Franz Mehring 19101104 Fritz Reuter

Franz Mehring: Fritz Reuter

4. November 1910

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 161-165. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 82-87]

In diesen Spalten ist schon gelegentlich darauf hingewiesen worden, auf wie tiefem Niveau die bürgerliche Literaturgeschichte steht, selbst nur an den Leistungen der bürgerlichen Geschichtschreibung überhaupt gemessen. An jeden irgend namhaften Dichter hängt sich ein Schwärm von Blutegeln, die ihm jeden Tropfen frischen Blutes aus den Adern zu saugen bemüht sind, um ihre eigene Nichtigkeit damit aufzuschwellen. Dies Gleichnis hinkt freilich insofern, als den Blutegeln der Konkurrenzneid fehlt, womit die Biographen und Kommentatoren desselben Dichters aufeinander losfahren, was dann freilich auch wieder dazu gehört, um das Geschäft möglichst lange im Schwunge zu erhalten.

Es gibt gewiss ehrenwerte Ausnahmen, aber eine klägliche Kleinkrämerei auf der einen und ein wahrhaft widerwärtiges Byzantinertum auf der anderen Seite sind im allgemeinen die Kennzeichen der bürgerlichen Literarhistorie. Je nach Gelegenheit und Zeit tritt bald die eine, bald die andere mehr in den Vordergrund. Während, um neueste Beispiele heranzuziehen, der Hauptausschlachter Lessings sich bei der Jahrhundertfeier der Berliner Universität in höfischen Bocksprüngen überbot, veranstaltete der Hauptausschlachter Reuters zur Jahrhundertfeier von dessen Geburt, die auf den 7. November dieses Jahres fällt, eine sogenannte Reuter-Ausstellung, worauf er die Asche der letzten Zigarre, die Fritz Reuter geraucht hat, ausgekämmte Haare von Reuters Frau und ähnliche Reliquien zur Anbetung für die Gläubigen ausstellt. Dieser Ausstellung ist das preußische Abgeordnetenhaus eingeräumt worden, und die bürgerlichen Blätter haben mit aller Andacht darüber berichtet. Immerhin mit einer Ausnahme, der „Hilfe", die aber auch die Zeichen der Zeit missversteht, wenn sie schreibt: „Es ist ein Skandal, dass man mit derlei subalternen Geschmacklosigkeiten heute noch bei uns an die Öffentlichkeit heranzutreten wagen darf." Nicht „noch", sondern „schon" muss es heißen, denn solch Symptom gräulichen Verfalls wäre vor zwanzig Jahren noch unmöglich gewesen.

Herr Professor Gaedertz, der diese Ausstellung veranstaltet hat, wie er schon seit Jahren oder selbst seit Jahrzehnten mit Reuter krebst, ist natürlich auch Byzantiner, wie er im Buche steht. Seine Schriften über Reuter und seine Reuter-Kalender, die er, wenn wir nicht irren, jährlich herausgibt, ersterben in untertänigster Bewunderung für die „hohen Herrschaften"; man hört förmlich die Schauer der Ehrfurcht durch die professoralen Gebeine rasseln, wenn die gnädigen Blicke registriert werden, die irgendein preußischer Prinz oder irgendein mecklenburgischer Herzog auf Reuter geworfen hat. Man vergleiche beispielsweise die Biographie Reuters, die Herr Gaedertz bei Reclam veröffentlicht und einigen kaiserlich königlichen Hoheiten gewidmet hat, mit der Biographie, die vor dreißig Jahren Adolf Wilbrandt als Einleitung zu Reuters gesammelten Werken geschrieben hat, und man wird abermals erkennen, wie tief wir seit dreißig Jahren gesunken sind.

Wilbrandts fleißige und tüchtige Arbeit wurde ihrerzeit von Guido Weiß in der „Wage" besprochen, und einige Sätze dieser Kritik mögen hier wiederholt werden, da sie unseres Erachtens das Treffendste enthalten, was je über Reuter geschrieben worden ist:

Mit dem Schwersten sei begonnen: mit einer Verwahrung. „Den größten deutschen Humoristen des Jahrhunderts" nennt Herr Wilbrandt unseren Dichter, und darüber haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Soll damit, wie es nach den vorangehenden Zeilen scheint, die für alle Mecklenburger den „Humor" in Anspruch nehmen, nur das unverwüstlich heitere Temperament gemeint sein, das auch dem Schlimmsten noch eine leidliche Seite abzugewinnen weiß, so ist mit diesem Lobe entschieden zu wenig gesagt gegenüber dem Dichter von „Kein Hüsung"; hatte dagegen der Biograph den Humor als bewusste Weltanschauung im Sinne, so wäre es unrecht, Reuter mit diesem Maßstab zu kränken. Ohne uns hier mit den allesamt verunglückten Definitionen des „Humors" aufzuhalten, von Heines „lachender Träne" bis zu Jean Pauls „unter den Ähren nistenden, über den Wolken singenden": soweit wird die Sache von Missverständnis frei sein, dass der Humor, der echte des Sterne und des Jean Paul, nicht eine in die Wiege gelegte glückliche Naturgabe ist, sondern die langsam reifende Frucht der Studien an sich selber und an der Welt. Es ist durchaus kein Zufall in der oft unschönen Fülle gelehrter Zitate in dem englischen und dem deutschen Humoristen, das „Durchstudieren der großen und kleinen Welt" hat eben gehört zu der sinnigen Resignation, es am Ende gehen zu lassen, wie's Gott gefällt.

Eine merkwürdig große Naturanlage, Humorist in unserem Sinne zu werden, ist unzweifelhaft Reutern beschert gewesen, seine Gabe des Komischen ist die größte in der deutschen Literatur, des Sentimentalen ist er Meister, und im düsteren Pathos weiß er der heimischen Mundart ungeahnte Effekte abzugewinnen. Aber diese prachtvollen Talente sind ihm nicht Mittel zu einem Höheren geworden, nicht der ästhetischen Zucht, sondern einem Instinkt hat er sie anheimgegeben, der meistenteils ihn glücklich beriet, aber auch ebenso unbefangen neben dem Schönen das Geschmacklose und Hässliche bestehen ließ. So wuchert ihm in das Beste hinein seine Lust am alten und schlechten Witze, dem Kalauer und dem Meidinger, so weiß er psychologische Entwicklung und Verwicklung nicht zu zeichnen; er schürzt seine Konflikte nicht in den Satzungen der Seele und Sitte, sondern in den allerprosaischsten des Strafgesetzes – Wilbrandt hebt das an „Kein Hüsung" hervor; die kriminalistischen Episoden in „Hanne Nüte" und der „Stromtid" lassen sich dem zur Seite stellen – oft auf das ungeschickteste. Nirgends eine Stelle, ein Wort, dem man nach-denken, die man wieder aufschlagen möchte, und wo Stoff und Situation zu idealer Erhebung drängen, da tritt die bare Ohnmacht hervor. Daher das allgemeine Missbehagen an den „Montecchi und Capuleti", die an sich ja ein köstlich wahres und köstlich unwillkürliches Spottbild Stangenscher Reisegesellschaften sind, bei denen aber Tyll in Hellas gar kläglich verstummt. Freilich hängt mit diesen Fehlern auf das innigste die freudige Aufnahme zusammen, die der Dichter bei dem deutschen Publikum gefunden hat, das so gern ein Strämel weint, ein Strämel lacht und dann das Buch abgetan zuklappt. Lieber noch, weil bequemer, ist es, die hübschen Geschichten vorlesen zu hören – einsam liest man nur Bücher, bei denen man bisweilen innehalten und nachdenken muss –, nun, und die Reuter-Vorleser haben ja nicht gefehlt. Aber dem Kapitol fehlt auch nicht der tarpejische Fels, und undankbar ist dies leicht ergötzte Publikum. Was in die Mode gekommen, muss sich ihrem Gesetze der Vergänglichkeit fügen, und wir zweifeln, ob diese Generation sich die Mühe nehmen wird, bei ihrem Dahinscheiden auch der nachfolgenden das Interesse an diesen Dichtungen anzuempfehlen. So kommt in zehn, in zwanzig Jahren die „unverdiente Vergessenheit".

Aus widerwilligem Herzen ist dieser Exkurs gekommen und nur gereizt durch Wilbrandts anfechtbares Wort. Denn, wie auch die Zukunft damit walte, wir in der Gegenwart haben uns dieser genialen Naturkraft weidlich erfreut, und Onkel Bräsig samt dem alten Moses bis auf Bauschan herunter sind uns liebe und vertraute Freunde.

Auch sonst haben sich die Demokraten vom alten guten Schlage, selbst wenn sie, und gerade wenn sie literarische Feinschmecker waren, wie Guido Weiß und Franz Ziegler, immer etwas kritisch zu Reuter gestellt; Ziegler meinte mit bitterem Spotte, Reuter erweise sich auch darin als echter Deutscher, dass er über eine so infame Rechtsverhöhnung, wie die preußische Demagogenverfolgung, noch scherzen könne. Von Freiligrath ist uns kein Urteil über Reuter bekannt, aber gleichzeitig mit Reuters „Festungstid" erschienen die Denkwürdigkeiten Arnold Ruges über die Festungszeit, die er ebenso lange, wie Reuter als verfolgter Demagoge, in den Kasematten von Kolberg vertrauern musste, und an Ruge schrieb Freiligrath: „Ihre Kerkergeschichte ist ein wichtigster Beitrag zur Kenntnis jener heillosen Zeit, und der dreiste Humor, den Sie der Misere und den Halunken gegenüber zur Geltung bringen, macht einen wahrhaft erhebenden Eindruck. Ein frischer Hauch der Freiheit und des heiteren, nicht zu beugenden Mannesmuts weht uns aus diesen Gefängnisblättern entgegen. Sie sagen es nicht bloß: man sieht und fühlt es, dass die Schufte Sie nicht untergekriegt haben, dass im Gegenteil das Gefängnis Sie frei gemacht hat." Es ist charakteristisch für die Tage der preußischen Konfliktszeit, dass Ruges Schilderung, obgleich sie auch rein literarisch, und namentlich durch ihren „dreisten Humor", über Reuters Schilderung steht, fast unbeachtet blieb, während Reuters Buch wahre Beifallsstürme entfesselte. Ruge war eben wirklicher Burschenschafter gewesen und vertrat die – in aller teutonischen Beschränktheit – revolutionären Überlieferungen der Burschenschaft, während Reuter nur als tapferer Zecher in die Burschenschaft geraten war und ihr historisches Wesen niemals verstanden hat. Deshalb machte Ruges Erzählung – rein literarisch, denn politisch gehört unser Herz unserem Wilhelm Wolff, der, eine dritte Spezies von burschenschaftlichem Demagogen, den grimmen Hass gegen alle Unterdrückung aus der Festung Silberberg, wo er Reuters Leidensgefährte war, mit ins Leben nahm – einen „wahrhaft erhebenden Eindruck", während Reuters „Festungstid" trotz aller lustigen Schnurren schließlich nur einen niederziehenden Eindruck macht.

Sicherlich erscheint die Grausamkeit der preußischen Demagogenverfolger noch viel ruchloser, wenn sie sich nicht gegen ernsthafte Gegner, sondern gegen einen feuchtfröhlichen Studenten richtete, von dem die Elenden selbst in ihren Protokollen sagten, er sei nicht für den Staat, sondern höchstens für sich selbst gefährlich. Aber wenn es dem guten Herzen des Menschen Reuter alle Ehre macht, dass er den Hass gegen diese Schurken zu überwinden verstand, so ist es dem Dichter Reuter nicht gelungen, und konnte ihm auch nicht gelingen, die teufliche Bosheit, die ihm seine Jugend zerstörte, „im verklärenden Lichte des Humors" zu zeigen, wie seine bürgerlichen Bewunderer behaupten. Die „Festungstid" hat nichts von echtem Humor; ihre Grundfarbe ist vielmehr eine sentimentale Weinerlichkeit darüber, dass harmlose Jünglinge, die sich just darauf versteiften, schwarzrotgoldene Bänder zu tragen, deshalb in Kerkern vergraben wurden oder gar aufs Schafott geschickt werden sollten. Jedoch diese sentimentale Weinerlichkeit passte ausgezeichnet zu der sentimental-weinerlichen Politik, die die Fortschrittspartei in der preußischen Konfliktszeit trieb, nur dass sie mit viel größerem Rechte als ehedem die Burschenschaft darüber klagen durfte, dass Bismarck an ihre absolute Harmlosigkeit nicht glauben wolle.

Es ist ein unzweifelhaftes Verdienst Treitschkes, dass er in seinem Geschichtswerke die Burschenschaft wieder in ihre historischen Ehren eingesetzt hat, selbst wenn es nicht geschehen sein sollte, um der historischen Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen, sondern um die Demagogenverfolgungen zu beschönigen. In anderer Beziehung ist Treitschke dann freilich ein Vorläufer des Herrn Gaedertz gewesen. Am Schlusse seines berüchtigten Pamphlets gegen den Sozialismus wurde er nach allem tobendem Geschimpfe rührselig und schrieb: „Wenn mir zuweilen schwindlig ward vor all den zerfließenden Glückseligkeitsbildern im Zauberspiegel des Sozialismus, dann hab' ich mich erholt bei deiner Einfalt, du warmherziger und wahrhaftiger Freund unseres armen Volkes, alter treuer Fritz Reuter! Tausende weinten bei deinem Tode, denn von dir hatten sie erfahren, wie reich und ehrenvoll ihr kleines Leben und wie segensreich der alte Fluch der Arbeit ist." Wenn man dies Zeug liest, möchte man mit Onkel Bräsig ausrufen: dass du die Nas' ins Gesicht behältst! Erfreulicherweise hat Schmoller den Humbug sofort abgetan, indem er antwortete: „Als ob Onkel Bräsig und der biedere Havermann hungernde Proletarier gewesen wären, als ob die ganze Reutersche Poesie sich nicht in jenen mittleren Kreisen der Gesellschaft, in jenen Kreisen wohlhabender Bauern und Pächter, Dorfschulzen und Kleinbürger bewegte, die eben durch die moderne Entwicklung bedroht sind." Das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Welt, die Reuter schildert, ist die Welt, aus der sich der Bund der Landwirte seine Kerntruppen holt; nicht nur die Pomuchelskopp oder die Axel v. Rambow oder die Fritz Triddelfitz, sondern auch die Franz v. Rambow und die Bräsig und die Havermann würden heute begeisterte Leser der „Deutschen Tageszeitung" sein. Den liberalen Neunmalweisen, die sich einbilden, dass der Bund der Landwirte nur das demagogische Machwerk einiger verschmitzter Junker sei, kann Reuters „Stromtid" nicht nur zum ästhetischen Genuss, sondern auch zur politischen Erbauung empfohlen werden.

Damit soll durchaus kein Schatten auf Reuter geworfen, sondern nur seine dichterische Eigenart bestimmt werden, was doch der letzte und am Ende der einzige Zweck aller Literaturgeschichte ist. Sicherlich hatte der Mensch Reuter ein gutes Herz und aufrichtiges Mitleid mit den Armen und Elenden, aber das einzige Mal, wo er ihre Sache zu führen unternahm, kam er auch über sentimentale Weinerlichkeit nicht hinaus, indem er den misshandelten Knecht, der seinen Herrn in gerechter Notwehr erschlägt, von allen Furien des Gewissens peitschen lässt. „Kein Hüsung" steht ästhetisch tief unter der „Stromtid". Wohl ist diesem Dichter nur in jener ländlichen Mittelklasse, die dem auch von ihr ausgebeuteten Proletariat im günstigen Falle ein überlegen lächelndes Wohlwollen spendet und dem Junkertum eine leichte Opposition macht, mit dem Vorbehalt, ein Herz und eine Seele mit ihm zu sein, sobald es zum Klappen kommt. Es stimmt ganz dazu und ist durchaus glaubhaft, dass Reuter, wie einige seiner bürgerlichen Verehrer berichten, auf Lassalles Agitation räsoniert haben soll wie der erste beste Bourgeois.

Ein „Volksdichter" im Sinne der notleidenden Massen ist Reuter nie gewesen. Bismarck hat ihn freilich sogar den „ausgewählten Volksdichter" genannt, der Freiheit und Leben stets dem Vaterland zu opfern bereit gewesen sei, aber das war nur die Gegenstrophe zu Reuters Strophe, wonach Bismarck durch die Schlacht bei Königgrätz alle Träume seiner Jugend in sonnenscheinglänzende Wirklichkeit verwandelt habe. Später hat Bismarck einmal, als an seinem Tische die Frage erörtert wurde, ob Reuter ein namhafter Dichter sei, an seinem Teile gemeint: „Hm, 't is all so, as das Ledder is, aber so, wie er die Landleute schildert, so sind sie wirklich." Das ist im Wesentlichen richtig, mit der Einschränkung, dass es vorzugsweise die Leute des ländlichen Mittelstandes sind, die Reuter trefflich schildert, und zwar mehr mit der Kamera des Photographen als mit dem Pinsel des Malers.

Von jenem Eigenen, das der Dichter nach einem treffenden Worte Anzengrubers dazu geben muss, wenn ein dichterisches Bild entstehen soll, besaß Reuter allzu wenig oder, um mit Wilbrandt und Guido Weiß zu sprechen: in psychologischer Entwicklung und Verwicklung stand es schwach mit ihm, und seine Konflikte in den Satzungen der Seele und der Sitte zu schürzen, war nicht seine Sache. Mit Anzengruber lässt er sich nicht vergleichen; was will Onkel Bräsig gegen den Steinklopferhannes oder den Wurzelsepp besagen? Eher mit Rosegger, dem er auch darin ähnelt, dass sich beide ihre bescheidene Ecke richtig eingegittert haben, indem sie auf der Höhe ihrer Tageserfolge mit souveräner Herablassung von Heinrich Heine sprachen.

Seine Ernte war reichlicher als seine Saat, aber wer wollte mit dem Schicksal hadern, das ihm im Alter mit übervollen Händen doch nicht ersetzen konnte, was tückische Diebesfinger seiner Jugend geraubt hatten?

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