Franz Mehring 19101209 Lose Blätter (Wilhelm Raabe)

Franz Mehring: Lose Blätter

(Wilhelm Raabe)

9. Dezember 1910

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 350/351. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 96-98]

Als der siebzigste Geburtstag Wilhelm Raabes gefeiert wurde, hat auch die „Neue Zeit" seiner gedacht, und dem, was damals zu seinen Ehren in diesen Spalten gesagt wurde, hätten wir wenig hinzuzufügen, nun da der Dichter an der Schwelle des neunten Lebens Jahrzehnts gestorben ist.

Seitdem Hebbel durch die „Chronik der Sperlingsgasse", das erste Werk Raabes, an Jean Paul erinnert wurde, ist es herkömmlich geworden, den Dichter mit Jean Paul zu vergleichen, und in allen Nekrologen Raabes, soweit wir sie gelesen haben, ist dieselbe Note wieder und wieder angeschlagen worden. Aber dabei wird immer eins übersehen, nämlich, dass Jean Paul nach der Art der echten Humoristen die große und die kleine Welt seiner Zeit studiert hatte, während Wilhelm Raabe sich immer nur auf die kleine Welt beschränkt hat, und dazu in einer Zeit, wo die große Welt sich immer breiter entfaltete und die kleine Welt immer enger zusammenschrumpfte.

Man kann sogar sagen, dass Jean Paul in der engen, stillen Heimlichkeit der Fixlein und Wuz viel weniger heimisch war als in dem Lärm der großen Welt. Kaum einer der deutschen Dichter, selbst nicht einmal Goethe, hat mit so vielen fürstlichen Persönlichkeiten verkehrt – und sie stellten zu seiner Zeit die große Welt dar – wie Jean Paul. Nicht nur an den kleinen thüringischen Höfen in Gotha, Coburg, Meiningen, Hildburghausen, auch an den Höfen von München und Stuttgart, beim Primas Dalberg und der Herzogin von Kurland, ja selbst an dem banausischen Hofe von Berlin ist er mehr oder minder heimisch gewesen, hat er mit den fürstlichen Persönlichkeiten für kürzere oder längere Zeit fast auf du und du gestanden, hat sich an den höfischen Huldigungen berauscht, die ihm dargebracht wurden, und sie mit dem feurigsten Schwunge seiner dichterischen Phantasie erwidert. Seine „Seelenbräute" waren fast unzählbar wie Sand am Meer, und wenn man nur die wichtigsten zusammennimmt, die gerade ein Dutzend ausmachen, so waren sie alle von Adel, meist sogar Baroninnen, Gräfinnen und Fürstinnen, mit der einzigen Ausnahme, was in seiner Weise denn auch wieder die Zeit kennzeichnet, seiner späteren Frau.

Diese Freude an der großen Welt, die bei Jean Paul die Freude an der kleinen Welt nahezu überwiegt, fehlt bei Wilhelm Raabe. Für die große Welt seiner Zeit, den modernen Weltverkehr mit seinen tausend großartigen Erscheinungen, hat er kein Auge und kein Verständnis gehabt wie Jean Paul für das, was zu seiner Zeit die große Welt war. Raabe hat deshalb auch nie entfernt den großen Einfluss auf seine Zeit gewonnen, wie Jean Paul auf die seine gehabt hat. Wenn gleichwohl Jean Paul heute nicht mehr gelesen wird, so ergibt sich die Ursache aus dem bekannten Worte Buffons: „Nicht die Vortrefflichkeit des Inhaltes sichert einem Buche die Unsterblichkeit, sondern die künstlerische Form; die gut geschriebenen Werke allein gelangen zu den nachfolgenden Geschlechtern." Und ein zeitgenössischer Kritiker, der Däne Jens Baggesen, ein entschiedener Verehrer Jean Pauls, urteilte schon zu dessen lebhaftem Verdruss beim Erscheinen des „Titan", es fehle dem Werke nicht an überhimmlischen Sonnen- und Wolkenblitzen; der Dichter besäße überschwängliche Einbildungskraft, unerschöpflichen Witz, überströmende Fülle der Empfindung und reichen Vorrat des Gedächtnisses, aber alle diese Vorzüge würden beeinträchtigt durch gar zu auffallende Wiederholungen, schläfrige Räsonnements, überspannte Empfindungen, gesuchte Bilder- und Gedankenverknüpfungen; fahre Jean Paul fort, die künstlerische Form zu missachten, so würde keines seiner Werke trotz all seines Genies auf die Nachwelt kommen.

In alledem hat Wilhelm Raabe freilich eine allzu starke Ähnlichkeit mit Jean Paul gehabt, nur dass bei ihm weder die Lichtseiten so glänzend noch die Schattenseiten so dunkel hervortreten. Jean Paul hat den weiteren Horizont, Raabe die größere Gestaltungskraft, wofür namentlich seine historischen Erzählungen zeugen. Beides erklärt sich aus dem Unterschied der Zeiten zwischen dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Das Berlin Hinckeldeys und Manteuffels, worin Raabe zu dichten begann, gestattete der Phantasie keine weiten Flüge, aber es hatte festeren Boden unter den Füßen als jenes ästhetisierende vorjenaische Berlin, wo sich die eleganten Damen um die Locken Jean Pauls rauften.

Wie so viele Dichter der fünfziger Jahre – wie Redwitz, Roquette, Putlitz – ist auch Wilhelm Raabe, sosehr er diesen allen an dichterischen Gaben überlegen war und sosehr er später die „Chronik der Sperlingsgasse" übertroffen hat, sein Erstlingswerk nie völlig losgeworden. Es hing ihm wie ein Fluch an, dass er damit begonnen hatte, einer matten und müden Zeit die Lippen zu lösen. Dabei war er selbst kein matter und müder Mann; er war ganz frei von der engherzigen und gehässigen Philistergesinnung, wie sie die Werke des so unglaublich überschätzten Otto Ludwig atmen. In seinem „Hungerpastor", der neben der „Chronik der Sperlingsgasse" sein gelesenstes Werk geworden ist, schildert Raabe als den Typ der Infamie den offiziösen Soldschreiber, der sich im Ausland zu Spionendiensten gegen die Flüchtlinge der revolutionären Jahre hergibt, „bürgerlich tot im furchtbarsten Sinne des Wortes, als er im Jahre 1852, wo er, verachtet von denen, welche ihn gebrauchten, verachtet von denen, gegen welche er gebraucht wurde, den Titel Geheimer Hofrat erhalten hatte". Aber freilich ist es auch der einzige Satz dieses Bildungs- und Erziehungsromans, der daran erinnert, dass sein Held Hans Unwirrsch mitten in den Stürmen der Revolutionszeit sein bescheidenes Glück in einer Hungerpfarre sucht und findet.

Aus seiner kleinen Welt hat Wilhelm Raabe mit gütigem und mildem Auge herausgelesen, was sie an menschlichem Empfinden birgt, und ehe sie dann für immer versinkt, hat er sie mit Abendsonnenschein verklärt. Sich selbst aber ist er getreu geblieben, als er, wenn anders die Zeitungen recht berichtet haben, noch im Sterben mit einer verächtlichen Handbewegung den Ehrendoktor der Medizin von sich wies, den ihm die Berliner Universität bei ihrer Jahrhundertfeier sandte, um zu vertuschen, dass ihre braven Professoren in knechtseliger Gesinnung abgelehnt hatten, Hauptmann und Liebermann zu promovieren.

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