Franz Mehring 19030516 Willibald Alexis

Franz Mehring: Willibald Alexis

16. Mai 1903

[gez.: fm, Leipziger Volkszeitung, Nr. 111, 16. Mai 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 7-11]

[…] Unter den deutschen Romandichtern des vorigen Jahrhunderts nahm Wilhelm Häring einen hervorragenden Platz ein, einen viel hervorragenderen als manch andrer Romandichter, dem in der Lesewelt ein viel größerer Ruf zugefallen ist. Er war im Jahre 1798 in Breslau geboren, als Sprössling einer französischen Hugenottenfamilie, die ihren Familiennamen Harenc ins Deutsche übersetzt hatte, wie er dann wieder seinen deutschen Familiennamen in den griechischen Autorennamen Alexis übersetzte. Seine französische Abstammung ist nicht ohne mannigfachen Einfluss auf sein dichterisches Talent gewesen, doch war es zunächst ein englischer Meister, dem er nacheiferte und dem er auch seinen bleibenden Platz in der deutschen Literatur verdankt.

Wir meinen, um mit Hebbel zu sprechen, „die von Walter Scott geschaffene Form des historischen Romans, die in Deutschland keiner so vollständig ausgefüllt, ja erweitert hat als Willibald Alexis". Er trat zunächst als bloßer Nachahmer Scotts in die deutsche Literatur ein, mit einem Roman: „Walladmor", den er im Jahre 1823 herausgab, unter dem Vorgeben, dass er die Übersetzung eines Scottschen Romans sei. Die dreiste Mystifikation gelang vollständig; sie fand allgemein Glauben bei der Kritik und beim Publikum. Immerhin war sie ein gewagter Schritt, und im Grunde auch nicht schmeichelhaft für den schöpferischen Genius des Dichters; wer sich so ganz in die Individualität eines andern versenken kann, der ruft immer den Verdacht gegen sich wach, selbst keine zu besitzen. In der Tat trägt die außerordentliche Beweglichkeit seiner Begabung einen Teil der Schuld daran, dass Willibald Alexis nicht die Erfolge zu erreichen vermocht hat, die andern, minder begabten Dichtern zufielen. Nach seinem ersten Anlauf, der ihn wenigstens instinktiv in die richtige Bahn warf, ist er romantischen und jungdeutschen Einflüssen unterlegen, hat vielerlei auf mancherlei Gebieten versucht, was heute mit Recht vergessen ist, hat den „Neuen Pitaval", eine Sammlung merkwürdiger Kriminalfälle, in einigen dreißig Bänden herausgegeben und hat seine Kraft dann auch, ganz außerhalb des literarischen Gebiets, in allerlei geschäftlichen Unternehmungen zersplittert, indem er heute ein großes Lesekabinett einrichtete, morgen eine Verlagsbuchhandlung übernahm und übermorgen ein Ostseebad gründete. Er hat dabei viel trübe Erfahrungen gemacht, trotz des findigen Blickes, den er in diesen Sachen zu bewähren wusste; Heringsdorf, das von ihm seinen Namen trägt, ist heute ein vielbesuchtes Modebad, während ihm selbst diese Gründung nur große Enttäuschungen und Sorgen eingetragen hat. Als er die Fünfziger überschritten hatte, zog sich Willibald Alexis in das thüringische Landstädtchen Arnstadt zurück, doch die Ruhe des Alters, die er nach einem rastlos bewegten Leben suchte, ist ihm auch hier nicht beschieden gewesen; er verfiel einer geistigen und körperlichen Lähmung, worin er noch ein halbes Menschenalter hingedämmert ist, bis ihn der barmherzige Tod erlöste.

Er war ein vergessener Mann, als er starb, aber heute ist er nicht mehr vergessen. Seine brandenburgisch-preußischen Romane haben sich die Stellung in der deutschen Literatur zu erobern gewusst, die sie verdienen, und es ist alles in allem doch eine hohe Stellung. Möglich, dass bei ihrer heutigen Einschätzung ein wenig die Mode mitspricht: dann ist die Mode, wenn auch nicht an sich vernünftig, so doch die Helferin einer vernünftigen Entwicklung gewesen. Als jene Romane in der Zeit vom Anfange der dreißiger bis zum Anfange der fünfziger Jahre erschienen, war alles, was nach Brandenburg-Preußen roch, im übrigen Deutschland sehr unbeliebt, und zwar mit gutem Grunde; ohne Zweifel hat dieser Umstand dazu beigetragen, dass sie wenig beachtet wurden. Umgekehrt – seitdem nach der neuen Reichsmär der deutschen Nation alles Heil von Brandenburg-Preußen gekommen ist, mag mancher brave Patriot, der die Romane von Alexis sonst nicht angesehen hätte, sie bewundern. Allein, sie wären auch ohne diese Mode zu ihrem Rechte gekommen, denn Willibald Alexis hat sich in ihnen als epischer Dichter bewährt; er verstand es, um noch einmal Hebbel zu zitieren, „von Brandenburg ausgehend, alle deutschen Verhältnisse der dargestellten wichtigen Epochen zur Anschauung zu bringen und Geschichte zu geben, ohne sie auf der einen Seite in Geschichten aufzulösen oder auf der andern einem sogenannten historischen Pragmatismus die Fülle des Lebens und der Gestalten zu opfern".

Es wäre ganz verkehrt, Willibald Alexis mit den sogenannten patriotischen Dichtern, einem Wildenbruch oder gar einem Lauff, auf eine Stufe zu stellen. Seinen brandenburgisch-preußischen Romanen geschähe selbst dann noch großes Unrecht, wenn man sie mit den „Ahnen" Gustav Freytags vergleichen wollte. Sie rangieren vielmehr mit Lessings „Minna von Barnhelm" oder mit Kleists „Prinz von Homburg", das heißt, es sind wirkliche Kunstwerke, die ihren Stoff aus der preußischen Geschichte nehmen, ohne irgendeiner unkünstlerischen Tendenz zu verfallen. Wie Lessing und Kleist, hat Willibald Alexis von den Hohenzollern stets nur Zeichen der Ungnade erhalten. Treitschke in seiner „Deutschen Geschichte" schilt darüber, gerade mit Bezug auf Willibald Alexis; er hat sich bekanntlich selbst die Ungnade des Kaisers zugezogen, weil er meinte, an Alexis habe sich die Undankbarkeit der Hohenzollern bewährt, der unschöne Erbfehler des preußischen Herrscherhauses. Jedoch, so anerkennenswert dieses Urteil Treitschkes in seiner Freimütigkeit sein mag, so wenig war es gerecht. Man kann nicht sagen, dass Alexis die Hohenzollern gefeiert hat, am wenigsten in dem Sinne gefeiert, die den borussischen Überlieferungen entsprach. Die Hohenzollern sind keine Medizäer; ihre Geschichte soll mit Trommel- und Pfeifenklang geschrieben sein, im Gleichtritt des Parademarsches. Daran lässt es Alexis gar sehr fehlen; seinem preußischen Patriotismus – und dies verdankte er auch seiner französischen Abstammung – fehlte die spezifisch preußische Borniertheit. Gleich in seinem ersten brandenburgisch-preußischen Romane „Cabanis", der die friderizianische Zeit schilderte, erscheint der gefeiertste Held der preußischen Geschichte als ein sehr fragwürdiger Heros, und nirgends ist der grauenvolle Verfall des friderizianischen Staats mit so erschütternder Wahrheit geschildert worden wie in dem andern Roman von Willibald Alexis „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht".

Als diese Romane erschienen, lag die wissenschaftliche Forschung über das friderizianische Zeitalter gewissermaßen noch in den Windeln, und es ist ein Triumph des Dichters, dass, je tiefer diese Forschung gegraben hat und gräbt, um so klarer hervortritt, wie scharf sein Seherblick gewesen ist. In dieser Beziehung mag man Willibald Alexis sogar über Walter Scott stellen. Walter Scott war unzweifelhaft das größere und originellere Talent; dazu bot ihm eine romantische Natur und eine romantische Geschichte einen ungleich reicheren Stoff. Aber an dichterischem Tiefblick war ihm Willibald Alexis überlegen. Eine Gestalt von so fein und tief durchgeführter Psychologie, wie sie Alexis im falschen Woldemar geschaffen hat, lag nicht im Rahmen der behäbig breiten Epik, wie sie Walter Scotts Sache war.

Im ganzen hat Willibald Alexis acht solche brandenburgisch-preußischen Romane geschrieben: den „Falschen Woldemar", den „Roland von Berlin", der den Kampf der mittelalterlichen Städte mit dem erstarkenden Fürstentum schildert, „Die Hosen des Herrn v. Bredow" und den „Wärwolf", die in die märkische Reformationszeit fallen, „Dorothee", eine Darstellung der gräulichen Intrigenwirtschaft am Hofe des sogenannten großen Kurfürsten, die bei Alexis viel dunkler, aber viel richtiger erscheint als bei Heinrich v. Kleist, „Cabanis", „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht" und dann endlich „Isegrimm", eine Erzählung aus der Zeit nach der Schlacht bei Jena, mit dem Urjunker Marwitz als Helden. Am bekanntesten sind von diesen Romanen „Die Hosen des Herrn v. Bredow" geworden, nicht zuletzt wohl wegen des humoristischen Grundmotivs, das schon im Titel anklingt und dann im Text von Zeit zu Zeit auftaucht, übrigens ohne alle übertriebene Absichtlichkeit, in der derben Manier der Zeit, die der Roman darstellt.

Es ist der Vorabend der deutschen Reformation. Die beginnende Warenproduktion zersetzt die feudale Gesellschaftsorganisation; der kleine Adel verkommt ökonomisch und sucht sich durch Krippenreiterei auf den vom aufblühenden Handel belebten Landstraßen am Leben zu erhalten. Der große Adel des Reichs wächst sich zum partikularen Fürstentum aus, das sich vom Kaisertum unabhängig zu machen sucht, ebenso wie es sich über den kleinen Adel zu erheben trachtet. Es waren die Tage, da Franz v. Sickingen und Ulrich v. Hutten die große Adelsverschwörung anzettelten, die sich gegen die Fürsten richtete und ebendeshalb die Wiederherstellung des kaiserlichen Ansehens auf ihr Banner schrieb. Sie scheiterte, da die Adelsdemokratie mit monarchischer Spitze, die sie herstellen wollte, eine historisch längst überlebte Gesellschaftsform war, eine reaktionäre Utopie schon deshalb, weil es ansehnliche und reiche Städte in Deutschland gab. Aus dem Erstarken des städtischen Handels und Wandels zog das Fürstentum seine Macht; um die Quellen dieser Macht zu erhalten, musste es gegen den Straßenraub der Junker einschreiten, die es dann wieder an seinen Hof zu ziehen suchte, als Stütze gegen den aufbegehrenden Trotz der Städte. Mit den ökonomischen Zuständen wälzten sich ihre ideologischen Spiegelbilder um; die feudale Kirche verfiel wie das feudale Junkertum; gleich diesem, ließ sie ihren Ausbeutungsinteressen alle Zügel schießen, in der verzweifelten Hoffnung, sie dadurch zu retten, bis zur nackten Plünderung der Gläubigen. Neben der Kirche erhob sich von neuem die weltliche Wissenschaft in der Gestalt des Humanismus, der aus den Quellen des griechischen und römischen Altertums seine Nahrung schöpfte, gefördert von den Städten und namentlich auch von den Fürsten, die er an seinem Teile nicht müde ward zu preisen.

In der Mark Brandenburg, die in den ersten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts in jeder Beziehung die zurückgebliebenste Landschaft des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war, traten alle diese Tendenzen in sehr abgeschwächter Form auf, aber vorhanden waren sie auch hier. Unter den hohenzollernschen Kurfürsten, die bis dahin in der Mark nur ein Nebenland ihrer fränkischen Markgrafschaften gesehen hatten, war der Kurfürst Joachim der erste, der in seiner Weise den modernen Fürsten herauskehrte. Persönlich, wie fast alle seinesgleichen, eine wenig anmutige und sympathische Erscheinung, „ein Vater aller Habgier", wie ihn einst ein spanischer Gesandter genannt hat, später auch ein gehässiger Gegner und Verfolger der kirchlichen Reformation, als den ihn Willibald Alexis im „Wärwolf" geschildert hat, war er doch ein humanistisch gebildeter Mann, der den „adligen Straßenräubern mächtig auf die Haube griff", wie ein alter Chronist sich ausdrückt. Freilich, bezwungen hat er sie nicht; wir leiden heute noch daran, dass sich das ostelbische Junkertum nicht hat unterkriegen lassen. Es blieb die Jahrhunderte hindurch als ein schwerer Alp auf dem Nacken der unterdrückten Klassen liegen; in den entscheidenden Tagen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts waren Handel und Wandel in der Mark Brandenburg viel zu dürftig entwickelt, um den Fürsten den Stützpunkt zu geben, den sie gebrauchten, wenn sie die Macht des Junkertums wirklich brechen sollten. Es ist kein Warenzug Augsburger oder Nürnberger Kaufleute, sondern ein armseliger Hausierer, an dem der adlige Günstling des Kurfürsten Joachim seine Stegreifritterkünste erprobt.

Je geringere Kunde aber die Geschichte von erfolgreichen Kämpfen der Hohenzollern gegen das Junkertum zu geben weiß, umso reicher hat die Sage des unter dem junkerlichen Übermute seufzenden Volks die dürftigen Anläufe dazu mit ihrem Schmuck umkleidet. Und diese Sage hat Willibald Alexis für seinen Roman verwertet. Nach gutem Dichterrecht hat er mit den historischen Ereignissen frei geschaltet, um den Charakter und den Geist der Zeit umso wahrer widerzuspiegeln. Wie er die dürftige märkische Landschaft verklärt: die im Abendrot glühenden roten Kiefernstämme, das mittägliche Schweigen der öden Heide, die blauen Seen mit dem einsam kreisenden Reiher darüber, so belebt er das karge Dasein der Gegend und der Zeit, in denen seine Geschichte spielt, mit einer Fülle prächtig gesehener Gestalten.

Es ist echt historische Stimmung in dem Roman, und die goldenen Lichter des Humors spielen versöhnend über einer Welt, die der Geschichtschreiber mit gröberen und härteren Strichen zeichnen muss, ohne sie doch so lebendig machen zu können wie der Dichter.

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