Franz Mehring 18921012 Unsere Voltaire

Franz Mehring: Unsere Voltaire

12. Oktober 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 97-102. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 114-120]

Als Lothar Bucher den heiteren Versuch unternahm, Karl Marx zu Beiträgen für das amtliche Blatt der preußischen Regierung heranzuziehen1, schrieb er mit melancholischer Resignation von der modernen Bourgeoisie, diese Schlange werde sich noch oft häuten, ehe sie sterbe. Herr Bucher irrte sich ganz gewaltig, wenn er sich an den Busen Bismarcks flüchtete, um jener Schlange zu entgehen; er musste sich freundnachbarlich mit ihr an der heiligen Stätte einrichten. Aber als er an Marx schrieb, war er noch ein rechter Hasser der Bourgeoisie, und mit scharfem Blick erkannte er ihre Fähigkeit, sich zu häuten. Eben jetzt werden wir an sein geflügeltes Wort erinnert, da Berlin W oder tout Berlin oder wie sich die verfaulte Gesellschaft sonst zu nennen beliebt in diesem Herbste die sittliche Entrüstung zur Modesache macht wie in den vergangenen Herbsten den frechen Zynismus.

Es ist eine ganz hübsche Überleitung der einen Mode in die andere, dass zwei Leibliteraten der Bourgeoisie, die just vor zwei Herbsten die brutale Unterdrückung von Proletariern durch den Kapitalismus als eine Kraftmeierei edelsten Stils verherrlichten2, jetzt das Banner der sittlichen Entrüstung über soziale Unterdrückung in kräftiger Männerfaust schwenken. Der eine von ihnen ist Herr Paul Lindau, und mit jener fröhlichen Unbefangenheit, die er als ehemaliger Tintenkuli der Annoncen- und Reklamefirma Mosse gelernt hat, tut er sich lieber gleich als Voltaire des neunzehnten Jahrhunderts auf. Wörtlich so! Auf dem Titelblatte seiner Schrift: „Der Mörder der Frau Marie Ziethen" erklärt Herr Lindau mit fetten Lettern, dass sie noch ein Nachwort von Max Neuda habe, und in diesem Nachwort feiert Herr Neuda seinen Freund Lindau als zweiten Voltaire, was Herr Lindau dann als eine für ihn ja immerhin recht schmeichelhafte, aber nun doch einmal nicht wegzuleugnende Tatsache veröffentlicht.

Uber den Fall Ziethen gedenken wir uns aus guten Gründen nicht weiter auszulassen. Soweit der Fall ein öffentliches Interesse hat, berührt ihn Herr Lindau nicht; soweit ihn Herr Lindau berührt, hat er nicht oder noch nicht ein öffentliches Interesse. Auch nach unserer subjektiven Überzeugung haben die Geschworenen von Elberfeld einen Fehlspruch getan, als sie vor bald zehn Jahren den Barbier Ziethen wegen Gattenmords für schuldig erkannten. Aber dieser Fehlspruch ist, wenn er vorliegen sollte, allein durch die überaus fahrlässige Art der Voruntersuchung verschuldet worden, und an dieser unheilvollen Fahrlässigkeit trägt allein ein Polizeibeamter die Schuld, der gerade, als der Mord der Frau Ziethen geschah, mit dem Eifer, dem Geschick und den Mitteln eines Stieber die Sozialistenhetze betrieb.3 Diese einzige prinzipielle Seite des Falles Ziethen berührt Herr Lindau mit keiner Silbe, und wie sollte er auch? Als Graf Wilhelm Bismarck den traurigen Zynismus von sich gab, die Hundesperre sei für die hiesige Bevölkerung eine größere Beschwerde als der kleine Belagerungszustand, und als selbst die Bourgeoisie eine gewisse Scham über diese junkerliche Brutalität bekundete, da war Herr Paul Lindau der einzige, der den hohen Gönner wegen seines herrlichen Wortes als einen über seine Jahre hinaus genialen und weisen Staatsmann, vielleicht auch – wir wissen es nach zehn Jahren nicht mehr so genau – als einen zweiten Voltaire pries.

Was Herr Lindau aber in seiner Schrift vorbringt, das gehört nicht oder noch nicht vor die Öffentlichkeit. Wir kennen zwar die schöne Bourgeoislogik, die uns einwerfen wird: ja, so seid ihr Sozialdemokraten; wenn nichts für eure „Prinzipien" abfällt, so schiert es euch den Teufel, ob ein unschuldig Verurteilter seine Tage im Zuchthause vertrauert; die reine Menschlichkeit eines Lindau, der einem unglücklichen Menschen hilft, nur weil es sein Mitmensch ist, kennt ihr nicht in eurem bornierten Parteigeiste. Das wäre nun zwar gut gebrüllt, aber deshalb nicht weniger fehlgeschossen. Denn gerade Männer aus jener Partei, der Herr Lindau nicht einmal den Rechtsschutz von Hunden gönnen will, bemühen sich seit Jahr und Tag um ein gerichtliches Wiederaufnahmeverfahren im Falle Ziethen. Sie handeln freilich in aller Stille und schicken keinen Fiedler vor sich her, der sie als moderne Voltaire ausgeigt, erstens weil sie es wirklich nicht nötig haben, zweitens weil sie die Ausbeutung menschlichen Unglücks für eitle Reklame, als ein verächtlich Ding betrachten, und drittens weil sie einem Menschen, dem nach ihrer Überzeugung schweres Unrecht geschehen ist, möglichst schnell und sicher helfen wollen. Das ist aber nur möglich auf gerichtlichem Wege, und dieser Weg wird durch die reklamenhafte Ausbeutung des Falles Ziethen in verhängnisvoller Weise erschwert, besonders in dem Augenblicke, wo die Bemühungen jener anderen Männer, denen Herr Lindau nicht einmal bis an die Kniekehlen reicht, praktischen Erfolg zu haben beginnen. Wir sind wahrhaftig keine Bewunderer der preußischen Bürokratie, aber wenn Herr Max Neuda aus Wien den „heiligen Drang" des Herrn Lindau nach unparteilicher Rechtsfindung den preußischen Richtern als leuchtendes Muster vorhält, so müssen wir allerdings zugeben, dass über solch' schnöden Humbug die Milch der frömmsten Denkungsart sauer werden kann.

Der andere unserer Voltaire aber ist Herr Otto Brahm, und sein Buch handelt von dem Maler Stauffer. Jene weibliche Person aus der Züricher Bourgeoisie, die den genialen Mann in Wahnsinn und Selbstmord trieb, hat seine an sie gerichteten Briefe Herrn Otto Brahm zur Veröffentlichung übergeben, mit dem sicheren Instinkt, dass dieser Treffliche ihren Willen so vollstrecken werde, wie sie ihn vollstreckt wissen wollte, dass er den erschütternden Untergang eines großen Künstlers im Sumpfe der Bourgeoisie zu einem sentimentalen Liebeshandel verfabeln werde. Und Herr Brahm hat das ehrenvolle Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, ehrenvoll gerechtfertigt. Er begann mit der ärgsten Versündigung, die an dem Andenken Stauffers begangen werden konnte, indem er den literarischen Nachlass des Künstlers in ein halb Dutzend Fetzen zerriss und diese Fetzen durch die Feuilletons an ebenso vielen Bourgeoiszeitungen schleifte. Stauffer war in seiner Art ein ganzer Mann, aber man muss ihn auch ganz sehen, um ihn ganz zu verstehen. Allein erst nachdem Herr Brahm die einzelnen Glieder so gründlich ausgeschlachtet hatte, als sie nur immer ausgeschlachtet werden konnten, nähte er sie wieder zusammen und präsentiert nun in seinem Buche über Stauffer seinem Bourgeoispublikum eine schön präparierte Leiche, damit sich die schlaffen Nerven der Mörder am Verwesungshauch ihres Opfers ein wenig anregen können.

Was Herr Brahm selbst zu dem Buche beigesteuert hat, ist in der Tat nichts weiter als das Gewäsche einer alten Leichenfrau. Aber die Briefe und Tagebücher Stauffers in ihrer Gesamtheit – und sie machen glücklicherweise den weitaus größten Teil des Buches aus – bestehen jede Probe, obschon Herr Brahm „aus äußeren und inneren Gründen, aus Rücksicht auf lebende Personen und um Ermüdung zu vermeiden vielfache Kürzungen vorgenommen" hat. Sie bestehen vor allem die uraltgermanische Totenprobe, von der wir im Nibelungenliede lesen: in Gegenwart des Mörders beginnen die Wunden des Ermordeten wieder zu bluten. Und deshalb wird Herr Brahm mit allen seinen literarischen Kniffen und Künsten kein Glück haben. Der heutigen Bourgeoisie gegenübergestellt, gewinnt seine schön präparierte Leiche ein unheimliches Leben, und jene verfaulte Gesellschaft von Berlin W, die sich an Brahms Buche kitzeln soll, wird wie Hebbels Hagen, als in seiner Gegenwart Siegfrieds Wunden wieder zu tropfen begannen, schier verwundert ausrufen:


Das rote Blut! Ich hätt' es nie geglaubt,

Nun seh' ich es mit meinen eignen Augen-…


Stauffer war eine urkräftige, proletarische Natur, von rastloser Arbeitskraft und Arbeitslust, beseelt von echtester Liebe zur Kunst, die er mit glänzender Begabung als Maler, als Radierer, als Bildhauer übte; ein Künstler großen Wurfes, der moralisch und physisch zugrunde ging an allem, was edel und gut und stark war in seinem Wesen, der in die Nacht des Wahnsinns getrieben wurde, weil jedes Mal, wenn er das keusche Antlitz der Kunst zu entschleiern glaubte, eine feile Dirne des Kapitalismus ihm entgegen grinste. Das war sein Verhängnis, mit dem er gerungen hat, bis die letzte Faser seines Hirns zerriss und der letzte Tropfen seines Bluts verrann. Stauffers Briefe gehören zu den gewaltigsten Anklageschriften gegen die kapitalistische Gesellschaft, und ihre flammende Schrift loht nur um so heller auf unter den sentimentalen Tränenbächen, die Herr Brahm in sie schüttet, um sie zu ersticken.

Leider fehlt hier der Raum, größere Auszüge aus Stauffers Briefen zu geben; wir müssen uns an einer Stichprobe genügen lassen, die für kundige Leser auch genügend scharfe Lichter auf das Schicksal der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft wirft. Stauffer, ein geborener Schweizer, war in sehr jungen Jahren nach Berlin verschlagen worden und hatte sich schnell einen großen Ruf als Bildnismaler erworben. Nur etwas weniger Liebe zur Kunst, und sein „Glück", oder was man in der kapitalistischen Gesellschaft so nennt, wäre gemacht gewesen. Aber aus einem qualvollen Ringen von sieben Jahren zieht er beim Abschied aus Berlin folgendes Fazit:

Ich muss noch ein paar Worte über das verlieren, was man und was sich heutzutage alles Künstler nennt, und über das Spezialistentum. Ich sagte, glaube ich, dass ich einem Spezialisten das Prädikat Künstler nur bedingt zuerkenne. Damit wäre über eine ganze, die größte Anzahl Maler und ihre Tätigkeit der Stab gebrochen. Sei es, ich kann es begründen. Es macht auf mich fast alles, was ich sehe von diesen Spezialisten, einen beinahe komischen Eindruck, so chinesenhaft, und ich frage mich oft, wie muss eine solche Gehirnmechanik aussehen, und wie muss sie arbeiten, dass es ihr möglich, diese Art künstlerische Produktion zu erzeugen. Vergegenwärtigen Sie sich gefälligst einmal, dass z. B. Andreas Achenbach seit dreißig Jahren beinahe nichts, gar nichts malt, als immer dasselbe sogenannte sturmgepeitschte Meer oder denselben Mühlbach mit derselben Mühle in derselben Stimmung. Ich greife den gerade heraus, weil er wirklich ein ganz hervorragendes Talent ist und seine künstlerischen Mittel es ihm gar wohl erlaubt hätten, der Sache immer auf den Grund zu kommen oder wenigstens immer das Streben danach zu bekunden. Nicht jede Arbeit ist ein Treffer, es läuft viel minder Gutes mit unter, aber das Gesamtbild einer künstlerischen Tätigkeit soll unter allen Umständen das ehrliche Streben nach der schönen Wahrheit sein.

Es ist selbstverständlich, dass der eine Künstler mehr für die eine oder die andere der vielen Erscheinungen in der Natur inkliniert, dies ist nie anders gewesen, das verstehe ich auch eigentlich nicht unter einem Spezialisten. Ein Spezialist, das ist einer, der einmal ein bestimmtes Motiv und eine bestimmte Auffassung für dasselbe gefunden, damit sein Glück gemacht, resp. es gut verkauft und weitere Bestellungen darauf erhalten hat, und der nun, glücklich darüber, ein cachet zu haben, fort und fort sein ganzes Leben dasselbe malt, für nichts weiter Sinn hat als für die z. B. 7-Stimmung abends im Sommer in einer flachen Sumpflandschaft mit einem Hirsch und einer Mondsichel. Viele sehr hochklingende Namen sind in diesem Spital des Philistertums krank. Wenn ich noch nach den Ursachen frage, so kommt vor allem die Existenz. Hat einer mal einen Wurf getan und kennt man ihn als den, der die Bilder, die so aussehen, malt, dass auch der Dümmste sofort sagen kann, aha, das ist der und der, und seine mehr oder minder geistreichen Glossen daran zu knüpfen in den Stand gesetzt ist, so verkauft der Künstler seine Werke, denn das Publikum resp. der Bankier, der sich so was kauft, hat dann die Genugtuung, dass das Bild in seinem Zimmer sofort erkannt wird als ein Max oder Defregger oder Achenbach oder wie die Leute sonst heißen. So muss es sein, wenn ein Kunstwerk für den Käufer wirklichen Wert haben soll.

Ich muss noch einmal von mir anfangen. Man zieht mir eben den Speck durchs Maul wegen einer Professur in München … Es wäre zu schön, um in Erfüllung zu gehen … Aber immerhin, wenn ich daran denke, an die Möglichkeit, durch einen fixen Gehalt und Staatsatelier in den Stand gesetzt zu sein, nur das malen zu können, wozu mich der Geist treibt, schöne stille Leute auf blumigen Wiesen und so weiter, dann zieht es mir wie Frühling durch die Glieder. Ich stehe hier so isoliert, dass es mich manchmal fröstelt. Sieben Jahre bin ich in dieser Stadt, wo es die schlechtesten Maler und die besten Soldaten gibt, d. h., es gibt auch gute Maler und schlechte Soldaten, aber beidergattig wenig, und noch ist es mir nicht gelungen, Wurzeln zu schlagen … Ich bin ja froh, dass ich hierher gekommen bin, ich habe auch Ursache dankbar zu sein, dass das gute Geschick mich hier gerade die Tätigkeit finden ließ, die mir meinen Unterhalt und Existenz verschaffte und zugleich das beste Mittel war, mich weiterzubilden. Die Porträtmalerei ist ja, wenn man will, die Quintessenz und der Maßstab künstlerischen Könnens, aber nur die Porträtmalerei im idealen Sinn, nicht als Profession ausgeübt. Der heutige Porträtist bedeutet in den meisten Fällen erstens einen äußerst gewandten Gesellschaftsmenschen, zweitens einen Geschäftsmann und drittens einen Virtuosen ohne Überzeugung und künstlerischen Charakter. Ich bin ein Muss-Professions-Porträtist… Ich sage damit nicht, dass ich nicht die Veranlagung fühle zum Porträt, die zu haben bin ich fest überzeugt, aber mein ganzes Leben Juda und Israel zu malen, wäre doch entsetzlich. Vom künstlerischen Wert eines Bildnisses hat der Besteller wenig Ahnung in der Regel, und eine starke Charakteristik wird erst recht nicht geduldet. So gehe ich fast an jedes Porträt mit der fatalen Gewissheit, dass es, wie ich es auch mache, dem Besteller nicht gefallen wird, der Zufall bringe es denn. Das ist kein fröhliches Schaffen.

Darum denke ich es mir so herrlich, Professor in München zu sein, entweder eine liebe Frau oder eine Schwester um mich, die einfach und behaglich den Haushalt besorgt, aber ganz einfach; und arbeiten mit Lust und Freude den ganzen Tag, man würde auch Bilder etwa los werden mit der Zeit und brauchte nicht Nerven wie Schiffstaue."

Jeder Kommentar würde den erschütternden Eindruck dieser einfachen Worte abschwächen. Herr Brahm freilich setzt ihnen das ästhetische Dogma entgegen: „Kunst und Luxus, wie sie sich gegenseitig stärken und stützen, bedarf der Ausführung nicht", auf dass nur ja die drohende Stimme aus dem Grabe den sanften Nachmittagsschlummer nicht störe, den Berlin W in seinem „Luxus" hält.

Von Berlin ging Stauffer nach Rom, aber es gelang ihm nicht, die Ketten der Bourgeoisie von seinen Gliedern zu streifen. Je wilder sein prometheischer Trotz an ihnen rüttelte, umso tiefer schnitten sie in sein Fleisch, bis mählich die Nacht des Wahnsinns auf sein gequältes Haupt herabsank. Er war längst nicht mehr seiner Sinne mächtig, als ein herzloses Weib aus der Bourgeoisie – dieselbe Frau Welti, die dann Herrn Otto Brahm zu ihrem literarischen Bannerträger erkor – ihn durch einen „Skandal" mit der „Gesellschaft" überwarf und ihn dann, als der Bruch unheilbar geworden war, schmählich verriet. Kerker und Irrenhaus, gesellschaftlicher und künstlerischer Boykott taten das Übrige, den unglücklichen Mann dahin zu treiben, wohin ihm die Respektabilität der kapitalistischen Gesellschaft allein noch einen Ausweg ließ: zum Selbstmorde.

Aus der Fülle dieser Tragik weiß Herr Brahm nichts zu schöpfen als einen schwächlichen Protest gegen die „Unfreiheit" der „freien Schweiz".

Berlin W ist nämlich äußerst monarchisch gesinnt, und nach seiner innigen Überzeugung rührt Stauffers ganzes Unglück daher, dass sein Heimatland eine Republik war. Nicht zwar, als ob wir es beschönigen wollten, dass der schweizerische Bundesrat sich zu dem kleinlichen Schritte herabließ, Herrn Brahm an seiner Buchmacherei hindern zu wollen! Nicht zwar, als ob wir für das Verhalten der schweizerischen Gesandtschaft in Rom bei Stauffers Katastrophe unbesehen eine Lanze einlegen wollten! Aber was diese Behörden gefehlt haben mögen, es geschah zu Ehren und Gunsten der Züricher Patrizierfamilie Welti, und – den Namen dieser Familie verschweigt Herr Otto Brahm durch die ganzen 22 Bogen seines Buches mit wahrhaft heldenmütiger Hartnäckigkeit. Der eine kleine Zug kennzeichnet die ganze Sachlage. Die politischen Werkzeuge der Bourgeoisie werden platonisch getadelt, um die sozialen Sünden der Bourgeoisie desto besser totschweigen zu können.

Mit den schweizerischen Behörden mag die schweizerische Presse abrechnen; die dortigen Arbeiterzeitungen und Blätter, wie die „Züricher Post", brauchen weder unsere noch Herrn Brahms Vormundschaft, und wir haben auch genug vor der eigenen Tür zu kehren. Aber wenn die Leibliteraten der deutschen Bourgeoisie, um das verfallende Gesicht ihrer Herrin mit ein bisschen sittlicher Entrüstung aufzuschminken, jetzt die Lärmtrommel schlagen, weil hinten weit im Lande, wo die Zitronen blühn, eine schweizerische Behörde an einem Boykott der Bourgeoisie angeblich mitgeholfen hat, so ist es Pflicht, daran zu erinnern, dass dieselben Literaten mit lautem und stillem Beifall zugeschaut haben, als in den Tagen des Sozialistengesetzes Tausende von deutschen Arbeitern jahraus jahrein von deutschen Behörden mindestens ebenso grausam behandelt worden sind, wie Stauffer in Rom von der Gesandtschaft seines Heimatlandes nur immer behandelt worden sein mag…

Just vor zwei Jahren hielt es Herr Paul Lindau für angemessen, einen Hungerboykott über eine wehrlose Proletarierin der Bühne zu verhängen4, und jubelnd begrüßte sein Freund, Herr Otto Brahm, die Heldentat mit den 'Worten: „Was braucht es weiter für Erklärung, wenn eine kleine Schauspielerin keine Stellung mehr findet, nachdem sie ihren Protektor verloren: der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen." Nun, heuer hat's die Bourgeoisie den Herren Lindau und Brahm gegeben, sich als die Nachkommen des Alten von Ferney aufzuspielen. Dafür möchten wir uns erlauben, sie zu nehmen, und zwar beim Kragen, um sie in die Ecke zu stellen, wohin kleine Knaben gehören, die auf recht unnützen Streichen ertappt sind.

1 Lothar Bucher wandte sich 1865 an Marx mit der Aufforderung, ökonomischer Korrespondent des „Preußischen Staats-Anzeigers" zu werden. Selbstverständlich lehnte Marx ab.

2 Mehring spielt auf die Schabelsky-Affäre an. Die Berliner Schauspielerin Elsa von Schabelsky war eine Zeitlang die Geliebte des damaligen „Literatursultans" Paul Lindau. Nachdem sie sich von dem einflussreichen Kritiker trennte, bekam sie kein Engagement an einer Berliner Bühne mehr, nicht einmal als Statistin. Sie wandte sich hilfesuchend an Franz Mehring, der damals Redakteur der linksbürgerlichen „Berliner Volkszeitung" war. Mehring sah in der ihm persönlich unbekannten Schabelsky einen „sozialen Typus", eine wehrlose „Proletarierin" des Theaters. Er prangerte die schändliche Rolle Paul Lindaus in mehreren Artikeln öffentlich an, alsbald auch die Haltung des mit Lindau befreundeten bekannten Regisseurs und Kritikers Otto Brahm, der sich an den Racheakten gegen die Schabelsky beteiligte. Die Auseinandersetzung erweiterte sich zu einem großen Angriff Mehrings auf die kapitalistische Theater- und Pressekorruption überhaupt, der in den Streitschriften „Der Fall Lindau" und „Kapital und Presse" geführt wurde. Diese Vorfälle bildeten den letzten Anstoß für Mehrings endgültigen Übertritt ins Lager der revolutionären Sozialdemokratie.

3 Wilhelm Stieber war 1852 der Organisator des Kölner Kommunistenprozesses.

4 Gemeint ist Elsa von Schabelsky. Siehe vorige Anmerkung.

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