm die Freundschaft. Sie hat einen beträchtlichen, ja entscheidenden Anteil an seinem Geistesleben. Wir können uns nicht vorstellen, wie dies Leben verlaufen wäre ohne einige Freunde, die Schiller gewann. In seiner Jugend zwar stand er wie ein Herrscher unter seinen Kameraden, und er war es, der ihre Neigungen bestimmte; die rührend treue Anhänglichkeit, die ihm Andreas Streicher bewies, kennen unsere Leser aus dessen eigenem Berichte. Aber in seinen Mannesjahren hat Schiller starke und tiefe Anregungen von seinen Freunden erhalten, namentlich von dreien, von Christian Gottfried Körner, von Wilhelm von Humboldt und von Johann Wolfgang Goethe. In seinen Briefwechseln mit diesen drei Männern ist – nächst und neben seinen Werken – sein geistiges Leben erhalten.

Wie die meisten unsrer Klassiker, stammte Schiller aus Handwerkerkreisen.

Doch hatte sich sein Vater schon dem engen Banne der kleinbürgerlich-verzopften Welt entzogen und war auf mancherlei Irrfahrten zum Range eines württembergischen Hauptmanns gelangt. Vom Vater hat Schiller viel überkommen, freilich nicht die charakteristische Hässlichkeit seiner Jugend, die vielmehr von der Mutter stammte, aber die energische Tatkraft, die ihn immer beseelt hat, mit einer kleinen Neigung selbst zum abenteuerlichen Pläneschmieden. Denn Schiller ist niemals der sentimentale Wolkenwandler gewesen, als den ihn eine absichtlich entstellende oder mindestens übelberatene Geschichtsschreibung oft hingestellt hat; er empfand stets einen starken Drang, ins öffentliche Leben einzugreifen, und verschmähte selbst kleine Künste nicht, wo es darauf ankam, wichtige Zwecke zu erreichen,

Gemildert wurde diese praktische Energie allerdings durch eine spekulative Anlage, die sich beim Vater noch ganz in den herkömmlichen Gleisen frommen Kirchenglaubens bewegte, beim Sohne sich aber zur unversieglichen Lust am Philosophieren entwickelte. Beides jedoch kam gleichmäßig auf seine Rechnung, indem der Knabe Schiller sich zum Studium der Theologie entschloss. Denn die protestantische Geistlichkeit war in Württemberg nicht, wie in andern deutschen Ländern, die gehorsame Dienerin des Herzogs oder der Junker, sondern eine Macht für sich, und ein württembergischer Prälat stellte schon etwas in der Welt vor. So ist die Wahl des Berufs weder dem Vater noch dem Sohne zur Qual geworden; sie waren darin ganz einig und empfanden es gleich bitter, als der Herzog Karl Eugen von Württemberg mit einem Gewaltstreiche dazwischenfuhr. Er presste den jungen Schiller für seine Karlsschule, ein Institut, das er gegründet hatte, um sich willenlose Sklaven seiner sultanischen Launen zu erziehen, und in diesem öden Kerker hat Schiller seine Jugend vertrauern müssen, vom dreizehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahre. Er lebte hier, hermetisch abgeschlossen von der Außenwelt, jeder harmlosen Jugendfreude beraubt, selbst ganz von seiner Familie getrennt, in widerlichen Spektakelstücken dazu gemissbraucht, das Weihrauchfass vor dem Despoten und dessen Mätresse zu schwingen, und in aller dieser quälenden Last selbst der Möglichkeit beraubt, das Maß wissenschaftlicher Bildung zu erwerben, das er sich auf der Landesuniversität Tübingen hätte erwerben können. Da die Karlsschule keine theologische Fakultät besaß, hatte sich Schiller das medizinische Studium erwählt, an dem ihn die philosophische Seite, der Zusammenhang der geistigen und der tierischen Natur im Menschen, zumeist interessiert zu haben scheint.

In dieser achtjährigen Sklaverei hat sich nun aber das dichterische, in erster Reihe das dramatische Talent Schillers entwickelt. In den „Räubern", die er in seinem zwanzigsten Jahre schrieb, bäumt sich ein revolutionärer Geist gegen unwürdige Fesseln auf. Man kann dem Drama hundert Fehler nachweisen, und die Idee, eine verrottete Gesellschaft durch eine Räuberbande in den böhmischen Wäldern zu bekämpfen, mag uns heute selbst ein Lächeln abgewinnen, aber wer die flammen- und funkensprühende Dichtung liest, wird immer von ihr ergriffen und erschüttert werden. In seiner künstlerischen Entwicklung hat Schiller seinen großen Erstling weit hinter sich gelassen, aber in so kraftstrotzender Unmittelbarkeit hat sich sein dichterischer Genius vielleicht nie wieder offenbart. Es war so wie sein Biograph Carlyle schrieb: „Bis jetzt hatte Schiller als ein nichtsnutziger, unzufriedener und ungehorsamer Knabe gegolten; jetzt aber war die Zeit da, wo die Bande der Schuldisziplin die riesige Kraft seiner Natur nicht mehr zu fesseln vermochten; er trat auf als Mann und sprengte seine Ketten mit einer Gewalt, die bis an die äußersten Grenzen von Europa empfunden ward." Das ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, aber im Wesen der Sache doch nicht unwahr. In Deutschland wurde das Werk mit außerordentlichem Enthusiasmus aufgenommen; Übersetzungen erschienen in fast allen europäischen Sprachen, und noch zehn Jahre später trug es dem Dichter das Ehrenbürgerrecht der französischen Republik ein.

Für seine eigenen Lebensschicksale wurde es entscheidend. Nachdem Schiller die Karlsschule verlassen hatte, war er vom Herzog als Regimentsmedikus in ein verachtetes Infanterieregiment untergesteckt worden, mit einer jämmerlichen Besoldung. Unmöglich konnte der junge Feuerkopf in dieser tragikomischen Stellung ausdauern. Es musste zum Bruche zwischen ihm und dem Herzog kommen, und wie es zum Bruche kam, wissen unsere Leser aus der Erzählung Andreas Streichers. Eben daher kennen sie auch die Flüchtlingszeit Schillers bis zu seiner Übersiedlung nach Leipzig. In diese Zeit fallen seine andern Jugenddramen, „Fiesco" und „Luise Millerin", die auf den Rat des bekannten Schauspielers Iffland in „Kabale und Liebe" umgetauft wurde. Im „Fiesco" wagte sich der junge Dichter an einen historisch-politischen Stoff, dem seine Kraft noch nicht gewachsen war; mit den „Räubern" kann sich dies „republikanische Trauerspiel" nicht messen. Doch aus dem Qualm geschmacklosen Schwulstes, der manche Szene verdunkelt, bricht das Freiheitspathos Schillers oft wie eine leuchtende Flamme empor; nicht minder häufig zeigt sich im Keime die Begabung des geborenen Dramatikers für historische Massenaktionen, und auch einzelne klassische Gestalten hat Schiller im „Fiesco" geschaffen, vor allen den Mohren Muley Hassan, der in der Galerie der dramatischen Weltliteratur stets einen Ehrenplatz behaupten wird. Weit über dies „republikanische Trauerspiel" erhebt sich das „Trauerspiel", das im Geiste des Dichters zur Zeit seiner tiefsten Bedrängnis in den Stuttgarter Tagen aufgestiegen war. Es ist seine poetische Abrechnung mit dem elenden Despotismus, der ihm seine Jugend verwüstet hatte. Dies Drama steht ebenbürtig neben den „Räubern", ja über ihnen, denn wenn sie ihm an gewaltig fortreißender Wucht einzelner Szenen überlegen sein mögen, so hat Schiller in „Kabale und Liebe" mit fester Hand dramatisch zu gestalten gewusst, was er in seinem ersten Drama manches mal doch nur erst in langen Monologen auszuströmen gewusst hatte. „Kabale und Liebe" spielt nicht mehr in der ungewissen Region der böhmischen Wälder, sondern steht mitten in der deutschen und besonders in der schwäbischen Gegenwart. Lange Zeit von den bürgerlichen Kritikern, den liberalen ebenso wie den konservativen, als ein unwürdiges Spektakelstück verworfen, hat es sich längst ästhetisch und historisch sein Recht als die Krone der bürgerlichen Dramatik in Deutschland erkämpft, und es ist nicht bloß ein zeitliches Zusammentreffen, dass die Wiedergeburt dieses revolutionären Trauerspiels in dieselben Jahre fiel, wo die deutsche Arbeiterbewegung auch bürgerlichen Kreisen ihre sieghafte Kraft zu erweisen begann.

Der Aufenthalt Schillers in Leipzig und Dresden hat wenig über zwei Jahre gewährt, und diese Jahre waren nicht reich an dichterischen Früchten. Aber sie bildeten einen Wendepunkt in seinem Leben. Schiller war des Joches ledig, das bis dahin seine Schultern wund gescheuert hatte, und wenn ihm nun der Antrieb fehlte, der alles, was in seiner Natur von energischer Tatkraft lag, zu revolutionärem Kampfe gestachelt hatte, so regten sich seine spekulativen Anlagen um so kräftiger, und er wurde sich klar darüber, wie viel ihm noch fehlte, um die Bildung seiner Zeit zu beherrschen.

Was ihn zunächst nach Leipzig geführt hatte, war die helle Bewunderung, die ihm zwei Brautpaare entgegengebracht hatten, die dort lebten: die Schwestern Dora und Minna Stock, von denen die ältere, Dora, mit dem Schriftsteller Ludwig Huber, die jüngere, Minna, mit dem Konsistorialrat Körner verlobt war. Körner war der Sohn eines Leipziger Professors; er stammte aus einem wohlhabenden Patrizierhause, hatte vielseitige Studien getrieben und weite Reisen gemacht; nur drei Jahre älter als Schiller, war er ihm an gründlicher Welterfahrung doch weit überlegen. Er ist von nun an zwanzig Jahre lang der treueste Freund Schillers gewesen, hat ihm manchen schweren Stein aus dem Lebenswege geräumt, ihn immer aufs treueste und fast immer auch aufs einsichtigste beraten, nicht zum wenigsten in ästhetischen Fragen, in denen Körner wohlbeschlagen war, wenn ihm selbst auch die Fähigkeit eigenen Produzierens so gut wie ganz versagt blieb.

Zur Messzeit, im Frühjahr 1785, traf Schiller in Leipzig ein; mit dem neugewonnenen Freunde Huber bezog er eine bescheidene Studentenstube im kleinen Joachimstal, nahe dem Markte. Gern und viel verkehrte et in „Richters Kaffeehaus", einem prächtigen, palastartigen Gebäude am Brühl, wo er das bunte Messgewühl beobachtete und als berühmter Schriftsteller von mittelmäßigen Skribenten angegafft wurde, die sich „einiger vollgeklexter Bogen wegen zu Kollegen aufwarfen"; viel Staat war mit den damaligen literarischen Größen Leipzigs nicht zu machen. Nach wenigen Wochen siedelte Schiller aber schon nach Gohlis über, wo die Schwestern Stock und Huber – Körner war inzwischen durch seine Anstellung im Konsistorium zur Übersiedlung nach Dresden veranlasst worden – den Sommer zubringen wollten; eben damals war die Sitte unter den Leipzigern aufgekommen, den Sommer über „auf den benachbarten Dörfern zu kampieren und das Land zu genießen".

Ein sehr angenehmer Spaziergang durch das Rosental führt nach Gohlis", meldete Schiller an einen Freund in Mannheim. Nicht lange vorher hatte der Hofrat Böhme, der Erb-, Lehn- und Gerichtsherr auf Gohlis, diesen Weg durch das Rosental oder, wie man damals gemeiniglich sagte, den Rosental angelegt, einen Weg für die kleine Welt, denn der größte Teil des Gehölzes, den man das „wilde Rosental" hieß, war von allerlei zigeunerhaftem Volk besiedelt. Zu Fuß und zu Schimmel, in Gondeln und Gesellschaftskähnen durchzog man das von der Pleiße und der Elster umflossene Gehölz, doch wurde „in Hinsicht der Langsamkeit dieser Fahrzeuge" den Lustfahrenden Geduld empfohlen. Vor Gohlis, noch inmitten des Holzes, das bis unmittelbar an das Dorf reichte, lag eine Wassermühle und eine Schenke, die sich „Zum geselligen Vergnügen" benannte und unter ihren harmlos-zechenden Gästen auch oft Schiller gesehen hat. Er wohnte in dem kleinen Bauernhause, das noch heute erhalten ist; sein Lieblingsplatz war unter dem großen Lindenbaum, der zwischen Haus und Scheune stand, doch auch im Parke des Schlosses fand er stille Flecke, wo er sinnen und träumen konnte.

In diesem Gohliser Sommer hat Schiller die ersten glücklichen oder doch sorgenfreien Tage seines Lebens verbracht, und die damals mit ihm verkehrten, sind dieser schönen Zeit immer in herzlicher Dankbarkeit eingedenk. Ob hier sein Gedicht „An die Freude" entstanden ist, mag fraglich sein; wahrscheinlich fällt es erst etwas später in die Dresdner Zeit, aber die Stimmung, aus der das Gedicht erwuchs, hat ihn schon in Gohlis beherrscht, und vielleicht war sie hier ungetrübter als in Dresden, wo bald wieder die graue Schattengestalt der Sorge an seiner Tür pochte. Als im Herbst Körners Hochzeit mit Minna Stock stattgefunden hatte, siedelte die gesamte „heilige Fünf" nach Dresden über, und im täglichen Zusammensein mit Körner, namentlich auf dessen malerischem Weinberg in Loschwitz, schien nun Schillers Glück gekrönt zu sein. Aber bald machte sich in seinen – freilich nur spärlichen – Briefen aus dieser Zeit eine missmutige Stimmung geltend, die sich durch einzelne Gründe nicht erklären, aber doch aus seiner allgemeinen Lage begreifen lässt. Er hatte noch immer keine bürgerlich geregelte Stellung, was damals unendlich viel mehr bedeutete als heute; Körner half ihm gern, aber von der Hilfe eines Freundes allein zu leben, konnte und wollte Schiller seinem Selbstbewusstsein nicht zumuten; zu den alten Schulden, die er mitgebracht hatte, häuften sich in Leipzig und Dresden neue. Aber er wankte auch in dem, was bis dahin seines Lebens festester Halt gewesen war; je klarer ihm die Lücken seiner Bildung wurden, desto mehr begann er an seinem Dichterberufe zu zweifeln. Er war – an dem Maßstabe gemessen, den er später selbst aufgestellt hat – kein „naiver" Dichter, der in unbewusstem Künstlertriebe schuf, sondern ein „sentimentalischer" Dichter, der des historischen und philosophischen Stoffes bedurfte, um seine dichterische Ader anzuregen, nachdem der Zorn verflogen war, der ihn zuerst zum großen Dramatiker gemacht hatte.

Das dichterische Denkmal dieser Zeit ist „Don Carlos". Er trägt reichliche Spuren der zwiespältigen Stimmung an sich, in die Schiller während dieser Jahre geraten war. Den ersten Akt des Dramas hatte er schon nach Leipzig mitgebracht; es war damals noch ganz im Stile seiner Jugenddramen geplant, als ein tragisches Familiengemälde, zwar nicht aus einem bürgerlichen, sondern aus einem fürstlichen Hause, wo die aufschäumende Jugend gegen die starre Tyrannei des Alters ankämpft, mit dem großen Hintergrunde historischer Perspektive, der spanischen Inquisition und der niederländischen Rebellion. Allein eine Nebenfigur, der Marquis Posa, wuchs dem Dichter unter den Händen zum Helden empor und zerrüttelte ihm die ganze Komposition des Gedichts, das sonst in vieler Beziehung einen künstlerischen Fortschritt über seine Jugenddramen kennzeichnete.

Marquis Posa war ein Herold der seichten Aufklärung, die für Schiller in seiner damaligen kämpfenden und ringenden Zeit wohl ein Durchgangsstadium, aber unmöglich ein endgültiges Resultat sein konnte. Ein Jahrzehnt lang und länger stürzte er sich nun in historische und philosophische Studien, ehe er mit einem neuen Drama die Bühne beschritt.

Von Dresden ging Schiller 1787 nach Weimar, mit unbestimmten Hoffnungen auf den Herzog Karl August, der sich ihm einmal freundlich erzeigt hatte, und auch wohl voll des ehrgeizigen Wunsches, in die Nähe der „Weimarischen Riesen", Herders, Wielands und namentlich Goethes, zu kommen.

Doch was er immer an Hoffnungen und Wünschen mitgebracht haben mochte, das erfüllte sich ihm nicht, und er entschloss sich, durch rastlose Arbeit seinen Weg sich selbst zu bahnen. Er hat diesen Entschluss mit eiserner Energie durchgeführt, und Schillers Leben ist vielleicht ein schöneres oder doch ein erhebenderes Heldengedicht als das Leben und die Taten der Helden, die er besungen hat. Namentlich vom Jahre 1791 ab, wo er lebensgefährlich erkrankte, um nie wieder völlig zu gesunden, hat Schiller sich mühsam jede Stunde geistigen Schaffens erkämpfen müssen, und niemand war berechtigter als er, von der Macht des Geistes über den Körper groß zu denken.

Über sein äußeres Leben in den achtzehn Jahren, die er seit seiner Übersiedlung nach Weimar noch gelebt hat, ist wenig zu sagen. Nach zwei Jahren erhielt er eine außerordentliche Professur an der Universität in Jena ohne Besoldung, doch hat er sich nur wenige Jahre mit dem Kollegienwesen abgegeben. Seit seiner Verheiratung im Jahre 1790 zahlte ihm der Herzog von Weimar ein kleines Jahrgehalt von 200 Talern, das erst zehn Jahre später, als Schiller von Jena nach Weimar zurücksiedelte, um dem Theater näher zu sein, auf 400 Taler erhöht wurde; kurz vor seinem Tode, als die Befürchtung entstand, dass er nach Berlin übersiedeln würde, wo er übrigens von dem offiziellen Preußen auch nur mit süßen Redensarten abgespeist wurde, verdoppelte der Herzog die Summe noch einmal. Der brave Karl August hat sich den Ruhm des deutschen Mäzen nicht viel kosten lassen, namentlich nicht, soweit es sich um Schiller handelte, den er nicht leiden mochte. Schillers ganze Art war diesem kleinen Despoten eigentlich in der Seele zuwider; er begriff überhaupt wenig von dem epochemachenden Schaffen eines Herder, Goethe oder Schiller; sein persönlicher Geschmack stand noch ganz im Banne des französischen Dramas, wie es unter dem Schutze und zum Ruhm des Despotismus in den Tagen Ludwigs XIV. entstanden war.

Um so reicher und vielgestaltiger war Schillers geistiges Leben in dieser Weimarer und Jenaer Zeit. Sieben Jahre lang arbeitete er mit nie versiegender Mühe auf dem Gebiete der Geschichte und der Philosophie. Es war viel Brot- und Notarbeit dabei, denn in der Hauptsache war Schiller gezwungen, von dem Ertrage seiner Feder zu leben, was in den damaligen Zeitläuften, wo die Nachdrucker ihr räuberisches Handwerk ohne alle Scham und Scheu treiben durften, ungleich schwieriger war als heute. Was an historischen und philosophischen Arbeiten in seinen gesammelten Werken enthalten ist, das ist wertvoller als Beitrag zur Geschichte seiner geistigen Entwicklung denn als ästhetische oder wissenschaftliche Leistung. Auch sein vielbesprochener Idealismus hat trotz des großen und alles in allem unerfreulichen Einflusses, den er auf das deutsche Geistesleben gehabt hat, heute nur noch historische Bedeutung.

Im Wesen der Sache war er die Flucht ins Reich der Kunst aus der erbärmlichen Wirklichkeit, die in der feudalen Fäulnis des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bestand und jeder praktischen Energie den nötigen Spielraum versagte. Da der Zustand edler und freier Menschlichkeit, für den Schillers Freiheitspathos kämpfte, auf dem Wege des politischen und sozialen Kampfes nicht erreicht werden konnte, wollte ihn Schiller auf dem Wege der ästhetischen Schönheit erreichen. So stellte er sich feindlich zur Französischen Revolution, die er nicht verstand; er hatte kein Auge für den Zusammenstoß der weltgeschichtlichen Klassengegensätze, der sich in ihr vollzog, und konnte vielleicht auch kein Auge dafür haben, denn in dem Totenreiche des Despotismus herrschte politische Totenstille. Heute erkennen wir den Irrtum, worin Schillers Idealismus befangen war, und vom Kopfe, auf den er die Dinge gestellt hatte, hat die deutsche Arbeiterklasse sie längst wieder auf die Füße gestellt; von der ästhetischen Schönheit führt kein Weg zur politischen und sozialen Freiheit, aber sobald der proletarische Emanzipationskampf gesiegt hat, werden sich die Pforten zum Reiche der Kunst für die ganze Menschheit klingend auftun.

Schillers Idealismus war mehr Ästhetik als Philosophie; schöner und tiefer als in den philosophischen Abhandlungen stellt er sich in den philosophischen Gedichten dar, mit denen Schillers poetische Produktion im Jahre 1794 von neuem begann. Der Dichter schuf sie in engem Verkehre mit Wilhelm v. Humboldt, der ihm ein paar Jahre hindurch, wo Humboldt in Jena lebte, ein sehr einsichtiger Berater war, ein Kritiker von noch feinerem Geschmack als Körner. Doch die entscheidende Tatsache, die den Dichter in Schiller von neuem erweckte, war sein Freundschaftsbund mit Goethe. Sechs Jahre lang waren Goethe und Schiller gleichgültig und selbst feindselig nebeneinander hergegangen, woran ihr verschiedener Lebenslauf, die mehr abstoßende als anziehende Art ihrer gegenseitigen Begabung und nicht zuletzt auch mancher kleine Klatsch und Kram der engen Verhältnisse, worin sie leben mussten, gleichermaßen Schuld tragen mochten. Als sie durch zufällige Umstände einander nähergeführt wurden, erkannten sie bald, wie viel mehr sie sich ergänzen und fördern konnten, als sie sich zu reiben brauchten, und zehn Jahre lang wirkten sie zusammen, bis zum Tode Schillers, dessen Andenken von niemandem so sorglich behütet und gepflegt worden ist wie von dem überlebenden Freunde.

Aus Freunden wurden sie schnell zu Waffenbrüdern in dem Xenienkampfe, den sie gegen die flaue und laue, geschmack- und salzlose Mittelmäßigkeit führten, die damals in der deutschen Literatur überwucherte. Der Sturm der Entrüstung, den sie gegen sie entfesselten, diente nur dazu, ihr Ansehen tiefer zu wurzeln; als das herrschende und siegende Dioskurenpaar standen sie fortan an der Spitze der deutschen Kultur. In edlem Wettkampf schufen sie die Balladen, in denen Schiller zwar an genialer Schöpferkraft nicht an Goethe heranreichte, aber durch die er volkstümlicher wurde als durch alles, was er sonst geschaffen hat. Noch größeren Gewinn zog er aus Goethes Freundschaft, indem er sich unter dessen förderndem Rat wieder dem Drama zuwandte, seiner ersten Liebe, die nun auch seine letzte werden sollte.

Das erste der Dramen, mit denen Schiller zurückkehrte, war auch das größte, das er in seiner reifen Zeit geschaffen hat. Mit glücklichem Griffe wählte er zu seinem Helden die finstere Gestalt Wallensteins, des böhmischen Edelmanns, der mitten in der furchtbaren Zeit des Dreißigjährigen Krieges für Deutschland versucht hatte, was der glücklichere Richelieu gleichzeitig für Frankreich durchsetzte; durch Herstellung der monarchischen Gewalt über allen partikularen Feudalrechten den modernen Nationalstaat zu gründen. Es war ein vermessenes Unternehmen ganz im Sinne der antiken Tragik, die den Menschen mit dem Untergange bedroht, der mit unbesiegbaren Schicksalsmächten ringen will und sich dabei in seiner Kraft „vermisst". Wallenstein ging daran unter, dass er ein großes und notwendiges Ziel erstrebte, aber ein Ziel, das durchzusetzen auch für die genialste Kraft des einzelnen unmöglich war. Wenn uns seine Geschichte entstellt überliefert worden ist, wie die Geschichte aller Besiegten, die von ihren Besiegern geschrieben worden ist, so hat Schiller aus dem gewaltigen Stoff ein echt historisches Drama geschaffen, ein Drama, das wahrer ist als die Geschichte selbst, auch als die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die Schiller als Historiker geschrieben hatte.

Am „Wallenstein" hatte Schiller durch Jahre geschaffen, immer wieder prüfend und wägend, bis der große Wurf gelungen war. In dem Gefühl der endlich errungenen Siegessicherheit begann er nun schneller für die Bühne zu arbeiten, denn er fühlte, dass seine Tage zur Rüste gingen. Von den wenigen Jahren, die ihm nach der Jahrhundertwende noch blieben, sah fast jedes ein neues großes Drama; in rascher Folge entstanden „Maria Stuart", die „Jungfrau von Orleans", die „Braut von Messina", „Wilhelm Tell", und dann noch die Anfänge des „Demetrius". Keins von ihnen reicht künstlerisch an den „Wallenstein" heran, und unter sich sind sie wieder von verschiedenem Werte; am meisten haben sich dem modernen Empfinden wohl die „Jungfrau von Orleans" und die „Braut von Messina" entfremdet. Aber aus ihnen allen spricht die große Individualität Schillers, die nicht umzubringen ist, auch nicht durch die härteste Prüfung, durch das entsetzliche Heer der Jambenschmiede, das sich an ihre Fersen geheftet hat.

Schiller war noch nicht 46 Jahre alt, als er starb. Er hatte seine körperlichen Kräfte fast bis zum letzten Tropfen verzehrt; nach seinem Tode erstaunten seine Ärzte, wie lange sein stolzer Wille die morschen Knochen zusammengehalten hatte. Er ist nicht der größte Dichter der Deutschen gewesen und nicht einmal ihr größter Dramatiker; die eine Palme macht ihm Goethe, die andere Hebbel streitig. Manchmal ist ihm sogar der Name eines Dichters abgesprochen worden, keineswegs von barem Unverstände, sondern von feinen Kunstkennern, deren Kunstverständnis nur so überfein war, dass ihm die Spitze brach. Gegen diese Superklugheit hat Goethe, der noch am ehesten das Recht gehabt hätte, über den Dichter Schiller abzusprechen, den toten Freund schon siegreich verteidigt, und eine kampfesfrohe Klasse wird am wenigsten daran denken, Schillers Dichterruhm auf der Waage romantischer Verstiegenheit zu wägen. Denn alles, was man dem Künstler Schiller abstreitet, sei es mit Recht oder Unrecht, das kommt doch nur dem Kämpfer Schiller zugute.

Kampf war sein Leben, vom ersten bis zum letzten Tage. Man hat vom „Wallenstein" gesagt, das Drama rieche nach Pulver, aber mehr oder minder gilt das vom ganzen geistigen Schaffen des Dichters. Überall, wo Schiller spricht, hört man die Trompeten rufen und sieht man die Schwerter blitzen; auch wo sein Lebenswerk verstaubt erscheint, ist es doch nur der Staub des Schlachtfeldes, der auf ihm liegt. Oft und oft haben sich die Unterdrücker dieser tönenden Stimme zu bemächtigen gesucht, um die Unterdrückten zu betäuben und zu betören, und was sterblich und vergänglich war an Schiller, hat manchmal verhängnisvoll auf die nationale Entwicklung eingewirkt. Aber niemals ist er, weder durch eigne noch durch fremde Schuld, den Unterdrückten entfremdet worden, denn was in ihm glühte und lebte und schuf, das war im tiefsten Grunde doch immer der Kampf gegen die Unterdrückung.

Kommentare