Franz Mehring 18981130 Berliner Theater (Hartleben „Die Befreiten")

Franz Mehring: Berliner Theater

Hartleben „Die Befreiten"

30. November 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 344-346. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 372-374]

Unter dem Gesamttitel „Die Befreiten" wurden gestern im Lessing-Theater vier Einakter von Otto Erich Hartleben aufgeführt. Sie hatten einen ziemlich starken Erfolg, der durch die sorgfältige Inszenierung gefördert wurde, aber namentlich in den beiden mittleren Stücken doch auch vom Dichter verdient worden war.

Hartleben gehört zu den modernen Naturalisten, und zwar zu den Begabteren unter ihnen. In seinem Drama „Hanna Jagert", das vor Jahren an dieser Stelle besprochen wurde, wagte er sich freilich an eine Aufgabe, die weit über seine Kräfte ging, und scheiterte daran recht kläglich: er wollte die selbstherrliche „Individualität" des Weibes gegen die stramme Disziplin der Arbeiterinnenbewegung ausspielen, wobei er noch, durch die dramatisch verzerrte Ausbeutung eines wirklich vorgekommenen „Falles", in künstlerisch unschöner Weise auf die grobe Skandalsucht des Bourgeoispublikums spekulierte. In den „Befreiten" beschränkt sich Hartleben auf die Dinge, die er versteht; in vierfacher Wendung sucht er zu zeigen, wie sich das in der bürgerlichen Gesellschaft geknechtete Weib auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft „befreit" oder doch zu „befreien" sucht, und in dieser weisen Beschränkung kommt das Talent des Dichters, soweit es vorhanden ist, zur wirksamsten Geltung.

Ob eine solche Problemdichtung nach den Prinzipien des modernen Naturalismus zulässig sei, lässt sich bestreiten. Ohnehin ist das sozialphilosophische Problem nur das rein äußerliche Band, das die vier sonst völlig voneinander unabhängigen Stücke oder eigentlich nur dramatischen Szenen zusammenhält, die nicht einmal nach einem einheitlichen Plane entworfen sind. Zwei davon haben schon früher das Licht der Lampen erblickt, und ein drittes ist offenbar eine Anfängerarbeit, die Hartleben aus irgendeinem vergessenen Schubfach hervorgeholt hat, um den Abend zu füllen, so dass eigentlich nur das vierte Stück einen neuen und wirklichen Anlauf bedeutet. Jedoch mag hierin auch gerade wieder die Rechtfertigung des Dichters liegen; er sagt vielleicht: Ich habe eben nicht tendenziös gearbeitet, sondern dasselbe Problem hat sich meinem künstlerischen Auge zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise dargestellt; die „Einheit im Zerstreuten" war „unsres Dichters ganz Gemüt", und weshalb soll, was im Leben eine weite Strecke auseinanderstand, sich nicht in einem gemeinsamen Rahmen dem künstlerischen Genuss entrollen?

Bescheiden wir uns damit, so „befreien" die beiden ersten und ernsten Stücke, „Der Fremde" und „Abschied vom Regiment", die Frau durch den feineren oder gröberen Bruch der Ehe, dagegen die beiden letzten und lustigen Stücke, „Die sittliche Forderung" und „Die Lore", durch den Verzicht auf die Ehe, durch die freie Liebe, so weit und so wie sie innerhalb der bürgerlichen Klasse möglich ist. Künstlerisch rangieren die Stücke aber anders als sozialpsychologisch; das erste ernste und das letzte lustige Stück sind minderwertig, verglichen mit den beiden mittleren. Im „Fremden" wird wesentlich nur eine philosophische Diskussion darüber geführt, ob die Frau, die als armes Mädchen durch eine ökonomische Zwangslage an einen reichen, sie schwärmerisch liebenden Mann verkuppelt worden ist, dem wieder erschienenen und nun auch reich gewordenen Jugendgeliebten über eine zwölfjährige Philisterehe hinweg zu folgen berechtigt ist. Die drei handelnden Personen sind blasse Schemen, ganz besonders auch die Heldin, deren philosophische Beweisführung ihres persönlichen Rechtes uns darüber nicht hinweghelfen kann, dass wir sie als Persönlichkeit überhaupt nicht sehen. Dies Stück trägt die Spuren einer jugendlichen Ibsen-Nachahmung allzu stark an sich, während „Die Lore" aus einer lustigen Grisetten- und Studentenhumoreske Hartlebens von ihm selbst dramatisiert worden ist, ohne dass er die Spuren ihres epischen Ursprungs hat vertilgen können. Es fehlt die dramatische Schneide und Spitze, und dieser Mangel kann durch die etwas grobe Würze possenhafter Zutaten nicht ersetzt werden.

Dagegen war der „Abschied vom Regiment", die eigentliche Novität des Abends, von dramatischem Leben erfüllt. Umgekehrt wie im „Fremden", hat hier ein armer Offizier ein reiches Mädchen geheiratet, um sie in der Ehe zu vernachlässigen und von ihr hintergangen zu werden. Die Geschichte der Ehe müssen wir wiederum auf Treu und Glauben annehmen, aber Mann und Weib sind leibhaftige Gestalten; hier hat Hartleben in wenigen Szenen eine Fülle lebendiger Charakteristik zusammenzufassen gewusst. Um der verdächtigen Aufführung seiner Frau willen ist der Mann von seinem Regiment in ein anderes versetzt worden; er kehrt von dem Abschiedsfeste heim, das ihm seine Kameraden gegeben haben, halb trunken, voller Misstrauen, ungeduldig beiseitegeschoben von seiner Frau, die ein letztes Stelldichein mit ihrem Galan verabredet hat; in schnell wachsendem Argwohn will er sie zu einem Geständnis zwingen und wird von ihrem Liebhaber niedergestochen, der auf den Hilferuf der Gemisshandelten herbeieilt. Freilich, was der Dramatiker gewinnt, das verliert der Sozialphilosoph: diese Frau ist nicht „befreit", sondern höchstens deklassiert und wird schon am nächsten Morgen ihren erstochenen Mann mit blutigen Tränen wieder zum Leben erwecken wollen.

In der „Sittlichen Forderung", die wie die „Lore" bereits anderweitig aufgeführt worden war, stellt der Dichter das Problem so, dass ein junges Mädchen, das von ihren Eltern zu einer Geldheirat mit einem älteren Manne gezwungen werden soll, aus ihrer Heimat flieht und nach mancherlei Elend als internationale Konzertsängerin ein glänzendes, obschon vom bürgerlichen Moralstandpunkte sehr wurmstichiges Dasein führt. Es ist ein ähnliches Thema, wie Sudermann in der „Heimat" gewählt hat, nur dass Hartleben kecker und wahrer die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zieht. Seine Rita ist ganz frei von den erhabenen und sentimentalen Gefühlen, die Sudermanns Magda prunkend vor sich einher trägt: als ihr Jugendgeliebter kommt, um sie trotz alledem als ehrsame und reiche Kaufmannsfrau heimzuholen, lacht sie ihn aus und bekehrt ihn in drolliger Weise von seiner „sittlichen Forderung" zu dem reelleren Genuss, eine Stelle in dem bunten Reigen ihrer Liebhaber einzunehmen. Das Stückchen ist voll übermütigen Witzes, dem mit hausbackener Philistermoral nicht beizukommen ist und dem wir zuletzt damit beikommen möchten. Im Gegenteil muss durchaus anerkannt werden, dass Hartleben, wenn auch nicht durchweg mit dem gleichen künstlerischen Erfolge, so doch durchweg mit künstlerischer Wahrhaftigkeit, sein Problem zu lösen sucht. Er hat fein genug beobachtet, dass in der bürgerlichen Klasse das Geld zwar die Ketten des Weibes schmiedet, aber auch nur das Geld diese Ketten lösen kann. Im „Fremden" wird die Frau „befreit", weil ihr Geliebter aus einem armen ein reicher Mann geworden ist, im „Abschied vom Regiment" wieder „befreit" sich die Frau, auf denselben Reichtum pochend, der sie in die Knechtschaft gebracht hat; die „Freiheit" der Rita und der Lore beruht auf den stets gefüllten Börsen ihrer wechselnden Liebhaber. Aus diesem Kreislaufe gibt es keinen Ausweg, aber das ist die Schuld des Dichters nicht, der die bürgerliche Welt nicht erschaffen hat und sie nicht zu verbessern, sondern nur künstlerisch widerzuspiegeln braucht. Deshalb stehen die „Befreiten" beträchtlich über der „Hanna Jagert", wo Hartleben tendenziöses Irrlichterieren mit dichterischem Schaffen verwechselte.

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