Franz Mehring 19090219 Der Klassiker des verpreußten Deutschlands

Franz Mehring: Der Klassiker des verpreußten Deutschlands

19. Februar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 791/792. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 106 f.]

Die bürgerlichen Blätter ergehen sich seit einigen Wochen in langen Nachrufen auf Ernst v. Wildenbruch, den sie als nationalen Dichter oder gar als nationales Gewissen feiern. Sie verwahren ihn dagegen, ein „Hofdichter" gewesen zu sein; er habe die Hohenzollern gefeiert, aber nur aus einem gewissen Familiengefühl, da er selbst ein Hohenzoller gewesen sei, er sei ein aufrechter Mann gewesen und kein Byzantiner.

In der Tat muss der heimgegangene Dichter, wenn man ihn so nennen darf, durch das Lob geehrt werden, dass er seinen Nacken nicht vor den Mächtigen gebeugt hat; als ihm durch einen Machtspruch des Kaisers ein Schillerpreis zuerkannt wurde, den die Sachverständigenkommission für Gerhart Hauptmann bestimmt hatte, war er stolz genug, die Summe der Schiller-Stiftung zu überweisen. Auch sonst hat Wildenbruch mannigfach gezeigt, dass er kein Kriecher und kein Streber war. Aber dennoch – wenn er mit seiner Janitscharenmusik zu Ehren der Hohenzollern loszurattern begann, so hatte man Mühe, den ruchlosen Gedanken abzuweisen: wie gerne würde man ihm ein bisschen Byzantinismus nachsehen, wenn er nur ein bisschen Geschmack und Talent aufzubieten hätte. Was hat er alles, um nur eines zu erwähnen, mit dem alten Wilhelm angestellt! In einem „nationalen Festspiele" lässt er den Sieger von Jena vor dem zehnjährigen Knirps erbeben:


Wie er da steht,

An meinem Schwerte gemessen

Kaum so lang wie ein Salm,

Der Groller, der Woller, der Willehalm,


und dem Neunzigjährigen widmete er den Nachruf aus dem Gebiss des Leibgauls:


Nimmer wiehr' ich mehr – Gram mein Herz zernagt,

Weil mein Herr und Kaiser nicht mehr nach mir fragt.


Öderen Schwulst hat noch kein Hofdichter produziert. Und es hilft auch nichts, die angeblich hohenzollernsche Abstammung Wildenbruchs als mildernden Umstand anzuziehen. Denn mit dieser Abstammung sah es nur soso aus. Wildenbruch war unzweifelhaft ein Enkel des Prinzen Louis Ferdinand, aber umso zweifelhafter ist, ob Louis Ferdinand ein Hohenzoller war. Die Mutter dieses Prinzen hatte nicht zu Zelindens Wahlspruch geschworen: Nur auf legitime Weise wünsch' ich mir ein kleines Kind. Ihr Herzallerliebster war der Graf Schmettau, den seine Kameraden von der Garde „Minna v. Barnhelm oder das Soldatenglück" zu nennen pflegten. Übrigens bekundeten Prinz Louis Ferdinand und seine Schwester Luise ihren illegitimen Ursprung auch dadurch, dass jener ein Freund Rahels und diese eine Freundin Steins war; so was passiert echten Hohenzollern nicht.

Lassen wir also den „Hohenzollern" Wildenbruch! Da er aber ein Mann war, so war seine Begeisterung auch echt, und eben das war sein Unglück als Dichter. Er schwärmte ehrlich für das verpreußte Deutschland, und dieser Gegenstand seiner Liebe spiegelt sich allzu getreulich in seiner Dichtung wider: in ihrem nüchternen Rausch, in ihrer blühenden Greisenhaftigkeit, in den rauschenden Schleppen ihrer Form, die immer nur gemeinen Straßenstaub auffegten, in dem Tamtam der Worte ohne eine Spur von Gedanken, in der Einbildung ohne bildende Kraft. Die offizielle Germania war die Muse Wildenbruchs, und in seiner Schwärmerei für sie war keine Faser von eigennütziger Falschheit, aber ebendeshalb!

Wenn Gottfried Keller von Wildenbruchs Dramen den Eindruck hatte, als ob Wildenbruchs „seliger Mitbürger Kleist auferstanden wäre und mit gesundem Herzen fortdichtete", so hat der Züricher Homer auch einmal geschlafen. Um Sternenweite war Wildenbruch von den Kleist und Hebbel entfernt, wie er selbst einmal unbewusst offenbarte, durch das Geständnis, erst mit der Aufführung beginne das eigentliche Werk des Dramatikers; die ursprüngliche Kraft, die den Dramatiker zum Schaffen treibt, war ihm völlig fremd. Er war ein Macher, kein Schöpfer.

In die Literaturgeschichte gehört er nur mit einigen seiner Balladen und Erzählungen, die ein kleines Talent freundlich bekunden. Doch in der Kulturgeschichte hat er seinen breiten Platz. Wenn sich nach hundert Jahren freie und glückliche Menschen nicht werden vorstellen können, wie es im verpreußten Deutschland aussah, so brauchen sie nur Wildenbruchs Werke aufzuschlagen, und die ganze Geistesöde der neudeutschen Reichsherrlichkeit wird ihnen entgegen gähnen.

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