Franz Mehring 19000402 Berliner Theater (Erich Schlaikjers „Heinrich Lornsen")

Franz Mehring: Berliner Theater

Erich Schlaikjers „Heinrich Lornsen"

2. April 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 25-28. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 396-400]

In einem seiner Briefe macht Rodbertus einmal die Bemerkung, es gebe keine ordentliche Zeitung, die sich in ihren jungen Tagen nicht tüchtig habe durchschlagen müssen. Nun braucht zwar, was dem Zeitungsschreiber recht ist, dem Bühnendichter noch nicht billig zu sein, allein in allen Zeiten, wo die historische Entwicklung die sozialen Gegensätze in hohem Maße schärft, ist auch die Kunst kein still umfriedeter Bezirk, am wenigsten die Bühnenkunst, in deren Räume dann immer des Tages Brand- und Schlachtlärm hallt. Der dramatische Anfänger, dem in solchen Tagen alle Welt bestätigt, dass er nicht übel begonnen habe, hat den Verdacht gegen sich, niemals über die passable Mittelmäßigkeit hinauszugelangen; wäre es ihm beschieden gewesen, mit seinem Erstling die Geister in Hass und Liebe zu trennen, so würden ihm glücklichere Sterne leuchten.

Unter diesem Gesichtspunkt darf Erich Schlaikjer sehr zufrieden sein mit dem Erfolg seines bürgerlichen Trauerspiels „Heinrich Lornsen", das am 29. März im Schiller-Theater zum ersten Male aufgeführt wurde. Während die einen dies Werk schon neben die Meisterdramen Ibsens und Hebbels stellen, wissen es die anderen nicht genug herunterzureißen. Der „Reichsbote" bietet die lex Heinze1 dagegen auf und denunziert mit jenem alten schmutzigen Denunziantenkniff, der den Dichter verantwortlich macht für jedes Wort, das seine Gestalten aus ihrem besonderen Charakter und ihrer besonderen Situation heraus sprechen. Aber auch Blätter, wie die „Nationalzeitung", die ästhetische Ansprüche erheben und, so wie die Dinge in der bürgerlichen Presse liegen, auch noch am ehesten erheben dürfen, denunzieren verschämter und – wirksamer, indem sie der Direktion des Schiller-Theaters mit wohlwollender Biedermannsmiene vorhalten, wie sie vor ihrem kleinbürgerlichen Publikum verantworten könne, solche „blutrünstige Tendenzstücke" in ihren Spielplan aufzunehmen.

Ein „blutrünstiges Tendenzstück" ist das Drama Schlaikjers so wenig, wie es ein „bürgerliches Trauerspiel" in dem hergebrachten Sinne des Wortes ist, in dem Sinne also von „Kabale und Liebe" und von „Maria Magdalena", der beiden Dramen, die in der deutschen Literatur dem Begriff des bürgerlichen Trauerspiels das klassische Gepräge gegeben haben. Unter den mannigfachen Gaben des dramatischen Dichters, die Schlaikjer in diesem Stücke erprobt hat, befindet sich noch nicht die Fähigkeit, einen breiteren Ausschnitt des gesellschaftlichen Lebens künstlerisch zu reproduzieren; so unrichtig der Nebentitel, das „bürgerliche Trauerspiel", ist, so richtig ist der Haupttitel „Heinrich Lornsen"; es ist eine psychologische Tragödie, die sich gänzlich um ihren Helden bewegt. Seine Seelenkämpfe erfüllen das ganze Stück, das in dieser herben Einseitigkeit allen episodischen Schmuck verschmäht und dadurch einen etwas monotonen Gang erhält, sei es nun, weil der Dichter allzu strenge und der theatralischen Wirkung nicht günstige Konsequenzen zieht oder sei es, weil hier wirklich eine Schwäche seiner dramatischen Begabung vorliegt.

In der Exposition des ersten Aufzugs, einigen Szenen zwischen zwei Fischern und der Witwe Lornsen, erfahren wir, dass diese Frau einen üblen Ruf genießt wegen der Beziehungen, die sie vor ihrer Ehe mit dem Reeder Sievert gehabt hat, dass ihr Mann, der Lotse Lornsen, ein tüchtiger Segler, aber ein arger Trinker war, der auf einer stürmischen Fahrt verunglückt ist, dass ihr Sohn seine Stellung als Lehrer aufgegeben hat und nun, als Rekonvaleszent von einem lebensgefährlichen Typhus in ihrem Hause lebend, aufreizende Artikel für ein kleines Blatt des nordschleswigschen Hafenstädtchens schreibt, das der Schauplatz der Handlung ist. Die Heftigkeit, womit sich Frau Lornsen zu den Fischern über das Treiben ihres Sohnes ausgelassen hat, entfaltet sich dann ihm selbst und seiner Braut gegenüber halb als kleinbürgerliche Verbissenheit, die in einer „festen Anstellung" das höchste Ziel menschlichen Ehrgeizes erblickt, halb auch als Furcht und Hass vor dem erwachsenden Rächer des betrogenen Vaters. So auch tritt Heinrich auf, nervös und überreizt durch die kaum erst Überständern Krankheit, ein hochfliegender und zugleich niedergedrückter Geist; in keiner seiner Erinnerungen lebt ihm die Vaterstadt mit Sonnenschein auf den Dächern, jene Novembernacht, da sein Vater ertrank, hat alles andere verdrängt und seine Jugend in seinem Geiste dunkel gefärbt. Seine Braut, ein gutes und kluges Mädchen, steht zwischen Mutter und Sohn, der ihr doch noch danken will, wenn sie ihm ein freundliches Gesicht von der Mutter verschafft. Dann aber schürzt sich der Knoten, als der Reeder Sievert von der Mutter die Entfernung des Sohnes aus der Stadt verlangt, da er seine Stellung durch dessen heftige Artikel gegen die Reichen gefährdet glaubt; unbedenklich opfert die Mutter ihr Fleisch und Blut dem ehemaligen Geliebten, von dessen Wohltaten sie jetzt noch lebt.

Im zweiten Aufzug spannt der Reeder Sievert einen zweiten Strang auf seinen Bogen. Durch den Pastor Iversen lässt er den alten Lehrer Hansen, den Vater von Heinrichs Braut, wie beiläufig benachrichtigen, dass Heinrich eine Stellung an einer parteilosen Zeitung erhalten könne. Der alte Hansen redet auf Heinrich ein: „Man kann manches tun und manches lassen, ohne dass man ein Schuft zu sein braucht", doch er begreift, dass Heinrich keinen Frieden machen kann. Dann rückt der Pastor Iversen selbst mit gröberem Geschütz auf den Plan; rau abgewiesen, schärft er den empfindlichsten Stachel in Heinrichs Brust, indem er ihm beim Abschied sagt, der Gedanke an seine Mutter solle ihm doch Besorgnis einflößen, der „reiche Sievert" könne nicht nur ein treuer Verbündeter, sondern auch ein gefährlicher Gegner sein. In einem erschütternden Auftritt gesteht Heinrich nun seiner Braut, dass er alles weiß: „Meine Mutter war die Mätresse des Reeders Sievert… Und als er sie abgelegt hatte, wurde sie an meinen Vater verkuppelt. Mein Vater war ein ehrlicher Kerl, aber ein plumper Taps. Er kam zu spät dahinter. Und als er das fein gesponnene Gewebe mit seinen ehrlichen Seemannsfäusten nicht mehr zerreißen konnte, fing er an zu trinken. Und als die Leute anfingen, ihn einen verkommenen Lumpen zu nennen, fuhr er eines Abends aufs Meer hinaus – und kam nie wieder. Und ich war der einzige, von dem er Abschied nahm." Aufgewühlt im Innersten, wird Heinrich nun von der Forderung der Mutter überrascht, die Stadt zu verlassen; in einer sehr krassen, aber doch tief begründeten und machtvoll sich steigernden Szene wirft er ihr alles vor, was er ihr vorwerfen kann, und sie bricht darüber zusammen.

Als sich der Vorhang zum dritten Male hebt, ist sie gestorben. Hinter sich die Schuld, die mit großen Augen droht, will Heinrich die Stadt verlassen und draußen den Kampf für sein Recht fortführen. Der alte Hansen hält ihm noch einmal vor: „Nimm's nicht so bitter, Heinrich. Es kann auf diese Weise nicht genommen werden, du sollst friedlich arbeiten und glücklich sein … Niemand bekommt sein Recht. Einige bekommen mehr, die meisten weniger. Sein Recht bekommt im Leben niemand." Aber Heinrich will kein Glück, er will sein Recht. Er reißt sich von seiner Braut los und wandert mit dem Fluche des alten Hansen in die Fremde, friedlos und heimatlos.

Was dies Drama mit „blutrünstiger" oder, wie es in andern bürgerlichen Blättern gar heißt, mit „sozialdemokratischer Tendenz" zu tun haben soll, ist nicht einzusehen. Wie Schlaikjer als Theaterkritiker des „Vorwärts" sich gleichermaßen frei zu halten weiß von ästhetischer Knochenerweichung wie von politischem Kunstbanausentum, so auch als Dramatiker. Er verzärtelt seinen Konflikt nicht, um die schwachen Nerven der Bourgeoisie zu schonen, aber er verfälscht ihn auch nicht, um politische Tendenz zu machen. Insofern ist sein Drama allerdings ein „bürgerliches" Trauerspiel, als es mit der Sozialdemokratie rein gar nichts zu tun hat. Heinrich Lornsen ist so wenig ein Sozialdemokrat, dass verständigere Kritiker der bürgerlichen Presse ihn als eine Art modernen Hamlet auffassen. Er ist zugleich, wie wir schon sagten, ein hochfliegender und niedergedrückter, ein gescheiter und verbohrter Geist oder, um es noch schroffer auszudrücken, ein zugleich brutaler und schwacher Charakter, brutal und schwach in jener eigentümlich tragischen Verbildung, die notwendig entsteht, wenn ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht willenlos zerstampfen lassen, sondern sein Recht von ihr ungestüm erkämpfen will, ohne zu erkennen, dass er es nie von ihr erlangen kann. Ihm brennen die Wangen vor Scham, das Brot der Schande im Hause seiner Mutter zu essen, und doch tötet er sie, weil sie ihn aus dem Hause treiben will, obgleich sie wisse, dass er draußen nicht einmal einen Stein habe, um seinen Kopf darauf zu legen. Es ist ein in all seiner Kompliziertheit mit furchtloser Wahrhaftigkeit gezeichneter, aber durchaus bürgerlicher Charakter. Dieser Heinrich Lornsen wird nie in den Reihen der Sozialdemokratie auftauchen; ihm hat seine Mutter sein Schicksal gesprochen, als sie zu seiner Braut sagte: „Ich kenne seinen Charakter wie meine Tasche. Viel besser als du. Du siehst nur das Gute an ihm und hältst ihn für ein großes Licht. – Soll ich dir sagen, wie er ist? Genauso wie sein Vater … Der Sohn sinkt auch, und er wird erst Ruhe finden, wenn er ganz unten ist, auf dem Grund." Indem sie den Charakter ihres Sohnes durchschaut, gewinnt die Mutter, die sonst leicht als altes, eigensüchtiges und zänkisches Weib erscheinen könnte, die tragische Höhe; zwischen diesen Charakteren gibt es keine Versöhnung.

Leider hat sich der Dichter aber doch bequemt, bei der Aufführung seines Dramas in den harten und wahren Schluss einen versöhnenden Ton klingen zu lassen. Heinrich reißt sich nicht völlig von seiner Braut los, sie trennen sich in der Hoffnung, in ferner Zukunft doch noch ein „Glück im Schatten" zu finden. Wir wollen darüber nicht allzu sehr mit Schlaikjer rechten; er könnte sich auf Hebbel berufen, der seinem ersten Drama, um es auf die Bühne zu bringen, auch die tragische Spitze abbrechen ließ. Aber geschädigt wurde die dramatische Wirkung dadurch beträchtlich, und wer das Stück nur gesehen, nicht auch gelesen hat, konnte ganz wohl zu der Meinung kommen, es sei nicht zu erkennen, wohinaus der Dichter eigentlich wolle. Und im Übrigen wäre es gar nicht nötig gewesen, diese Rücksicht auf die kleinbürgerlichen Vorurteile der Hörer zu nehmen. Das naive Publikum des Schiller-Theaters ging tapfer mit dem Dichter; es war eine Freude, zu sehen, wie es sich über manche Länge, manche Wiederholung, manche Unfertigkeit hinweghalf und mit seinem lebhaften Beifall nicht kargte, in der instinktiven Empfindung, dass sich hier ein ehrliches und starkes Bühnentalent ankündige. Unter der gleichen Empfindung standen offenbar die darstellenden Künstler, die mit erfrischendem Eifer und meist auch schönem Erfolg ihren teilweise schwierigen Aufgaben gerecht zu werden suchten.

Gewiss bleibt Schlaikjer noch vieles schuldig, und nicht bloß in bühnentechnischer Hinsicht oder in solchen Dingen, die gelernt werden können und auch gelernt werden müssen, in denen kein Meister geboren wird. Was uns sein bedenklichster Mangel zu sein scheint, deuteten wir schon an: die dramatische Handlung ist gar zu dürftig und knapp, und mancher der wenigen Gestalten fehlt die eigentümliche Farbe und Form: der Reeder Sievert ist ziemlich konventionell gehalten, der Pastor Iversen streift sogar an ein possenhaftes Zerrbild. Dagegen hat die Diktion, obgleich sie gelegentlich überladen ist, dialektische Kraft und dramatischen Nerv; wir halten es für einen äußerst glücklichen Griff Schlaikjers, dass er der Sprache des Trauerspiels, ohne ihrer realistischen Wahrheit etwas zu vergeben, doch einen Hauch jenes Pathos wiedergibt, das ein gutes Recht der Tragödie ist. Alles in allem darf man der Zukunft dieses dramatischen Dichters mit froher Zuversicht entgegensehen; hat er noch nicht auf der ganzen Linie gesiegt, so hat er doch die Schlacht zu halten gewusst, wie sie nur eine feine und sichere Kunst zu halten vermochte.

1 Lex Heinze wurde die am 25. Juni 1900 angenommene Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch genannt, die durch einen Prozess gegen einen Berliner Zuhälter namens Heinze angeregt wurde. Die Novelle ergänzte und verschärfte die gesetzlichen Vorschriften gegen Kuppelei, Zuhälterei und gegen die Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das Zentrum und die Konservativen versuchten bei den Reichstagsdebatten auch Bestimmungen in die Novelle einzufügen, die zur weitgehenden Beschränkung der noch bestehenden künstlerischen und literarischen Freiheit geführt hätten. Diese reaktionären Machenschaften wurden durch den Protest weiter Kreise der Bevölkerung, vor allem auch der Künstler und Schriftsteller, besonders aber durch den Kampf der Sozialdemokratie vereitelt.

Kommentare