Franz Mehring 19091211 Bücherschau (Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre)

Franz Mehring: Bücherschau

Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre

11. Dezember 1909

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 447/448. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 421-423]

Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin, Lehrjahre. Roman. Geheftet 6 Mark, gebunden 7,50 Mark. Verlag von Albert Langen, München. 657 Seiten.

Die „Memoiren einer Sozialistin" haben mit dem Sozialismus nichts zu tun, und sie sind auch kein „Roman", wie es auf dem Titel geschrieben steht. Die Verfasserin erzählt darin ihre Lebensgeschichte, die sich bis gegen den Schluss des dicken Bandes bei „Generals", „Kronprinzens", „Großherzogs" und in sonstigen illustren Kreisen abspielt. Das „Romantische" aber besteht darin, dass die Verfasserin sich nicht Lily Braun, sondern Alix v. Kleve, ihren ersten Gatten nicht Georg v. Gizycki, sondern Georg v. Glyczinski, und ihren zweiten Gatten, den der Leser zum guten Ende am Horizont auftauchen sieht, wie eine schimmernde Fata Morgana nach langer Wanderung durch eine Sandwüste, nicht Dr. Braun, sondern Dr. Brandt nennt. Dazu kommen dann Professor Fiedler statt Geiger, Dichter Sindermann statt Sudermann usw.

Richtiger wäre es gewesen, wenn die Verfasserin ihr Buch nicht unter den Schatten des Sozialismus, sondern unter den „Schatten der Titanen" gestellt und als Titel Goethes Wort: „Es ist ihr ganzes Weh und Ach aus einem Punkte zu kurieren" gewählt hätte, dazu etwa: „Praktisch erläutert von einer Urenkelin des Königs Morgen-Wieder-Lustik". Immerhin hören wir schon auf der zweiten Seite, dass dieser erhabene Herrscher – halb Cäsar, halb Antinous – der Urgroßvater der Verfasserin gewesen sei. Einige Seiten später teilt sie uns höchst intime Sachen aus der Hochzeitsnacht ihrer Eltern mit. Dann schildert sie mit drastischer Anschaulichkeit, wie sie als zwölfjähriges Kind die ersten Spuren mannbaren Alters an sich entdeckt habe, und sie jauchzt: Leben und genießen will ich, wobei jedoch der Leser noch dankbar sein darf, dass er nicht bei jeder periodischen Wiederkehr dieser Symptome in ein neues Holdrio mit einstimmen muss. Weiter bietet sie sich einem Duodeziprinzen, der sich aus Mangel an Moneten nicht mit ihr verheiraten kann, als Geliebte an, was dieser ehr- und tugendsame Jüngling jedoch mit höflicher Entschiedenheit ablehnt.

Darauf geht ihr Vater-General mit einer leibhaftigen Pistole auf sie los, weil sie – hänge dich, Sindermann, der du deine Magda vom Vater-Oberst nur wegen eines unehelichen Kindes anschießen lässt –, also, weil sie einen Mann heiraten will, der zwar von „altem gutem Adel" ist, aber wegen körperlicher Leiden keine ehelichen Kinder erzeugen kann. Glücklich dem väterlichen Mordgeschoß entronnen, erregt sie in dem Gatten der Bruder- und Schwesterehe dennoch illegitim-legitime Gefühle, so dass er, als ein alter Verehrer der Verfasserin auftaucht, in einem heftigen Anfall von Eifersucht seinen Tod findet. Armer Gizycki, der, ein braver Kerl durch und durch und eine anima Candida im wahrsten Sinne des Wortes – einige Briefe aus seiner Feder sind für gesunde Nerven das einzig Lesenswerte an dem Buche – auch nicht geahnt hat, dass er als Toter von liebender Hand ins Wasser geschoben werden würde, um Krebse zu fangen.

Solche perverse Sachen, von denen hier nur einige Höhepunkte gestreift sind, ziehen sich durch das ganze Buch, das die Verfasserin übrigens ihrem elfjährigen Sohne widmet, damit er seine Mutter verstehen lerne. Neben dem Schuss Harden findet sich jedoch auch ein Schuss Marlitt darin. Bald hören wir das Trutzköpfchen in der Konfirmandenstunde mit dem orthodoxen Pfarrer über den lieben Gott streiten, bald sehen wir den tapferen Backfisch auf schnaubendem Renner durch die wallenden Septembernebel jagen, um einen alten Knaben, den Alix durch ihre Koketterie so lange gereizt hatte, bis er sich von ihren Eltern einen Korb holte, um Verzeihung zu bitten. Selbst bei „Kronprinzens" fühlt sich das freie Menschenkind nicht heimisch, vielmehr abgestoßen von dem Prinzen mit dem finsteren Blick und dem lahmen Arme, vor dem jede Sklavennatur in die Knie sinkt. Und das soll den Spießer nicht erheben und rühren!

Über die Sozialdemokraten hört Alix in ihrem elterlichen Hause nur schimpfen, besonders den Papa, der sich selbst für einen alten Kriegsknecht in auffallend krassen Rüpeleien gefallen haben muss. Er war der beste Bruder auch nicht, wenn anders das Töchterchen mit Recht berichtet, dass er die Mitgift ihrer Mutter heimlich unterschlagen hat. Daran hätte Alix lernen können, dass Eigentum Diebstahl sei, aber so erwachte sie nicht zum Sozialismus, sondern an den Reichstagsverhandlungen über das Sozialistengesetz. Kaum jedoch erschloss sich die Knospe ihrer Seele der neuen Botschaft, als wie Mehltau hineinfielen die „lahmen Ausreden", womit Genosse Singer die Angriffe Stoeckers auf seine persönliche Integrität nur zu beantworten wusste.1

Genug, man begreift, dass ein Buch, das die verdorbenen Instinkte der Bourgeoisie an den verschiedensten Ecken und Enden kitzelt, bei diesen einen Bombenerfolg hat. Besonders die Kritiker, die „von wegen hohen Alters" derartige Literatur besonders goutieren, sind außer sich vor Entzücken. Herr Dernburg, der Vater des Staatssekretärs, klagt in einem bürgerlichen Blatte über die „pöbelhafte" Kritik, die sozialdemokratische Blätter an diesem himmlischen Talent zu üben pflegten. Und gewiss – nur blasser Neid kann sich an dem brillanten Geschäft stoßen, das dies Buch macht.

1 Gemeint sind die unverschämten antisemitischen Angriffe, die von Hofprediger Stoecker besonders 1883 und 1884 gegen den bedeutenden Führer der Berliner Arbeiterbewegung Paul Singer gerichtet wurden. Stoecker richtete nicht nur zügellose persönliche Angriffe gegen ihn, sondern denunzierte ihn bei der Polizei. Wie wenig Singer mit „lahmen Ausreden" antwortete, geht aus seinen Erfolgen im Kampf hervor: 1883 wurde er durch die Arbeiter seines Wahlkreises in die Berliner Stadtverordnetenversammlung, 1884 in den Reichstag gewählt.

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