Franz Mehring 19001205 Berliner Theater (Carl Hauptmann, „Ephraims Breite")

Franz Mehring: Berliner Theater

Carl Hauptmann, „Ephraims Breite"

5. Dezember 1900

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 316-318. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 401-404]

In der dickleibigen Reklame, die Herr Paul Schienther als angebliche Biographie Gerhart Hauptmanns auf den Büchermarkt geworfen hat, wird der um vier Jahre ältere Bruder Carl Hauptmann als der schützende Genius des Helden dargestellt. Selbst noch ein Knabe, erkennt er klar, was alles in dem kleinen Sorgenkind von Bruder steckt, der bereits in der Quinta eine unbillig harte und lange Leidensstation durchmacht; für und für sorgt er für den ratlosen Poeten und begrüßt dessen Erstlingswerk mit dem „neckend-ernsthaften" Glückwunsch: „Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in die Unsterblichkeit." Sonst aber rühmte der geschäftige Heerbann, der von der reich gesegneten Familie Hauptmann so viel zu singen und zu sagen weiß, an Carl Hauptmann nur die hohe wissenschaftliche Befähigung, die er als Schüler Haeckels betätige, und es scheint fast so, als würde es in diesen Kreisen übel vermerkt, dass der ältere Bruder seit einigen Jahren mit dem jüngeren um den Lorbeer des Dichters zu ringen begonnen hat. Wenigstens ist Carl Hauptmann erst mit seinem dritten Stücke, „Ephraims Breite", einem Schauspiel in fünf Aufzügen, auf die Berliner Bühne gedrungen, und auch nur erst ins Schiller-Theater, das den rauen Pfad des beginnenden Bühnendichters nicht so zu ebnen vermag wie das Deutsche Theater, an dem Gerhart Hauptmann heimisch ist.

Unzweifelhaft hat jeder Dichter das Recht, für sich als eigene Persönlichkeit und nicht als Bruder seines Bruders beurteilt zu werden. Immerhin aber lässt sich die Familienähnlichkeit nicht gänzlich von der Kritik übersehen, sobald sie sich absichtlich aufdrängt. Mit manchen der kleinen Mätzchen, mit denen Gerhart begann, beginnt auch Carl Hauptmann; so, um nur das größte dieser kleinen Mätzchen zu nennen, mit dem krampfhaft durchgeführten schlesischen Dialekt. Man könnte mit gutem Fug alle Dialektdichtung einen künstlerischen Rückschritt nennen, und ein Dichter, der wie wenige verstanden hat, klassisches Hochdeutsch mit dem frischen Hauche landsmannschaftlicher Eigenart zu würzen, hat mit aller Unumwundenheit diese Ansicht vertreten. Gottfried Keller schreibt einmal: „Wer einen Volksstoff nicht in die Schriftsprache übersetzen kann, sondern den Charakter in ,no schauens, i hob sie lieb gehobt' suchen muss, der weiß überhaupt nicht, was ein Drama ist oder sein soll, oder kann wenigstens keins machen." Das ist nach Kellers Art etwas paradox ausgedrückt, aber ein richtiger Kern steckt gewiss darin. Es gibt geborene Dialektdichter, bei denen Form und Wesen so unlöslich verschmolzen sind, dass sie in hochdeutscher Sprache banal und trivial werden, wie Fritz Reuter, und selbst von einem ungleich größeren Poeten, wie Anzengruber, lässt sich der Dialekt nicht lösen, ohne seinen ganzen Organismus tödlich zu verletzen. Aber wo der Dialekt, wie so häufig von den modernen Naturalisten, in bewusster Absicht als künstlerisches Mittel gebraucht wird, da ist er nur eine unkünstlerische Krücke. Der wirkliche Meister offenbart sich darin, dass er in der allgemeinen Sprache der Nation originell sprechen und seine Gestalten originell sprechen lassen kann.

Brigitte Ephraim", wie nichtssagend und nüchtern, „Ephraims Breite", wie pikant und rätselhaft, das heißt, wie gesucht und unnatürlich! Der Leser der Dichtung stolpert unaufhörlich über die kleinen Unverständlichkeiten des schlesischen Dialekts, der unter den deutschen Dialekten sicherlich nicht der anmutigste ist; und gar auf der Bühne wird, wie so oft beim modernen Naturalismus, zur höchsten Unnatur, was angeblich die höchste Natur sein soll. Fügt es der Zufall, dass alle Schauspieler den Dialekt beherrschen, so sitzt das Publikum ratlos da, es sei denn, dass die Aufführung zufällig auf dem beschränkten Gebiet stattfindet, wo gerade dieser Dialekt allgemein gesprochen und verstanden wird. Oder die Schauspieler beherrschen den Dialekt nicht, und das Publikum will auch einen Genuss von der Darstellung haben, und dann entsteht ein fürchterliches Kauderwelsch, das weder Dialekt noch Sprache, sondern ein Unding und ein Unsinn ist, jenes „no schauens" und „i hob sie lieb gehobt", über das Gottfried Keller seinen sehr berechtigten Spott ergoss.

Um nun auf das Drama mit dem gespreizten Titel selbst zu kommen, so ist es inhaltlich eine Dorfgeschichte von nicht gerade großer Originalität. Doch ist der dramatische Konflikt nicht ohne Feinheit und auch nicht ohne Größe geschürzt. Brigitte Ephraim, ein herbes, kräftiges, willensstarkes Bauernmädchen, liebt den Knecht ihres Vaters, einen hübschen und in seiner Art auch tüchtigen Zigeunerburschen, und weiß ihre Heirat mit ihm durchzusetzen, so dass der Findling von der Landstraße der Erbe des reichen Bauern wird. Wie nun Bauernblut und Zigeunerblut doch nicht miteinander fertigwerden, ist das eigentliche dramatische Problem, mit dem es sich der Dichter nicht entfernt so leicht gemacht hat wie mit dem Drum und Dran, das von dem braven, eigensinnigen, polternden Bauernvater bis zu dem leichtfertig-sentimentalen Harfenmädel nicht über die hergebrachte Schablone hinausreicht.

Es ist ein tragischer Gegensatz, der in dem Helden und der Heldin miteinander ringt: ein sozialer Gegensatz, der ihnen angeboren und also ihr Schicksal ist, das durch den flüchtigen Rausch der Geschlechtsliebe nicht bezwungen werden kann. Jeder der beiden Charaktere hat recht, und jeder behauptet sein Recht, indem sie auseinandergehen. Als die Ehe zerbricht, sagt Brigitte: „Mit Gewalt fest machen, was flüchtig ist und doch nimmermehr mir gehören kann, nein – das gewiss nein! So verblendet wollen wir nimmermehr sein. Du kannst nun hingehen, zu wem du willst, du kannst meinetwegen auch hier bleiben. Ich werd's dulden. Verstehst du mich: Du bist ja der Vater zu meinem Sohne! Aber wir wissen, wie wir stehen – heute und in alle Ewigkeit!" Darauf antwortet der Zigeuner: „Du hast recht! Sicher! Sicher! Man müsste lachen! Ha ha ha! Aber ihr lacht nicht – ihr verachtet mich. So verachtet mich doch! Schließlich so oder so, was liegt am Ganzen! Ich werde euch gewiss nicht mehr lästig fallen. Das nicht! Das sicher nicht! Hass wider Hass! Ich finde meine Wege!" Und so wandert er auf die heimatliche Landstraße, während sie zu den häuslichen Milchkübeln zurückkehrt.

An diesen Charakteren hat der Dichter mit großem Fleiß und sinnigem Talent gearbeitet, aber wie ein rechter Schöpfer hat er sie doch nicht lebendig zu machen gewusst. Ein Bauernmädchen philosophiert nicht: „So verblendet wollen wir nimmermehr sein", und ein Zigeunerbursche philosophiert nicht: „Schließlich so oder so, was liegt am Ganzen!" Das Schicksal der beiden musste aus ihrem Blute herauswachsen, das will sagen, aus dem Bauernmilieu der einen und aus dem Zigeunermilieu des andern. Vielleicht war das besser oder wenigstens leichter auf epischem als auf dramatischem Gebiet darzustellen: jedenfalls ist Carl Hauptmann hier allzu tief in der überkommenen Theaterromantik hängengeblieben. Und zum Unglück für ihn kam er nicht im Deutschen Theater, sondern im Schiller-Theater zum Wort. Dort wäre alles Wahre in dem Drama bis auf den letzten Hauch ausgeschöpft und das Falsche kräftig gedämpft worden; hier wurde umgekehrt alle falsche Romantik derb unterstrichen, während mindestens die Darstellerin der Brigitte keine Ahnung davon hatte, um was es sich bei diesem Charakter eigentlich handelt. Der lebhafte Beifall, den das Stück bei dem naiven Publikum des Schiller-Theaters erhielt, war nicht der, den der Dichter erstrebt und in seiner Weise auch verdient hat.

Es soll damit kein Tadel gegen das Schiller-Theater ausgesprochen werden, dem im Gegenteil gedankt werden muss, dass es sich dieses Schauspiels angenommen hat. Das Drama hält reichlich den Vergleich nicht zwar mit jedem, aber doch mit manchem Drama Gerhart Hauptmanns aus und steht entschieden weit über einem Schmarren wie „Schluck und Jau", dem die Tür des Deutschen Theaters sogleich offenstand. Wir sehen überhaupt keinen Vorzug der modernen Dramatik darin, dass sie so gänzlich auf eine glänzend und bis zu einem gewissen Grade doch auch raffiniert ausgebildete Schauspielkunst angewiesen ist; sie stände beträchtlich höher, wenn sie sich auch mit den mittleren Schauspielkräften des Schiller-Theaters siegreich zu behaupten wüsste. Aber Carl Hauptmann segelt nun einmal ganz im Fahrwasser des modernen Naturalismus, und so ist er im Schiller-Theater vor die unrechte Schmiede gekommen, die ihm seine Arbeit gerade da verhämmert hat, wo sie am feinsten ziseliert ist.

Ob ihm eine Bühnenzukunft bevorsteht, lässt sich danach nicht mit unbedingter Sicherheit entscheiden. Einer jener kühnen Griffe oder auch Missgriffe, vor denen man unwillkürlich ausruft: Das konnte nur ein geborener Dramatiker wagen, findet sich in „Ephraims Breite" nicht, aber es steckt viel kluge Arbeit darin, die den unverkennbaren Stempel eines Dichters trägt.

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