Franz Mehring 19130207 Otto Ludwig

Franz Mehring: Otto Ludwig

7. Februar 1913

[Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 697-702. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 55,62]

Unter den Opfern des deutschen Philistertums, deren die deutsche Literatur nur zu viele zählt, nimmt Otto Ludwig eine eigentümliche Stellung ein. Er trug in der eigenen Brust den Philister, der ihn sein Lebtag gepeinigt und gehindert hat, große Ziele zu erreichen, aber der ihm auch das wenige beschert hat, was sein Andenken heute noch, hundert Jahre nach seiner Geburt, lebendig erhält.

Man wird leicht ungerecht gegen Otto Ludwig, wenn man ihn nur nach dem Chor seiner Bewunderer beurteilt. Er ist immer als Hauptzeuge angerufen worden für die abgeschmackte Forderung, dass die Poesie sich fernhalten müsse der Politik, dass der echte Dichter nichts wissen dürfe von dem, was die Nation in ihren Tiefen bewegt. Es ist wahr, dass Otto Ludwig sich trefflich zu eignen scheint, diesen Satz zu beweisen. Er hat seinen Dichterruf dadurch begründet, dass er ein Jahr nach dem Dresdener Maiaufstand, zur Zeit, wo die sächsische Regierung die Maigefangenen im Zuchthaus von Waldheim in der grausamsten Weise folterte, im Dresdener Hoftheater ein Drama1 aufführen ließ, das die Revolution von 1848 in demselben Stil zu verhöhnen suchte, wie heute der Reichsverband2 die Sozialdemokratie. Es ist auch wahr, dass Otto Ludwig ungefähr ein dutzendmal den Anlauf gemacht hat, eine der scheußlichsten Freveltaten zu verklären, die auf der Rechnung des deutschen Fürstentums stehen: den Mord der Agnes Bernauer durch einen bayerischen Herzog, indem er das unschuldige Opfer zu einer lüsternen Dirne machte. Otto Ludwig ist immerhin damit nicht fertig geworden; glücklicher war sein Zeitgenosse Hebbel, der die Ermordung der Agnes Bernauer wirklich als die Handlung eines weisen Staatsmannes verherrlicht hat und damit gar noch die Demokratie tödlich ins Herz getroffen zu haben vermeinte.

Es sind solche Leistungen, um derentwillen die patriotische Literargeschichtschreibung die Hebbel und Ludwig als die modernen Klassiker preist, als die wahren Künstler, die sich nicht mit schmutziger Politik besudelt haben. Allerdings – die Verherrlichung fürstlicher Mordtaten und die Schmähung revolutionärer Bewegungen sind am Ende auch Politik, und ganz gewiss keine reinliche. Aber man verstehe doch recht! Kriechen vor Fürsten und Ministern, gehorsame Dienerchen machen vor den Profitinteressen der Bourgeoisie, sich selbst ausstellen als Reklametafeln für Verlegergeschäfte – das ist natürlich keine Politik, sondern lauterstes Menschentum, das muss den Poeten erlaubt sein, denn die armen Teufel wollen doch auch die guten Dinge dieser Welt genießen. Nur die Teilnahme an den großen Lebensinteressen der Massen, die Schilderung ihres gewaltigen Befreiungskampfes – das ist jenes gräuliche Unterfangen, dessen sich kein moderner Dichter schuldig machen darf, wenn nicht die neun Musen schaudernd vor ihm das Haupt verhüllen sollen.

Für solche Dinge wäre Otto Ludwig aber nie zu haben gewesen. Er bewahrte noch die gute Überlieferung unserer klassischen Literatur, jenes schrecklichen Goethe zum Beispiel, der sich nicht einmal von Schiller zum fünfzigsten Geburtstag beglückwünschen ließ. Otto Ludwig hat dabei keine Seide gesponnen; er hat immer mit der Not des Lebens zu kämpfen gehabt und ist in bitterster Armut gestorben, vor der Zeit aufgerieben durch körperliches Leiden und die seelischen Qualen, die ihm sein heißes und doch hoffnungsloses Ringen um die höchsten Ziele der Kunst bereitete. Er hat nie, auch nicht durch die geringste Reklame für sich oder seine Werke, sein hartes Los zu mildern gesucht. Eben diese bescheidene und zugleich selbstbewusste Haltung des Dichters sichert ihm die wärmste Sympathie auch derer, die sich den kritischen Blick für seine Dichtungen nicht durch beflissene Lobhudeleien sehr zweifelhaften Ursprunges trüben lassen.

Otto Ludwig wurde am 12. Februar 1813 in dem thüringischen Städtchen Eisfeld geboren. Er wuchs unter widrigen Verhältnissen auf; sein Vater, der Bürgermeister der kleinen Stadt gewesen war, starb früh und ließ seine Familie in arger Bedrängnis zurück. Der junge Ludwig musste die Schule verlassen und im Kramladen eines Oheims sein Leben fristen, in der hässlichsten, moralisch niederziehenden Umgebung. Er lernte früh sich in sich selbst zu verschließen und galt bald als ein Sonderling. Eine Trösterin seiner Qualen suchte er in der Musik; da er einige Fähigkeit in dieser Kunst verriet, so erlangte es endlich ein Stipendium von seinem Landesherrn, dem Herzog von Meiningen, um sich in Leipzig musikalisch auszubilden.

Er kam damit in größere Verhältnisse, aber es war zu spät. Ludwig zählte bereits sechsundzwanzig Jahre und hatte doch schon zu lange in traumhafter Einsamkeit gelebt, als dass er sich noch unter Menschen hätte zurechtfinden können. Das Leipzig um die Wende der dreißiger und vierziger Jahre war sicherlich keine Weltstadt, aber der Schauplatz einer harmlosen Literatenopposition, die dem jungen Philister aus Eisfeld als „Tigergrube" erschien. Es ist tragikomisch zu hören, wie Otto Ludwig seinen Abscheu vor der „erlogenen Jugend auf den Leipziger Gesichtern" bekundet; von den Frauen sagt er: „Die Leipziger Damen sehen alle so übernächtig aus, nicht wie Geschöpfe der Natur, sondern wie Kunstfabrikate"; die Männer nannte er „aufgepappte Nürnberger Männlein". Mit seinen Musikstudien wollte es auch nicht vorwärtsgehen; er gab sie auf und kehrte schon binnen Jahresfrist nach Eisfeld zurück, wo ihn seine Landsleute als verlorene Existenz betrachteten.

Indessen begann er jetzt sein literarisches Talent zu entdecken. Im Jahre 1842 kehrte er vorübergehend nach Leipzig zurück und lebte dann bis zum Jahre 1849 in ländlicher Einsamkeit bei Meißen, unablässig mit dichterischen Plänen beschäftigt. Er stand noch ganz unter dem Einfluss der Romantik; sein Vorbild war E. T. A. Hoffmann, dem er mit seiner Vorliebe für Musik und leider auch in der furchtbaren Krankheit ähnelte, die ihn in verhältnismäßig noch rüstigen Jahren dahinraffen sollte. Nach Hoffmanns bekannter Erzählung schuf Ludwig „Das Fräulein von Scudery", ein Drama, das nicht einmal sein novellistisches Vorbild an dichterischem Wert erreichte, immerhin aber das verhältnismäßig Beste war, was Ludwig in den vierziger Jahren vor sich brachte. Wie unsicher er noch umhertappte zeigt der Plan, den preußischen König Friedrich zum Helden eines Dramas zu machen; was er davon fertiggebracht hat: ein Vorspiel: „Die Torgauer Heide", entbehrt jeder dramatischen Spannung und hält auch nicht den entferntesten Vergleich mit „Wallensteins Lager" aus; es sind Lageranekdoten aus dem Siebenjährigen Kriege, die einzelnen Soldaten in den Mund gelegt werden.

Erst die Revolution von 1848 hat Ludwig, nun schon nahe seinem vierzigsten Lebensjahr, zum wirklichen Dichter gemacht. Die zeugende Kraft der Revolution hat sich auch an ihm bewährt, so sehr er sie hasste. Er schrieb seinen „Erbförster", als „Warnungsbild" vor der Revolution, um zu zeigen, wie das instinktive Rechtsgefühl des Volkes, wenn es sich durchsetzen will, nur Tod und Verderben speit. Kein Zweifel, dass Ludwig aus seiner Philisterhaut heraus die Revolution so anschaute, wie er sie im „Erbförster" zu schildern bemüht war; ein geschäftsfähiger Dramenfabrikant des heutigen Schlages hätte dieses Trauerspiel viel verschlagener gemimt. Denn der Held geht nur an seiner unglaublichen Beschränktheit unter; es ist sein tragisches Verhängnis, dass er den „freien Arbeitsvertrag" nicht zu kapieren vermag.

Christian Ulrich, genannt der Erbförster, da schon sein Vater und sein Großvater dieselbe Stellung bekleidet hatten, ist der Angestellte eines herrschaftlichen Gutes, mit dessen frischgebackenem Besitzer er in eine Meinungsverschiedenheit über das „Durchforsten" des Waldes gerät. Der Förster ist im Rechte, soweit es auf das Gedeihen des Waldes und also auch auf die Interessen des Gutsbesitzers ankommt, aber dieser ist, wenngleich sonst ein Seelenmensch, der seinen Sohn mit der Tochter des Försters verheiraten will, doch „Herr im Hause", der den widerspenstigen „Diener" entlässt. Wenn nun der Förster darin eine protzenhafte Unbill erblickt, gegen die sich sein „instinktives Rechtsgefühl" aufbäumt, so ist das gewiss verständlich, aber ganz unverständlich ist die Schrulle, in die er sich verbeißt, nämlich dass der Besitzer kein Recht habe, ihm zu kündigen. Er tobt wie unsinnig in den Tag hinein und bringt es – freilich wieder nur durch eine Reihe sinnloser Zufälle, bei denen einige schmutzige, mit Revolutionsphrasen um sich werfende Strolche und der gelbe Riemen einer Büchse die Hauptrollen spielen – endlich fertig, aus Versehen seine eigene Tochter zu erschießen, worauf er sich selbst eine Kugel durch den Kopf jagt.

Der Literarhistoriker Hettner, der seinen Geschmack an der englischen und französischen Literatur geschult hatte, nannte den „Erbförster" nach seiner ersten Darstellung auf der Dresdener Hofbühne das elendeste aller Schicksalsdramen, und dies Urteil ist unanfechtbar, soweit es auf die dramatische Handlung ankommt. Man möchte sagen, dass der dichterische Verstand Ludwigs durch das Medusenantlitz der Revolution gelähmt worden sei. Sein Held ist ein Zerrbild halb auf Kleists Kohlhaas, halb auf Hebbels Tischlermeister Anton: wenn an seinem Stumpfsinn alle Belehrungen über ein jedem Kinderverstand zugängliches Rechtsverhältnis abprallen, so ist er kein Kämpfer der Revolution, sondern nur ein beklagenswertes Opfer jener Macht, mit der die Götter nicht nur, sondern auch die dramatischen Dichter vergeblich kämpfen.

Allein elendes Schicksalsdrama, wie der „Erbförster" sein mag, ist es dennoch das Werk eines echten Dichters. Die Welt, die Ludwig wirklich kennt, weiß er auf der Bühne mit einer Art nachtwandlerischer Sicherheit lebendig, zu machen; das Försterhaus in all seiner dumpfen Enge kommt geradezu greifbar heraus, ja Ludwig bewährt hier durch die Tat, was er in erster Reihe von dem Dichter fordert, dass seine Gestalten nicht sagen sollen, was er will, sondern was sie wollen, und dass sie es aussprechen, ohne es recht zu wissen. So auch gereicht es ihm zum Lobe, was von manchen Kritikern ihm als Tadel angerechnet worden ist, dass in seinem Drama das Förster- und Jägerleben aller idyllischen Reize entbehrt. Auf das Jägerlied: Es lebe, was auf Erden stolziert in grüner Tracht, schreibt er, wenn auch in ganz anderer Art, eine nicht weniger bittere Satire als Freiligrath in seinem Lied am Harze.

An dem großen Erfolg des „Erbförsters" hatte die katzenjämmerliche Stimmung, die durch die Gegenrevolution erzeugt wurde, nicht den geringsten Anteil. So darf man es dem Dichter auch zum Lobe anrechnen, dass er sich dadurch nicht beirren ließ und gleich in seinem nächsten Drama zeigte, wie fern es ihm lag, auf Tagesstimmungen zu spekulieren. In den „Makkabäern" behandelte er einen alttestamentarischen Stoff, auch hier auf den Spuren Hebbels, den er doch nur heftig bekämpfte, weil er ihm innerlich verwandt war, weil auch Hebbel an ähnlichen Schwächen litt wie die, gegen die Ludwig an sich unablässig rang, nur dass Hebbel mit seiner ungleich größeren Schöpferkraft sich ungleich kräftiger durchzusetzen wusste. Gemeinsam war ihnen die Abneigung gegen Schiller, gegen das Junge Deutschland, gegen alles, was sie als undichterische Tendenz ansahen, auch wenn diese Tendenz nur der innere und unlösliche Zusammenhang der Dichtung mit dem Gedankenleben ihrer Zeit war. Aber Hebbel trug in seine entlegenen Stoffe doch immerhin moderne Probleme, sei es auch in verzwicktester Form; während er in seiner „Agnes Bernauer" die Staatsräson der Manteuffelschen Gegenrevolution besang, quälte sich Ludwig ab, dem armen Opfer eines fürstlichen Mordbuben irgendeine sittliche Schuld anzudichten.

Ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen Hebbels „Judith" und Ludwigs „Makkabäern". Wie es der Fluch jener Poeten ist, die sich dem Leben ihres Volkes und ihrer Zeit entfremden, dass sie gerade den krankhaftesten Zeitströmungen verfallen, so ist Hebbels Holofernes freilich nur ein jungdeutscher Prahlhans der allerschlechtesten Sorte, aber seine Judith immerhin ein dämonisches Weib, in dem schon ein Hauch des Kampfes lebendig ist, den die moderne Frau um ihre Befreiung führt. Ludwig dagegen hält sich ganz an den biblischen Stoff, dem er nicht einmal eine dramatische Einheit zu geben weiß; den Glaubenskampf des Judah und den Opfertod der sechs Knaben im Marterofen hat er nicht zu verschmelzen gewusst; in den ersten Aufzügen ist Judah, in den letzten Lea die Heldin. Und in Judah wieder kommt der tragische Konflikt nicht klar heraus; er führt sein Volk zum Kampfe gegen die syrische Fremdherrschaft und erlebt dann, dass ihm die Frucht seiner Mühe entrissen wird durch den blöden Glaubensfanatismus der Seinen, die sich auf dem Felde ihres Sieges von den überwundenen Feinden hin würgen lassen, weil inzwischen der Sabbat angebrochen ist, der ihnen verbietet, Waffen zu führen. Wenn nun aber der Dichter zeigen will, dass zu Judahs Beschämung der endliche Sieg nicht durch seine Führerschaft, sondern durch heldenhafte Ausdauer des Volkes erfochten wird, so wird er damit nicht fertig, zumal da er das Volk, wo er es auf die Bühne bringt, in sklavischer Nachahmung Shakespeares, gar so erbärmlich handeln und sprechen lässt. So enthalten die „Makkabäer" einzelne machtvolle Szenen, die würdig neben den höchsten Leistungen unserer dramatischen Literatur stehen, aber ein geschlossenes Drama sind sie nicht, und auf der Bühne haben sie sich nicht behauptet.

Und mit ihnen endete Ludwigs dramatisches Schaffen. Er hat noch über ein Jahrzehnt gelebt und keinen Tag der langen Zeit ohne mühselige Arbeit an seiner Kunst vorübergehen lassen, aber über unzählige Entwürfe ist er nicht hinausgekommen. An Shakespeare als dem höchsten Meister der dramatischen Kunst hat er sich atem- und ruhelos abgerungen, uneingedenk des Lessingschen Wortes, dass man eher dem Herkules seine Keule, als dem Dramatiker Shakespeare eine Zeile entreißen könne. Gottfried Keller hat von Ludwigs „krankhafter Selbstschulmeisterei" gesprochen; Ludwig habe sich ein dramaturgisches Kochbuch geschrieben, um zu sterben, ehe er das erste Gericht essen konnte. Das stimmt nun aber doch nicht, denn Ludwig war viel zu sehr Dichter, um sich einzubilden, dass sich die Kunst durch Schulmeisterei erlernen ließe. Was ihm die Kränze des historischen Dramas vorenthielt, so heiß er nach ihnen trachtete, war der innere Philister, den er nicht überwinden konnte. Er selbst täuschte sich in anderer Weise über sein dunkles Los. Wenige Jahre vor seinem Tode, der ihn im Jahre 1865 von qualvollen Leiden erlöste, schrieb er in seinen Hauskalender: „Nur ein Blick auf zwei oder drei Jahre völliger Sorglosigkeit, und einige Tragödien sollten sich aufbauen, deren sich meine Nation und Zeit nicht zu schämen haben sollten. Ich sehe eine ganze Welt von Erfindungen und Gestalten, die ich zwingen könnte, wenn ich, von dem niederhaltenden Gewicht befreit, wieder in den Flug käme. Ich glaube, es wäre noch nicht zu spät." So ergreifend diese Klage klingt, so ist der Irrtum, dem sie entspringt, eher zu begrüßen als zu beklagen, denn die Wahrheit wäre für den Dichter noch viel schwerer zu ertragen gewesen.

Aber da er es mit seiner Kunst immer ehrlich meinte, so ist ihm, trotz aller Beschränkung und gerade in ihr, doch ein Werk gelungen, das zum dauernden Besitz der deutschen Literatur gehört. Mitten in seinem Ringen um den dramatischen Lorbeer schrieb er ein paar thüringische Erzählungen, die er selbst immer nur als Nebenwerke ansah. Und die eine, „Die Heiterethei und ihr Widerspiel", ist auch nicht mehr; eine kümmerliche Dorfgeschichte mit allen fatalen Eigenschaften dieser damals modischen Gattung; wenn man an ihr gerühmt hat, dass ihre Helden nicht spinozistisch räsonieren wie die Bauern und Bäuerinnen Auerbachs, so ist Ludwig doch nur in die Szylla geraten, indem er die Charybdis vermeiden wollte. Die Heiterethei tritt als Heroine auf, indem sie einen Karren aus dem Sumpfe schiebt, an dem sich selbst der Dorfschmied vergebens abmattet, aber dann kommt der Holders-Fritz über sie, indem er wiederum einen Karren aus dem Sumpfe schiebt, an dem sich selbst die Heiterethei vergebens abgemattet hat.

Umso höher steht die andere Erzählung „Zwischen Himmel und Erde", die in einem thüringischen Philisternest spielt. Sie verleugnet ihren Ursprung nicht; ihr Held ist ein Philister, wie er im Buche steht. Wenn er vor Rührung weint, so hat er keine andere Sorge, als dass die Tränen nicht auf seinen Rock fallen und das Zeug verderben, und wenn ihm ein geliebtes Weib, im Fieberschauer hingebender Wonne, ans Herz sinkt, so hat er nur das unbehagliche Gefühl, als würde er, wenn er sich bewege, etwas wie ein Tintenfass über etwas wie ein wertvolles Papier gießen. Aber dennoch, trotz aller Schrullen, die wie Schwergewichte an der Erzählung hängen, ist sie nach Form und Inhalt ein Meisterwerk, ein schönes Gebilde der Heimatkunst, lange ehe man diesen Begriff zu einem törichten Schlagwort gemacht hatte. Auch ein anderes törichtes Schlagwort wird an ihr zuschanden, indem sie verwirklicht, was an ihm vernünftig ist: die Rederei von der Arbeit als dem Boden, wo der Roman das Volk in seiner Tüchtigkeit aufsuchen solle. Ludwigs Novelle ist eng verflochten mit dem Handwerk der Familie, in deren engem Kreise sie sich abspielt, und nichts war lächerlicher als der Spott eines verstiegenen Ästhetikers über diese „praktische" Poesie: „Helden Jean Pauls wären vielleicht der Aussicht wegen auf einen Turm geklettert, um sich an dem landschaftlichen Panorama zu erquicken; die Helden der neuen Romane klettern auf die Türme, um auf ihren Dächern die Schiefern festzunageln!" Der wohlfeile Hohn richtet sich selbst. Auch der nüchternste „Realismus" ist einem völlig blutlosen „Idealismus" noch immer vorzuziehen, und von Otto Ludwig war es ein echt künstlerischer Griff, seinem philisterhaften Handwerker ein Gegengewicht zu geben, indem er ihn das waghalsigste aller Handwerke treiben lässt. Die Szenen seiner Erzählung, die sich auf dem Kirchendach von St. Georg abspielen, sind von einer tragischen Wucht, die mehr noch als die großen Szenen der „Makkabäer" beklagen lassen, was die deutsche Literatur an Otto Ludwig verloren hat.

Wer immer sich mit seinem Leben und Dichten eingehend beschäftigt, wird von tiefer Achtung für sein Kämpfen und Ringen erfüllt, schon wegen der Wahrhaftigkeit, die es beseelte. Aber um eben dieser Wahrhaftigkeit willen muss man jedem Versuch widersprechen, in Otto Ludwig das Ideal eines modernen Dichters zu sehen. Das ist er nicht gewesen und konnte er auch nicht sein. Es heißt sein Andenken schlecht ehren,

wenn man den Toten mit den Tamtamschlägen der Reklame belästigen will, die der Lebende stets verschmäht hat, so sehr verschmäht hat, dass ihm schon der – mit den heutigen Posaunenbläsern verglichen – sehr bescheidene Lärm des Jungen Deutschlands als das Gebrüll einer „Tigergrube" erschien.

1 Gemeint ist „Der Erbförster", 1850 aufgeführt, 1853 gedruckt.

2 Gemeint ist der 1903 gegründete Reichsverband gegen die Sozialdemokratie.

Kommentare