Franz Mehring 19080925 Bücherschau (Otto Ernst: Semper der Jüngling)

Franz Mehring: Bücherschau

Otto Ernst: Semper der Jüngling

25. September 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 972/973. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 413]

Otto Ernst, Semper der Jüngling. Ein Bildungsroman. Leipzig 1908, Verlag von L. Staackmann. 452 Seiten. Preis brosch. 4 Mark, geb. 5 Mark.

Dieser Roman, der einen großen Erfolg gehabt hat und schon in mehreren zehntausend Exemplaren abgesetzt worden ist, wurde kürzlich in einem reaktionären Blatte arg heruntergerissen, und wir nahmen ihn zur Hand in der Absicht, ihn gegen eine, wie uns scheinen wollte, tendenziöse Kritik zu verteidigen. Nun war die Kritik, wie uns die eingehende Prüfung des Buches zeigte, freilich tendenziös genug, aber immerhin nicht ganz unerklärlich gegenüber den unmäßigen Lobeserhebungen, die dieser „Bildungsroman" in anderen bürgerlichen Blättern gefunden hat. Was der Verfasser uns gibt, verrät im Grunde so wenig von „Bildung" wie von einem „Roman"; es ist die etwa in gleichem Maße flach und flott geschriebene Biographie eines Hamburger Volksschullehrers, der es an der Stirn geschrieben steht, dass sie die Autobiographie des Verfassers sein soll.

Nun muss der Dichter gewiss aus dem eigenen Busen schöpfen, jedoch Otto Ernst hat sich die Sache allzu bequem gemacht. Alle diese zufälligen Begegnungen und Erlebnisse, die er uns mehr oder weniger weitläufig schildert, würden den Leser erst interessieren, wenn sie in inneren kausalen Zusammenhang mit der „Bildung", das heißt mit der inneren Entwicklung des Helden, gesetzt würden, aber daran fehlt es wenn nicht ganz und gar, so doch in hohem Maße, und auch die unzähligen Zitate aus allen möglichen Dichtern, von Goethe bis auf Storm und Fontane, tun nichts zur Sache. Hat man die 452 Seiten hinter sich, so legt man das Buch froh aus der Hand, aber befriedigt freilich in keiner Weise.

Dennoch begreifen wir vollkommen den buchhändlerischen Erfolg des Romans. Für ein künstlerisch anspruchsloses Publikum liest er sich ganz munter fort, und über Schulfragen, von denen der Verfasser etwas versteht, findet sich manches gescheite Wort. Schade bei alledem, dass Otto Ernst sein Talent, das nicht groß, aber echt war, in massenhafter Scheidemünze, die nicht einmal immer echt ist, zu verzetteln begonnen hat.

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