Franz Mehring 18950200 Kein Hüsung

Franz Mehring: Kein Hüsung

Ein Volksschauspiel in vier Aufzügen Mit freier Benutzung der gleichnamigen Dichtung Fritz Reuters von Hermann Jahnke und William Schirmer

Februar 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 6, S. 3-7. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 88-91]

Seit zwei Jahren ist aus der Mitte unseres Vereins oft die Bitte an den Ausschuss gerichtet worden, das Volksschauspiel von Jahnke und Schirmer, das vor vier Jahren einen so großen Beifall gefunden hat, einmal zu wiederholen. Der Ausschuss glaubte dieser Bitte nicht allzu schnell entsprechen zu sollen, teils um die Wiederholungen nicht zu häufen, teils auch in der Besorgnis, dass ein Schauspiel, das schließlich doch nur die dramatische Bearbeitung einer epischen Dichtung ist, unsere Mitglieder, die inzwischen so manches originale Meisterwerk gesehen und dadurch ihr künstlerisches Verständnis gefördert haben, nicht mehr so ansprechen würde wie bei der ersten Aufführung. Indessen, nachdem er sich durch mannigfache Umfragen überzeugt hatte, dass wirklich in weiten Kreisen des Vereins ein lebhaftes Verlangen nach der Wiederholung von „Kein Hüsung" besteht, hielt er nunmehr die Zeit für gekommen, jenen Wünschen zu entsprechen.

Die dramatischen Bearbeiter haben sich aufrichtig bemüht – und ein höheres Lob kann ihnen nicht gespendet werden –, den poetischen Gehalt von Reuters erschütternder Dichtung ungeschmälert in dramatische Formen zu gießen. Sie haben nichts Wesentliches fortgelassen, wenn sie natürlich auch, um den Anforderungen der Bühne zu entsprechen, diese oder jene Episode ausscheiden, die eine oder die andere Gestalt einschieben, die einzelnen Motive und Szenen anders ordnen mussten. Was ihre eigentliche Aufgabe war, nämlich mit dramatischen Mitteln dieselbe Wirkung zu erzielen, die Reuter mit epischen Mitteln erzielt hat, das ist ihnen im allgemeinen recht gut gelungen. Nur in einem Punkte lässt sich ihnen der Vorwurf machen, dass sie allzu getreu auf Reuters Spuren einhergegangen sind: das ist in der Schlussszene. Es macht einen befremdenden Eindruck, dass Marie ihren Geliebten auf der Flucht ins Ausland nicht begleiten will, weil er ein „Mörder" ist. Dieser Fehler findet sich schon in Reuters Dichtung und bildet ihre Achillesferse.

Um nicht in den heutzutage etwas gefährlichen Verdacht zu kommen, einen „Mörder" zu verteidigen, lassen wir Reuters Biographen, Adolf Wilbrandt, einen sehr loyalen und nichts weniger als revolutionär gesinnten Schriftsteller, über den Punkt sprechen. Er schreibt: „Wenn ich zum Inhalt (von ,Kein Hüsung') komme, so finde ich den Dichter, aus allzu großem Gerechtigkeitstriebe, nicht gerecht. Sein tragischer Held, der Knecht Johann, kann die Geliebte nicht zu seinem ehrlichen Weibe machen, weil der Herr ihm keine Heimstätte geben, aus tyrannischem Willen auf seinen Gütern nicht freien lassen will; alles Bitten, jede Beschwerde, jede Anrufung anderer Mächte ist nutzlos. Von furchtbaren Gesetzen und einem noch furchtbareren Herrn zu Boden getreten, in jeder guten Regung verwundet, aus der Liebe heraus in den Hass gehetzt, endlich nur noch von der Wut der Verzweiflung erfüllt, steht er im gefährlichsten Augenblick diesem Unmenschen, der noch sein ,Herr' ist, gegenüber, fühlt dessen Peitsche in seinem Gesicht und – stößt ihn nieder. Ein einziger blinder Stoß, doch der Stoß ist Tod. Vor welchem Tribunal hieße das ,Mord'? Dieser Totschlag – mit so sicherer fester Hand als etwas Unausweichbares vom Dichter herbeigeführt –, warum wird er nun wie ein Mord gebüßt? Warum verfolgt er den Flüchtling wie ein unsühnbarer Fluch, warum darf seine Geliebte, die Mutter seines Kindes, nicht mit ihm über den Ozean fliehen? Weil es heißt: Herr oder Knecht? Danach darf der Dichter nicht fragen, der nicht nach dem geschriebenen, sondern nach dem unsichtbaren Rechte richtet. Ein wackerer, unverdorbener, zerquälter Mensch schlägt einen Unmenschen, Streich mit Streich erwidernd, in blindem Ungefähr tot: diese Schuld ist so klein, dass kein ehrliches Weib darum zaudern sollte, dem geliebten Manne in die Verbannung zu folgen. Schaudert sie dennoch oder lässt sie sich durch anderer Meinung zurückschrecken – so ist mein tragisches Mitgefühl dahin, so sehe ich eben nur die arme Seele einer Dorfmagd, die das Schicksal zertritt." So Wilbrandt. Immerhin macht sich der Riss in Reuters Dichtung selbst nicht so fühlbar wie in ihrer dramatischen Bearbeitung. Denn einmal spricht Reuter, innerlich schwankend, mehr als eine Meinung über Tat und Schuld aus, und dann lässt er Marie nach neuen Misshandlungen durch ihre Herrschaft einer geistigen Umnachtung verfallen und eines freiwilligen, rührend sanften Todes sterben. War dies Motiv für die dramatischen Bearbeiter nicht verwertbar, so hätte das Schwanken des Dichters in der Schuldfrage sie umso mehr ermutigen sollen, Marie an der Seite ihres Geliebten in ein freies Land wandern zu lassen.

Reuter dichtete „Kein Hüsung" im Jahre 1857 in Neubrandenburg, als er nach der langen Irrfahrt seines Lebens einerseits die ersten dichterischen Erfolge und so viel Muße gewonnen hatte, um größere Schöpfungen zu wagen, andererseits aber noch den Schmerz der Wunden fühlte, die ihm Hunger und Not seiner elenden Schulmeisterzeit geschlagen hatten. Später, als ihn die Bourgeoisie anzuerkennen und zu feiern begann, hat er nie wieder so starke Akzente für die Kämpfe und Leiden des Proletariats gefunden. Doch gereicht es ihm zur Ehre, dass er bis an sein Lebensende „Kein Hüsung" über alle seine anderen Werke stellte. „Ich habe dieses Buch", so schrieb er einem Freunde, „einmal mit meinem Herzblut im Interesse der leidenden Menschheit geschrieben; ich halte es für mein bestes." Dies schrieb er, nachdem er alle seine Hauptwerke vollendet hatte, und dies auch von anderen berufenen Urteilen bestätigt zu hören war sein Wunsch und sein Glück.

Der soziale Hintergrund, auf dem sich „Kein Hüsung" abspielt, war zu Reuters Zeit eine traurige Wahrheit und ist es zum großen Teile heute noch. Mecklenburg ist das Paradies des Junkertums, hier herrschte und herrscht es noch fast unbedingt. Seine despotische Herrschaft über die ländliche Bevölkerung datiert namentlich seit dem Dreißigjährigen Kriege, der ihm massenhaft die verzweifelten Bauern als Fronpflichtige und Leibeigene zutrieb und ebenso massenhaft zur Einziehung von Bauernland in den Rittergutsbetrieb führte. Das Jahr 1848 erschütterte nur vorübergehend den Junkertrotz. Gerade in den fünfziger Jahren, als Reuter „Kein Hüsung" schrieb, wuchs er sich wieder mächtig aus. Das entsetzliche Prügelgesetz, das auf Betreiben der Ritterschaft die Regierung im Jahre 1852 erließ, mag für Reuter der Anstoß zu dem Gedanken gewesen sein, das Menschenrecht des Knechts gegen das Prügelrecht des Herrn dichterisch zu vertreten.

Jenes Gesetz verhängte die Prügelstrafe in einer Unzahl von Fällen, über Betteln, über Forstfrevel, über Beleidigungen der Obrigkeit und ihrer Diener, über viele andere kleinere Vergehen. Es gestattete den Gutsherrschaften, in eigenen Angelegenheiten ihre Dienstangehörigen mit Stockprügeln zu bestrafen. Ein anonymer Schriftsteller, der die Schilderung dieser Zustände nur im deutschen Auslande wagen durfte, fragte damals: „Haben wir da nicht vollständige Leibeigenschaft? Und wie triumphierte die Junkergesellschaft! Wie eine Schar wilder Koppelhunde, die auf ein armes Wild losgelassen wird, so hüpften sie von Entzücken. Denn prügeln wollten sie, um Recht und Gesetz war es ihnen nicht zu tun – wie auch einer jener Normaljunker sich vernehmen ließ –, nur um die Prügel." An ein Entrinnen war für die armen Opfer dieser Scheusale schwer zu denken. Eine Möglichkeit, ein freies ländliches Eigentum zu erwerben, gab es in Mecklenburg nicht. Parzellierung und Zusammenlegung von Grundstücken, das Bauen von Mietswohnungen konnten nur mit Genehmigung der Gutsherrschaft erfolgen; diese bestimmte Grenze und Größe der Grundstücke. Eine Freizügigkeit, ein freies Niederlassungsrecht bestand nicht; das Armenrecht, auf dem Heimatsrecht beruhend, war ganz verkommen und verwildert. Man kann sich danach das Schicksal der ländlichen Tagelöhner ausmalen, deren Arbeitsherren überall zugleich prügelberechtigte Obrigkeiten waren.

Johann Schutt zahlte mit seiner raschen Tat für eine endlose Kette scheußlicher Misshandlungen, die seine Klasse seit Jahrhunderten erduldet hatte, und es war ein Schrei aus dem Herzen eines tapferen Mannes, als er von der Heimat schied mit dem Rufe: Fluch äwer dit verdammte Land!

Kommentare