Franz Mehring 18940200 Schillers „Kabale und Liebe"

Franz Mehring: Schillers „Kabale und Liebe"

Februar 1894

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 6, S. 3-8. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 628-632]

Nächst und neben Lessings „Emilia Galotti" ist Schillers „Kabale und Liebe" das revolutionärste Drama unserer klassischen Literatur. Es erschien fünf Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, im Jahre 1784, als auf Deutschland noch der Druck und die Schmach eines Despotismus lastete, der von mehreren hundert kleinen Despoten mit raffinierter Grausamkeit gehandhabt wurde. Eher noch als Schillers Erstling „Die Räuber" hätte dies bürgerliche Trauerspiel das Motto tragen dürfen: In tirannos! Gegen die Tyrannen!

Es soll schwer sein, in der ganzen Weltgeschichte eine Klasse aufzufinden, die durch so lange Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwänglich reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert. Doch wäre es falsch, die Verantwortung für diese betrübende Tatsache auf die einzelnen Fürstengeschlechter oder gar auf die einzelnen Fürsten zu werfen. Es waren die ökonomischen Lebensbedingungen der Fürstenklasse, die aus ihr in jenen Jahrhunderten ein so groteskes Zerrbild machten. Die Weltwende des sechzehnten Jahrhunderts hatte Deutschland in einen Abgrund des Verfalls geworfen. Unser Vaterland gelangte nicht zu der nationalen Einheit, die in England, Frankreich, Spanien aus der schnellen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise erwuchs. In Deutschland blieben die kleinen, mittelalterlichen Staatswesen zum großen Teile bestehen, sie kamen einerseits nicht aus den Resten des Feudalismus heraus, andererseits nicht über die Anfänge des Kapitalismus hinaus.

So fehlte diesem zwerghaften Despotismus die Grundlage, welche die fürstliche Gewalt in ökonomisch entwickelten Ländern besaß. Da diese kleinen Tyrannen von dem Gewerbe ihrer Untertanen nicht leben konnten, so lebten sie von ihrem Blute; aus dem Handel mit Menschen gewannen sie, was der Handel mit Produkten nicht abwerfen konnte. Der deutsche Ausfuhrhandel beschränkte sich auf einen einzigen bedeutenden Artikel, auf Leinwand, und daneben etwa noch auf einige Metallwaren. Aber die Menge ausländischer Erzeugnisse, die für den Erlös dieser Ausfuhr gekauft werden konnten, reichte für den Bedarf des fürstlichen Luxus bei weitem nicht hin. Die deutschen Fürsten brauchten noch andere Zahlungsmittel und fanden sie in den Geldsummen, für welche sie ihre landesherrlichen Rechte, vor allem die Verfügung über Fleisch und Blut ihrer Untertanen, an die Interessen des Auslandes verkauften. Allein in den Jahren 1750 bis 1815 wurden von Frankreich 33 und von England 311 Millionen Taler an deutsche Fürsten gezahlt, Summen, die es überhaupt erst verständlich machen, wie so viele kleine Fürsten des verarmten Deutschlands mit der prunkhaften Verschwendung der französischen Könige wetteifern konnten.

Eine Fürstenklasse, deren ökonomische Grundlage der fortlaufende Verrat an ihren ideellen Fürstenpflichten war, musste natürlich die Brutstätte aller menschlichen Laster werden. Schon im fünfzehnten Jahrhundert war das Sündenregister der deutschen Fürsten unerschöpflich. Und die deutschen Fürsten des sechzehnten Jahrhunderts nennt sogar der Hofgeschichtsschreiber Treitschke eine „verkommene Generation". Mit jedem Jahrhundert wurde es schlimmer, bis der Menschenschacher der deutschen Fürsten, dieser niederträchtigste Frevel, von dem die Weltgeschichte zu berichten weiß, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts seinen höchsten Gipfel erreichte. Die in empörender Weise gepressten oder geraubten Landeskinder wurden von Sachsen, von Hessen-Kassel, von Braunschweig, von Ansbach und Bayreuth, von Anhalt, von Hanau, von Waldeck, von Württemberg für sogenannte „Subsidien" an Venedig, Dänemark, Holland oder England vermietet, um in Morea oder Schottland, in Kanada, am Kap der Guten Hoffnung oder in Indien zu fechten und zu sterben. Es ist anzuerkennen, dass aus dem Adel und den Fürsten selbst sich einzelne Stimmen gegen dieses schuftige Treiben erhoben. So brandmarkte der Herzog von Richmond im englischen Oberhause den schändlichen Schacher, bei dem freie Menschen wie soundso viel Stück Vieh auf die Schlachtbank geliefert würden, und der preußische König Friedrich II. sagte, von solchen verkauften Truppen, die sein Gebiet berührten, würde er Viehzölle erheben lassen, denn hier würden vernünftige Menschen als Tiere verkauft; ja, als einmal wirklich ein von seinen Ansbacher Verwandten verhandelter Transport über die preußischen Grenzen kam, ließ er Kanonen gegen die Menschenhändler auffahren. Aber dadurch wurden die kleinen Despoten gar nicht gestört; sie trieben ihren gewinnreichen Handel ruhig fort und verprassten das aus dem Blute ihrer Untertanen gemünzte Gold in den niedrigsten Lüsten mit einem höfischen Gesindel, das moralisch womöglich noch unter ihnen selbst stand.

Gegen diese Schandwirtschaft richtet sich Schillers „Kabale und Liebe" wie ein flammender Protest. Schon Lessing hatte in „Emilia Galotti" den zwerghaften Despotismus, den Fluch und die Schmach Deutschlands, mit blutiger Geißel getroffen. Indessen, so unmöglich war 1772, als „Emilia Galotti" erschien, noch ein freies Wort in Deutschland, dass Lessing die Handlung seines Trauerspiels in das kleine italienische Fürstentum Guastalla verlegen musste, dass er das Grauen der deutschen Zustände nur unter dieser fremdartigen, wenn auch durchsichtigen und nichts verbergenden Hülle schildern konnte. Aber so weit hatte sich in zwanzig Jahren das deutsche Bürgertum doch zu regen begonnen, dass Schiller mit „Kabale und Liebe" erklären konnte: Guastalla liegt in Deutschland. Vieles in seinem Trauerspiele erscheint heute allzu grotesk, allzu krass, allzu übertrieben, aber deshalb enthält es doch echte, historische Wahrheit. Dieser Präsident von Walter, dieser Hofmarschall von Kalb, dieser Sekretär Wurm sind einmal lebendige Gestalten gewesen; solche Narren und Schurken waren die Träger des deutschen Zwerg-Despotismus. Höchstens an der Lady Milford mag man aussetzen, dass ihr Charakter zu sehr ins romantische Gebiet überspiele. Solche edelmütigen Regungen, wie diese Favoritin eines menschenverschachernden Fürsten noch verrät, kannten die Fürstendirnen des vorigen Jahrhunderts nicht; an Lessings Gräfin Orsina reicht Lady Milford nicht heran. Freilich hat Schiller die teilweise Unwahrscheinlichkeit der Mätresse dadurch einigermaßen erklärt, dass er sie aus dem englischen Adel abstammen lässt. Der deutsche Adel pflegte seinen Töchtern feierliche Hochzeitsfeste auszurichten, wenn der angestammte Landesvater sie zu seinen Beischläferinnen erkor.

Ebenso wahr sind auch die bürgerlichen Figuren des Trauerspiels. Es gärte damals in den kleinbürgerlichen Klassen, wie es in dem Stadtmusikanten Miller gärt. Sie gewannen ein gewisses Selbstbewusstsein, sie wurden es müde, der Spielball adliger oder fürstlicher Lüste zu sein, ein ehrlicher Proletarierzorn begann in ihnen zu kochen. Aber sie waren zu lange misshandelt worden, um zu erkennen, dass gegenüber den herrschenden Klassen ihnen nur die eine rettende Politik blieb: den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust. Ein Beutel voll Gold, ein Almosen, das sie in sogenannten Ehren von dem Adel annehmen konnten, machte sie doch wieder kirre. Und nun gar ihre Weiber, die ganz in Fürstenfürchtigkeit erstarben, die sich wie Bleigewicht an das bisschen erwachende Tatkraft der Männer hingen! Ehrbar in ihrer Weise, konnten sie doch nie ganz dem heimlichen Gelüste widerstehen, ihr bürgerliches Fleisch mit adligem Blute zu verkuppeln. Endlich das Liebespaar, dessen überstiegene Sprache uns heute wohl am seltsamsten in Schillers Trauerspiel anmutet, war auch einmal wirklich. Was in Deutschland von dem Geist einer neuen Zeit angeweht wurde, schwärmte in den Wolken mit den Winden; der ganze Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums vollzog sich schließlich in den Ätherhöhen der Idee, weil es zu schwach war, auf ebener Erde mit derben Fäusten und blanken Waffen zu kämpfen.

Die deutsche Arbeiterklasse hat darin ein glücklicheres Los gezogen, und so ist sie leicht geneigt, Dramen wie Lessings „Emilia Galotti" und Schillers „Kabale und Liebe" zu unterschätzen. Trotzdem bilden die großen Dichtungen unserer klassischen Literatur rühmliche Stationen in ihrer eigenen Vorgeschichte. Der revolutionäre Geist, aus dem sie geboren sind, lebt heute allein noch im Proletariat. Die offizielle Wissenschaft der bürgerlichen Klassen bemüht sich heute, die Gräuel der deutschen Zwerg-Despoten totzuschweigen oder, wenn das nicht geht, zu beschönigen oder gar zu verherrlichen. Selbst der Menschenschacher hat unter den Byzantinern der deutschen Hochschulen fanatische Verteidiger gefunden; es gibt keine fürstliche Infamie, die ein deutscher Professor nicht zu rechtfertigen weiß. Um so mehr sollte die Arbeiterklasse Werke wie Schillers „Kabale und Liebe" in Ehren halten! Noch hat kein moderner Naturalist eine Dichtung geschrieben, die so voll revolutionärer Tatkraft ist, wie Schillers bürgerliches Trauerspiel unter den vor hundert Jahren in Deutschland herrschenden Verhältnissen war.

Es ist übrigens bemerkenswert, dass der deutsche Philister, immer derselbe faule, feige und nichtsnutzige Patron, Schillers „Kabale und Liebe" gleich nach ihrem Erscheinen mit denselben Schimpfereien überhäufte, mit denen er heute jeden Versuch zu einer erneuernden Wiedergeburt des Theaters überhäuft. Die „Vossische Zeitung" schrieb am 4. September 1784 „über das Schillerische Trauerspiel Kabale und Liebe":

Was sollen dergleichen Ungeheuer auf dem Schauplatz? Da man überhaupt gar nicht erfährt, wie diese Menschen so geworden sind. Wozu nützt es denn, die Einbildungskraft mit solchen Bildern anzufüllen, wodurch wahrlich weder der Verstand noch das Herz gebessert wird? … Die Frau des Geigers ist ein äußerst niederträchtiges, pöbelhaftes Weib, und der Geiger ist durchaus ein pöbelhafter ungezogener Kerl… Ich hätte viel zu tun, wenn ich alle die Widersprüche und den Unsinn in den Schillerschen Charakteren herausheben wollte, er schwimmt schon auf der Oberfläche, ich darf ja nur abschöpfen … Ist das die Sprache des Herzens und der Natur? Die lerne Herr Schiller erst von elenden, zusammengestoppelten Phrasen und auswendig gelernter Büchersprache unterscheiden und dann schreibe er Trauerspiele! Der Ferdinand ist nun vollends ein unausstehlicher Mensch, der immer das Maul schrecklich vollnimmt und doch am Ende nur wie ein Geck handelt… Wenn nun Herr Schiller glaubt, dass dies starke Sprache sei und Mark und Bein erschüttere, so irrt er sich gar gewaltig; es ist fader Unsinn, der ein mitleidiges Achselzucken über dergleichen Ausdrücke verursacht, die bei dem Verfasser einen Bruch von Vernunft befürchten lassen … Ob nun solch Geschöpf seinem Kopf und Herzen Ehre macht, das mag ihm sein eigenes Gewissen sagen … Doch ich bin endlich müde, mehr Unsinn abzuschreiben. Bloß der Unwille darüber, dass ein Mensch das Publikum durch falschen Schein blendet, konnte zu dieser ekelhaften Beschäftigung anspornen. Nun sei es aber genug; ich wasche meine Hände von diesem Schillerschen Schmutze und werde mich wohl hüten, mich je wieder damit zu befassen."

Derselbe Geist, welcher der „Vossischen Zeitung" diese famose Kritik über Schillers „Kabale und Liebe" eingegeben hat, beseelt ihre Urteile über Ibsen, Hauptmann, nicht zuletzt auch die Freie Volksbühne. Um so mehr, wir wiederholen es, sollte die Arbeiterklasse die revolutionären Dramen unserer klassischen Literatur in Ehren halten.

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