Franz Mehring 19110710 Bücherschau (Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin. Kampfjahre)

Franz Mehring: Bücherschau

Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin. Kampfjahre

10. Juli 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 391/392. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 424]

Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin. Kampfjahre. München, Verlag Albert Langen, 657 Seiten. Geheftet 6 Mark.

Dem ersten Bande dieses sogenannten „Romans" haben wir einen Bombenerfolg beim Bourgeoispublikum vorhergesagt und dürfen uns heute rühmen, gute Propheten gewesen zu sein. Dem zweiten Bande möchten wir ein noch günstigeres Prognostikon stellen. Er schmeichelt den verdorbenen Instinkten der Bourgeoisie nicht nur durch den eigentümlichen Mangel an Scham, mit dem die Verfasserin, wie schon im ersten Bande, über ihr intimstes Geschlechtsleben berichtet, sondern ebenso oder noch mehr durch den kleinlichsten Parteiklatsch: einen Klatsch, der die Wahrhaftigkeit der Verfasserin etwa ihrer Schamhaftigkeit gleichwertig erscheinen lässt, aber sich allerdings allen blöden Vorurteilen des kapitalistischen Protzentums vortrefflich anschmiegt.

Die bürgerliche Kritik hat denn auch jubelnd dies „vornehme Werk" einer „vornehmen Frau" begrüßt. Immerhin besaß sie soviel Anstand und Takt, anzunehmen, dass die Verfasserin nicht mehr einer Partei angehöre, mit deren angeblich schmutziger Wäsche sie auf offenem Markte hausiert. Indessen mit dieser wohlwollenden Annahme war die bürgerliche Kritik auf dem Holzwege. Die Verfasserin verlangte von ihr die Berichtigung, dass sie immer noch eingeschriebenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei sei. Diese Mitteilung eröffnet einen Einblick mehr in die Geheimnisse ihres Busens, dessen perlmutterne Schönheit sie preisend singt, aber es zeigt sich nun doch ein tiefer Riss in der meisterhaften Architektonik ihres Werkes; wie kann und will sie ihre flammende sittliche Entrüstung über jene ahnungsvollen Engel begründen, die in ihr – nach ihrer, ausnahmsweise vielleicht glaubwürdigen Behauptung – von jeher die „Geschäftssozialistin" gewittert haben?

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