Franz Mehring 19020430 Tells Geschoss

Franz Mehring: Tells Geschoss

30. April 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 129-133. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 295-299]

Die dritte kriegsgerichtliche Verhandlung, die gegen die Unteroffiziere Marten und Hickel geführt wurde, weil sie den Rittmeister v. Krosigk durch einen Schuss aus dem Hinterhalt getötet haben sollten, hat eben mit der Freisprechung beider Angeklagten geendet. Es ist nicht anzunehmen, dass dies Urteil nochmals von dem Vertreter der Anklage angefochten werden wird, obgleich oder auch weil das militärische Gerichtsverfahren bei der ganzen Sache nichts weniger als glorreich abgeschnitten hat. Einen leidlicheren Ausgang wird es nicht mehr finden, als dass es knapp an der Klippe eines barbarischen Justizmordes vorübergeglitten ist. Das wird sich Moloch zu sagen wissen, und die liberalen Philister werden ihm jetzt noch Lorbeerkränze winden, weil sein Rechtspruch schließlich doch das Rechte getroffen hat.

Kann somit diese historische Episode als abgeschlossen gelten und will man ihre Resultate unbefangen würdigen, so muss man von der Frage nach der Schuld oder Unschuld der Unteroffiziere Marten und Hickel auf die Frage nach der Schuld oder Unschuld des Rittmeisters v. Krosigk zurückgehen. Da steht über jeden Zweifel hinaus fest und wird von keiner Seite bestritten, dass Krosigk ein Menschenquäler gewesen ist, der die ihm übertragene obrigkeitliche Gewalt zur Peinigung derjenigen Menschen gemissbraucht hat, die sich in seiner Gewalt befanden. Dagegen stand den Gemisshandelten der sogenannte Beschwerdeweg offen, von dem hinlänglich bekannt ist, dass er auf militärischem Gebiet sich verhängnisvoller für diejenigen zu erweisen pflegt, die ihn beschreiten, als für diejenigen, gegen die er beschritten wird. Wenn gleichwohl der Rittmeister v. Krosigk wiederholt wegen Soldatenmisshandlung mit gelinden Strafen belegt wurde, so ist das vielmehr ein Beweis dafür, dass diese Misshandlungen weit das landesübliche Maß überschritten haben, als dafür, dass den Misshandelten mit der Bestrafung ihres Peinigers irgendwie eine ausreichende Genugtuung gegeben worden sei. Obendrein blieb der Rittmeister v. Krosigk im Besitz seiner militärischen Kommandogewalt und setzte seine Menschenquälerei ungestört fort. So blieb seinen Opfern das Recht der Notwehr nur noch in der Form der gewaltsamsten Selbsthilfe; es war Tells Geschoss, das den Rittmeister v. Krosigk mitten in einer militärischen Übung niederstreckte.

Nicht ohne Absicht zitieren wir Schiller. Es ist heutzutage eine unleidliche Manier der deutschen Spießbürgerei, bei jedem solchen Akte regelloser Volksjustiz zu sagen: Ja, freilich ist die Menschenschinderei eine tadelnswerte Sache, aber deshalb darf man den Menschenschinder nicht töten, denn der Meuchelmord ist immer ein scheuseliges Verbrechen. Leider ist diese unleidliche Manier hier oder da auch über die Kreise des Spießbürgertums hinaus gedrungen; fällt irgendwo ein noch so arger Volksbedrücker unter der Kugel seiner Opfer, so gehört es sozusagen zum guten Ton, mindestens seine moralische „Missbilligung" über diese Art des Kampfes auszusprechen. Dem klassischen Zeitalter deutscher Humanität war diese larmoyante Furchtsamkeit vollkommen fremd; für Schiller war Tell ein Held, obgleich die Erschießung Geßlers in der hohlen Gasse bei Küsnacht genau ebenso ein „Meuchelmord" war wie die Erschießung Rittmeisters v. Krosigk in der Reitbahn von Gumbinnen.

Schiller ist bekanntlich der Abgott des deutschen Philisters, aber, wie Lassalle schon treffend gesagt hat, dieser Philister würde seinen Abgott kreuzigen, wenn er ihn wirklich verstände. In dem vorliegenden Falle lässt sich die Verphilisterung Schillers in ihrem Ursprung mit urkundlicher Genauigkeit nachweisen; in der Kritik nämlich, die Ludwig Börne seinerzeit über Schillers „Wilhelm Tell" veröffentlicht hat. Es heißt darin: „Jetzt kommt Geßlers Mord. Ich begreife nicht, wie man diese Tat je sittlich, je schön finden konnte. Tell versteckt sich und tötet ohne Gefahr seinen Feind, der sich ohne Gefahr glaubte. Die Natur mag diese Tat rechtfertigen, so gut es ihr möglich ist, aber die Kunst vermag es nie. Als Tell später mit Johann von Schwaben zusammentrifft und dieser mit dem Mordgesellen Brüderschaft machen will, stößt ihn jener mit Abscheu zurück und spricht:


Unglücklicher!

Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen

Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?


Doch Tell irrt. Aus Ehrsucht hat er freilich den Landvogt nicht getötet, doch mit Notwehr – sollte diese ja gegen eine rechtliche Obrigkeit je rechtlich stattfinden können – kann er sich nicht entschuldigen. Damals, wenn er, um den Schuss von seinem Kinde abzuwenden, den Bogen nach Geßlers Brust gerichtet hätte, wäre es Notwehr gewesen, später war es nur Rache, wohl auch Feigheit – er hatte nicht den Mut, eine Gefahr, die er schon mit Zittern kennengelernt, zum zweiten Male abzuwarten." Wenn nun gar Börne diese Tiraden mit dem Satze krönt: Es tut mir leid um den guten Tell, aber er ist ein großer Philister, so kann man dazu nur sagen: Es tut uns leid um den guten Börne, aber er war ein großer Philister.

In seinen Ausführungen hat man schon alles, was den heutigen Spießbürger bei solchen Gelegenheiten kennzeichnet: den gottergebenen Zweifel, ob gegen eine rechtliche Obrigkeit je eine rechtliche Notwehr stattfinden könne, die seichte Moralisiererei über den „Mordgesellen", der ein gemeinschädliches Raubtier abschießt, ohne sich an die Regeln des feudalen Duellkodex zu kehren, endlich den gänzlichen Mangel an historischem Sinn. Gerade in diesem Punkte hat Schiller am wenigsten auf seine bürgerlichen Bewunderer abgefärbt; er hatte einen eminent entwickelten historischen Instinkt, der ihn trefflich beriet, auch wo die Geschichtswissenschaft auf ihrer zu seiner Zeit erreichten Stufe noch versagte. Psychologisch motiviert er die Tötung Geßlers als die Notwehr eines in seinen menschlichsten Interessen tödlich verletzten Menschen, aber historisch fasst er sie nur als die Begleiterscheinung des menschenschindenden Despotismus auf, die wohl ein Signal zur befreienden Tat geben kann, aber nicht selbst schon eine befreiende Tat ist; mit weisem Bedacht lässt Schiller seinen Tell nicht mit auf dem Rütli tagen.

Am weitesten sind die herrschenden Klassen selbst von der moralisierenden Flachheit entfernt, womit die deutschen Spießbürger Tells Geschoss bemäkeln. Jeder Despotismus ist sich so weit über sein Wesen klar, dass er seine psychologische Rückwirkung auf die von ihm Unterdrückten genau kennt. Ja, er kann die blutige Wegsäuberung seiner jeweiligen Träger als eine seiner Lebensbedingungen anerkennen. So ist der Zarismus nach einem bekannten Worte der Despotismus, gemildert durch den Meuchelmord. Der Meuchelmord wurde in einer der zarischen Zivilisation entsprechenden Form zur wirklichen Staatsinstitution erklärt, als Katharina II. die Mörder ihres Gatten zu ihren Beischläfern erkor oder Alexander I. die Mörder seines Vaters zu den höchsten Ehrenstellen der Kriegs- und Friedensverwaltung erhob. Ganz besonders ist Tells Geschoss die ständige Begleiterscheinung jener entnervenden Disziplin gewesen, die mit den modernen Söldnerheeren aufkam und mit den „Völkern in Waffen" nichts weniger als verschwunden ist.

Bekannt ist die Anekdote vom alten Fritz, der, als er einmal mit dem alten Dessauer zur Revue ausritt, diesen fragte: Was ist Ew. Liebden an unserer Armee am meisten wunderbar? Natürlich erwiderte der alte Dessauer, die schönen Regimenter, die hier in Reih' und Glied stehen. Nein, antwortete der König, das ist nicht das Wunderbarste; das Wunderbare ist vielmehr, dass die Kerle hier so entnervt sind, dass sie nicht uns beide erschießen, die wir die Quelle ihrer Leiden sind. In diesem „Wunder" von Disziplin aus Entnervung besteht Molochs holdestes Geheimnis, aber er weiß natürlich, und wenn er es nicht wissen sollte, so belehrt ihn sehr bald die praktische Erfahrung darüber, dass dies Wunder nicht immer gelingt und dass die Regel ihre Ausnahme hat. Friedrichs Liebling, der General Winterfeldt, wurde in dem Treffen von Moys nicht durch eine österreichische, sondern durch eine preußische Kugel ins bessere Jenseits befördert. Wer die moderne Kriegsgeschichte jemals etwas genauer studiert hat, weiß sehr gut, dass es Fälle ähnlicher Art zahlreich genug gibt. Wenn diese Fälle nicht in weiteren Kreisen bekannt geworden sind oder sich nicht über die Region eines dringendsten Verdachtes erhoben haben, so aus dem einfachen Grunde nicht, weil der Despotismus durchaus kein Verlangen darnach trägt, seine häuslichen Intimitäten an die große Glocke zu hängen. Er weiß, dass, so großmächtig er mit seinen eisernen Füßen einher stapfen mag, Tells Geschoss jeweilig immer wieder aus den Gebüschen am Wege schwirrt; er nimmt diese Fatalität hin als eine unvermeidliche Begleiterscheinung, ja in gewissem Sinne selbst als eine notwendige Bedingung seines Daseins; diese regellose Volksjustiz, die einzelne seiner Träger dahinrafft, ist ihm die sicherste Bürgschaft dafür, dass die Unterdrückten noch nicht daran denken, seine ganze Existenz durch einen geregelten Prozess zu gefährden. Deshalb schweigt er dazu, solange er kann, in dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb, der sich sagt, dass dies kleine Erbübel um so gefährlicher werden muss, je bekannter es wird. Im Jahre 1757 sprach die ganze preußische Armee davon, dass General Winterfeldt durch eine Kugel aus den eigenen Reihen getötet worden sei, aber der alte Fritz hütete sich davor, in die Nesseln zu greifen und den Glauben an das „Wunder“ zu gefährden, dass die „Kerls“ niemals daran dächten, den Urhebern ihrer Leiden nach dem Maße gerechter Gegenwehr zu lohnen.

Nur wenn diese Gegenwehr sich nicht vertuschen lässt, wenn sie in der Art und Form ihres Vollzugs sich selbst als öffentliches Gericht gibt, wenn sie auch dann zwar nicht zu einer befreienden Tat werden, aber doch das Signal zu einer befreienden Tat geben kann, muss sich der Despotismus freilich mit dem Gespenst im eigenen Hause vor allem Volke balgen. Es versteht sich, dass er sich dann in die fürchterlichsten Positionen wirft und die gewaltigsten Worte, wie „beispiellose Verbrechen" und „unerhörte Schandtaten", daher dröhnt, dass er dann nicht ruht, bis er irgendein Opfer für seine gekränkte Majestät hingeschlachtet hat. In all seiner grotesken Schauerlichkeit haben wir das Schauspiel erlebt, als in der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts der Polizeirat Rumpff in Frankfurt a. M. Unter dem Stahle des Rächers verblutet war: von den abgeschmackten Grimassen, die Ehren-Puttkamer über den „himmelschreienden Frevel“ schnitt bis zu dem entsetzlichen Justizmorde an dem armen Lieske, dessen Fluch dann den schuldigen Staatsanwalt in die Nacht des Wahnsinns jagte.

Auf diesem historischen Hintergrunde zeichnet sich der Fall des Rittmeisters v. Krosigk erst richtig ab. Mitten auf dem Schauplatz seiner Heldentaten durchs Herz geschossen, durch einen sicheren Schuss hingestreckt zu den Füßen seiner Opfer, durfte er freilich nicht „ungesühnt" in sein ruhmloses Grab sinken. So suchte man nach den Schuldigen, und da man sie nicht fand, machte man sie. Militärische Stimmen sagten mit edler Offenheit: Gleichviel ob Marten und Hickel die Schuldigen sind, so müssen sie in jedem Falle verurteilt werden, denn es ist besser, dass ein paar Unschuldige sterben, als dass die militärische Disziplin durch die „straflose Ermordung" eines Vorgesetzten erschüttert wird. Das war die wahre Stimme des Despotismus, die wahre Stimme der militärischen Tradition, und das Interesse an den vieltägigen Verhandlungen, die eben vor dem Oberkriegsgericht in Gumbinnen geführt worden sind, konzentrierte sich keineswegs darauf, ob die Angeklagten unschuldig oder schuldig seien – denn jeder Zweifel an ihrer gänzlichen Unschuld war schon durch die früheren Verhandlungen beseitigt worden –, sondern darauf, ob der Moloch des Militarismus den Tigersprung wagen würde, den seine begeisterten Verehrer von ihm verlangten.

Der Sprung ist nicht gewagt worden, und das ist die historische Pointe des ganzen Falles. Vom Standpunkt schon der bürgerlichen Rechtspflege lässt sich gegen die Begründung des freisprechenden Urteils vieles einwenden; wenn darin gesagt wird, dass die Angeklagten der Tat dringend verdächtig blieben und ihrer fast überführt wären, so ist damit zur Genüge gezeigt, dass vom Distelstrauche des militärgerichtlichen Verfahrens nach wie vor keine Feigen zu ernten sind. Denn in den langwierigen Verhandlungen ist auch nicht der Schatten eines Beweises gegen Marten und Hickel erbracht worden, und wenn sie „fast" überführt worden sein sollen, dann war es von juridischem Standpunkt ein Aufwaschen, sie auch gleich für ganz überführt zu erklären. Aber was juridisch höchstens das Gewicht eines Strohhalms hat, das fällt historisch allerdings schwerer ins Gewicht. Die unterdrückten Klassen rüsten sich überall zum Schwur auf dem Rütli gegen den ganzen Militarismus, und da denkt man milder, gerade über Tells Geschoss.

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