Franz Mehring 19090000 „Wilhelm Tell"

Franz Mehring: „Wilhelm Tell"

1909

[Die Volksbühne. Eine Sammlung von Einführungen in Dramen und Opern, Nr. 14, Berlin 1909. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 256-262]

Von den Dramen Schillers hat lange Zeit das letzte, das ihm zu vollenden beschieden war, als das vollendetste gegolten, als das Hohelied des Volkes, das sich selbst befreit, um die Ketten schmählicher Tyrannei zu zerreißen. Dann aber hat sich dies Urteil langsam gewandelt, und heute ist die Gefahr größer, das Schauspiel Schillers zu unter- als zu überschätzen.

Dazu haben gleichermaßen ästhetische und historische Gründe mitgewirkt, wie ästhetische und historische Gründe in gleichem Maße den großen Erfolg des Dramas verursacht haben. Man sah über seine künstlerischen Gebrechen hinweg, solange sein gewaltiges Freiheitspathos gleichgestimmte Herzen erglühen ließ, jedoch je mehr dies Pathos verglühte, um so mehr traten die künstlerischen Gebrechen hervor. Bei diesem Verglühen handelte es sich nicht oder doch nicht in erster Reihe um das allmähliche Versinken des deutschen Bürgertums in praktische Geschäftsmacherei; der satte Bourgeois findet sich noch am ehesten mit dem Drama ab, da er diese Art Völkerbefreiung nicht zu fürchten braucht. Wer den ersten Anstoß daran nahm, waren gerade die entschlossensten und tatkräftigsten Elemente des noch rebellischen Kleinbürgertums; Ludwig Börne hat schon im Jahre 1818 an dem Drama die ätzende Kritik ausgeübt, der Schillersche Tell sei bei Lichte besehen ein ängstlicher und beschränkter Philister.

Hatte Schiller sich in der Wallenstein-Tragödie als ein dichterischer Seher erwiesen, der den Charakter Wallensteins schärfer und tiefer erfasste, als der gleichzeitigen Geschichtsschreibung und ihm selber als Geschichtsschreiber möglich war, so bleibt sein schweizerisches Schauspiel ganz im Bann einer Legende, nicht einmal einer echten historischen, sondern einer falschen, künstlich fabrizierten Legende. Die echte Legende mag man den verschönernden Rost nennen, der sich von selbst im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte an die geschichtlichen Ereignisse setzt; in der mündlichen Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht wandelt sie den äußeren Lauf der Dinge, aber nur, um ihren inneren Kern desto schärfer zu packen. Allein die künstlich fabrizierte Legende will eben diesen inneren, den eigentlichen Kern der Dinge vertuschen und durch bewusst erfundene Fabeln aus der Welt schaffen, indem sie etwa aus gewaltsamen und räuberischen Bergstämmen ein frommes Volk von Hirten macht.

Ein schweizerisches Volk, wie es Schiller in seinem Drama schildert, hat es nie gegeben. Die Urschweizer des 13. und 14. Jahrhunderts hatten sich in der Abgeschiedenheit ihrer Berge ihre alte Markgenossenschaft bewahrt, aus der sie die kriegerische Kraft schöpften, die sie ihren Nachbarn furchtbar machte, den Habsburgern und nicht minder der Kirche, zu deren gläubigen Gliedern sie selbst zählten. Der historische Stauffacher befehligte die Schwyzer am 6. Januar 1314 bei einem barbarischen Überfalle des Klosters Einsiedeln, über den der Schulmeister von Einsiedeln schrieb: Der Satan selbst beseelt dies Volk. Sicherlich werden die Urkantone auch durch räuberische Eingriffe kirchlicher und weltlicher Machthaber in ihre Markgenossenschaften gereizt worden sein, aber sie waren mindestens ebenso sehr die Angreifenden wie die Angegriffenen, und nie haben sie daran gedacht, sich unter das Joch habsburgischer Landvögte zu beugen. Sie waren ein gefürchtetes Kriegsvolk, das nicht müde wurde, die Nachbargebiete zu plündern. Daneben verkauften sie sich als Söldnertruppen an den aufkommenden modernen Absolutismus, in Italien und namentlich auch in Frankreich, dessen Despoten sie durch die Jahrhunderte gegen bar Geld ihr Blut und ihr Mark verhandelt haben, sei es nun im 15. Jahrhundert gegen feudale Ritterheere in den Burgunderkriegen, sei es im 18. Jahrhundert gegen den revolutionären Sturm des Pariser Volkes.

Es hat nie einen Rütlischwur, nie einen Tell, nie einen Landvogt Geßler gegeben, und der historische Stauffacher war ungefähr der denkbar schroffste Gegensatz zu dem Stauffacher Schillers. Hätte es sich um echte Legenden gehandelt, so hätte ein Dramatiker von Schillers Seherblick wohl ihren historischen Kern herauszuschälen vermocht, aber da alle diese Geschichten gar keinen historischen Kern enthielten, sondern eben von den schweizerischen Chronisten erfunden worden waren, um den wirklichen und ja freilich wenig schmeichelhaften Verlauf der schweizerischen Geschichte zu verdecken und zu verdunkeln, so war der Dichter an sie gebunden, gebunden in dem wörtlichen Sinne, dass diese zum Teil recht misslungenen Erfindungen sein dramatisches Schaffen fesselten.

Es darf jedoch nicht verkannt werden, dass Schiller selbst diese falschen Legenden gerade so haben wollte, wie er sie in der schweizerischen Geschichtsschreibung vorfand. Konnte er sie im Sinne ihrer Zeit nicht auflösen, so dachte er noch viel weniger daran, sie im Sinne seiner Zeit umzuschmelzen, wie es dem Künstler wohl erlaubt ist, wenn er sich anders nur künstlerischer Mittel bedient; unter dieser Voraussetzung braucht nach Hebbels Worte der Dramatiker kein Auferstehungsengel der Geschichte zu sein. Und vielleicht war daher das zunächst grundlose Gerücht entstanden, Schiller wolle Tell zum Helden eines Dramas machen; erst dies Gerücht veranlasste ihn, das Schauspiel zu entwerfen, wobei er sich wohl bewusst war „aller Erwartungen", die das Publikum und das Zeitalter zu diesem Stoffe mitbringe. Aber Schiller beabsichtigte nicht, diesen Erwartungen zu entsprechen; das Freiheitspathos, das ihn seit seinen jungen Tagen beseelt und ihm ein so gutes Zutrauen „beim Publikum und beim Zeitalter" verschafft hatte, war an dem blutigen Ernst der großen französischen Revolution irre geworden; weit entfernt, in unhistorischer, aber künstlerischer Weise die revolutionäre Bewegung seiner Zeit in der Erhebung der schweizerischen Bauern und Hirten gegen das Haus Habsburg widerzuspiegeln, war er umgekehrt darauf bedacht, in ebenso unhistorischer wie unkünstlerischer Weise die revolutionäre Bewegung seiner Zeit durch die Bauern und Hirten des vierzehnten Jahrhunderts verurteilen zu lassen. So heißt es in der Rütliszene:


Walter Fürst: Abtreiben wollen wir verhassten Zwang;

Die alten Rechte, wie wir sie ererbt

Von unsern Vätern, wollen wir bewahren,

Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen.

Dem Kaiser bleibe, was des Kaisers ist;

Wer einen Herrn hat, dien' ihm pflichtgemäß.

Meier: Ich trage Gut von Österreich zu Lehn.

Walter Fürst: Ihr fahret fort, Östreich die Pflicht zu leisten.

Jost von Weiler: Ich steure an die Herrn von Rappersweil.

Walter Fürst: Ihr fahret fort, zu Zinsen und zu steuern.

Rösselmann: Der großen Frau zu Zürch bin ich vereidet.

Walter Fürst: Ihr gebt dem Kloster, was des Klosters ist.


Unverhüllter ließ sich gar nicht gegen die größte Errungenschaft der Französischen Revolution protestieren, die Emanzipation der bäuerlichen Bevölkerung von allen feudalen Diensten und Lasten. Und das Unbehagen, das der Dichter dabei empfindet, tritt nur noch deutlicher hervor, wenn er am Schlusse seines Dramas den Junker Rudenz alle seine Knechte für frei erklären lässt, was ein Junker des 13. und 14. Jahrhunderts nicht tun konnte und ein Junker des 18. und 19. Jahrhunderts niemals getan hat.

Schiller ist geradezu ängstlich bemüht, die schweizerische Erhebung gegen das Haus Habsburg jedes politischen und sozialen Charakters zu entkleiden. Obgleich die Schweizer unter sich, vom Junker bis zum Leibeigenen, ein Herz und eine Seele sind, denken sie an keinen gemeinsamen Aufstand gegen ihre Unterdrücker; erst muss jeder einzelne in seinen persönlichsten Interessen verletzt werden, ehe sie zu dem für sie schweren Entschlusse kommen, sich zum Sturz der Tyrannen zu verbinden. Dem einen muss erst sein Weib vergewaltigt, dem andern der Vater geblendet werden, der dritte muss mit Vertreibung von Haus und Hof geschreckt, der vierte von seiner Braut mit Entziehung ihrer Gunst bedroht, der fünfte gezwungen werden, den Apfel vom Haupt seines Kindes zu schießen, ehe sie sich zu männlichem Entschluss aufraffen. Diese Scheu des Dichters vor der politischen Revolution wirkt nun ungünstig auf seine dramatische Gestaltungskraft ein. Die Landvögte sind mehr oder minder Theaterbösewichte, die Eidgenossen mehr oder minder Philister.

In erster Reihe gilt beides vom Landvogt Geßler und von Wilhelm Tell. Jener tobt vollkommen sinnlos, dieser aber hat gar kein Herz für die gemeine Not, sosehr er sonst dem einzelnen ein opferbereiter Helfer sein mag; in der Apfelschußszene demütigt er sich vor dem Landvogt weit über die Grenze hinaus, die einem tapferen Mann gezogen ist; die Reverenz vor dem Hute, die im ersten Aufzuge als eine Schmach bezeichnet wird, der kein Ehrenmann sich bequemen könne, will Tell nur aus Unbedacht unterlassen haben; er bittet den „lieben Herrn" um Verzeihung:


Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell,

Ich bitt' um Gnad', es soll nicht mehr begegnen.


Das sagt Tell, noch ehe der Landvogt das grausame Ansinnen an ihn gestellt hat, den Apfel vom Haupt seines Knaben zu schießen, und auch die Führer der Verschworenen vom Rütli zeigen sich in dieser Szene keineswegs auf der Höhe; Stauffacher und selbst der junge Hitzkopf Melchtal geraten in die höchste sittliche Entrüstung darüber, dass Tell die oberherrliche Gewalt des Landvogts verachtet haben sollte, indem er dem Hut nicht Reverenz erwies.

Freilich ist dabei nicht zu übersehen, dass die Gestaltungskraft des Dichters gerade hier durch die Sage gefesselt war, die ihn an den Apfelschuss und die Erschießung Geßlers durch Tell in der hohlen Gasse von Küsnacht band. Die psychologische Begründung der einen wie der anderen Szene bot große Schwierigkeiten, so dass man wohl verstehen kann, weshalb Schiller den Landvogt so über alles Maß grausam und Tell so über alles Maß nachgiebig dargestellt hat. Vermochte die äußerste Demütigung Tells nicht zu verhindern, dass der Landvogt immer neue Foltern für ihn ersann, so war Tells Recht unanfechtbar, dies Untier abzuschießen wie einen Wolf des Waldes, und vor dem Vorwurf des „Meuchelmordes", den selbst Börne erhob, hat Schiller seinen Helden hinreichend geschützt, sei es auch mit sehr gewagten Mitteln. Entschieden des Guten zu viel ist es aber, wenn Tell im fünften Akt nun noch dem Parrizida eine Moralpauke über den politischen Mord halten muss. Diese Szene fiel schon den Zeitgenossen peinlich auf; Goethe schrieb sie „dem Einfluss der Frauen zu", der Frau und der Schwägerin des Dichters, die in mehr oder minder naher Beziehung zum weimarischen Hofe standen.

Eine andere große Schwierigkeit schuf dem Dichter die epische Natur der überlieferten Sage. Goethe war schon vor Schiller auf dem richtigen Wege, als er den Stoff als erzählendes Gedicht behandeln wollte. Völlig hat Schiller diese Schwierigkeit auch nicht überwunden; das Drama zerfällt in drei Stücke, die beiden ersten Akte, die in der Rütliszene gipfeln, den zweiten und dritten Akt, in denen sich der Kampf zwischen dem Landvogt und Tell abspielt, und endlich den fünften Akt, der seinen Schwerpunkt in der Parrizida-Szene hat. Ist diese Szene überhaupt ein entbehrliches und selbst ein unerquickliches Anhängsel, so hat Schiller zwischen den beiden ersten Teilen des Dramas doch eine organische Verbindung herzustellen gewusst, ohne freilich ganz die Schwierigkeiten zu heben, die in der undramatischen Natur des Stoffes lagen.

In den beiden ersten Aufzügen mit ihren breiten Anlagen sehen wir, wie die furchtbare Not, die jeden einzelnen bedroht, alle zusammenführt und sie in der Rütliszene sich zur Masse zusammenballen lässt, die den vernichtenden Stoß auf den Feind führen kann; sie sind die wahren Erretter des Landes, nicht der einzelne, der sich trotzig absondert, weil der Starke am mächtigsten allein sei. Tell kann nur das Signal zur befreienden Tat geben, nicht aber sie selbst vollziehen. Mit weisem Bedacht lässt Schiller seinen Helden nicht mit auf dem Rütli tagen, und nicht in dem fragwürdigen Monolog, durch den Tell sein Gewissen beschwichtigt, ehe er auf den Landvogt schießt, ist dies Drama mit den großen Befreiungskämpfen der Menschheit für und für verbunden, sondern in dem herrlichen Bekenntnis der Männer vom Rütli, worin das Freiheitspathos des Dichters noch einmal aufflammt, leuchtender denn je:


Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst -

Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,

Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht -

Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr

Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -


Mit Recht sagt ein bürgerlicher Denker von diesem Bekenntnis, es entstamme nicht der tragischen Dialektik der Leidenschaften, sondern sei einfache, echt philosophische Wahrheit, die zu allen Zeiten gelte und auf soziale Verhältnisse nicht minder anwendbar sei als auf politische. Es ist das Recht der Revolution, das Recht der Unterdrückten, sich zu helfen, wie sie können und wollen, wenn das Joch der Unterdrücker unerträglich wird, und mit diesen wunderbaren Versen hat Schiller allen Revolutionen die dichterische Weihe gegeben, nicht nur des 14., sondern auch des 18., 19. und 20. Jahrhunderts.

Aber noch in einer anderen Beziehung hat Schiller auch in diesem Drama seinen dichterischen Seherblick bewährt. Zehn Jahre, nachdem er es gedichtet hatte, brach in Deutschlands Gauen der Aufstand aus, den er in der schweizerischen Erhebung schildert, die Empörung der Deutschen gegen die französische Fremdherrschaft. Auch sie war keine politische und keine soziale Revolution; auch sie entflammte erst, als die französischen Eroberer die einzelnen bis aufs Blut gequält und in allen teuersten Empfindungen verletzt hatten; auch sie fand die Deutschen einig, aber nur einig in der Abschüttelung des fremden Jochs, ohne jedes klare Ziel darüber, was danach werden solle, so dass sie eine wehrlose Beute der heimischen Schakale wurden, als der fremde Löwe vertrieben worden war. Hieraus erklärt sich die große Volkstümlichkeit, die Schillers Drama in den Jahren gewann, wo die napoleonischen Heere auf deutschem Boden hausten, aber hieraus erklärt sich auch, dass es in den Jahren der Enttäuschung nach den sogenannten Freiheitskriegen, als die aufgeweckten Elemente der bürgerlichen Klassen sich auf sich selbst zu besinnen begannen, harte Urteile hervorrief, wie wir deren eins aus Ludwig Börnes Munde gehört haben.

Jedoch auch Börne schrieb: „Aus Schillers liebevollem weltumflutendem Herzen entsprang Tells beschränktes häusliches Gemüt und seine kleine enge Tat; die Fehler des Gedichtes sind die Tugenden des Dichters … Dem liebenswürdigen Schiller stehen seine Fehler besser als besseren Dichtern ihre Vorzüge an. Wilhelm Tell bleibt doch eines der besten Schauspiele, das die Deutschen haben. Es ist mit Kunstwerken wie mit Menschen; sie können bei den größten Fehlern liebenswürdig sein." Und wir, die wir weit hinaus sind über die politischen Stimmungen und Verstimmungen, die einst durch dieses Drama erregt worden sind, können uns seiner unbefangen freuen, als eines farben- und gestaltenreichen Weltbildes, das die noch einmal mächtig aufflammende Phantasie des Dichters, der die Schweiz mit leiblichen Augen niemals gesehen hat, in seltener Treue zu gestalten wusste.

Kritik und Kunst decken sich niemals völlig; zumal auf der Bühne hat der zergliedernde Verstand nicht das letzte Wort, und ein Glück, dass dem so ist! Was sich gegen die Apfelschußszene, was sich gegen die Szene in der hohlen Gasse bei Küsnacht kritisch sagen lassen mag, so werden Menschen von gesundem und natürlichem Gefühl immer ergriffen werden, wenn der Vater gezwungen wird, auf das Haupt des Kindes zu zielen, und wenn der grausame Wüterich unter dem Pfeile des Rächers dahinsinkt; vor allem aber das Bekenntnis vom Rütli wird immer die geheimste Fiber in der Seele des modernen Revolutionärs erzittern lassen.

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