Franz Mehring 19080711 Bücherschau (Lily Braun: Im Schatten der Titanen)

Franz Mehring: Bücherschau

Lily Braun: Im Schatten der Titanen

11. Juli 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 577-579. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 41-420]

Lily Braun, Im Schatten der Titanen. Ein Erinnerungsbuch an Baronin Jenny v. Gustedt. Verlag von George Westermann in Braunschweig. 412 Seiten. Preis 6,50 Mark.

Börne schreibt einmal über Goethe: „Bürger einer freien Stadt, erinnert er sich nur, dass er Enkel eines Schultheißen ist, der bei der Kaiserkrönung Kammerdienste durfte tun. Ein Kind ehrbarer Eltern, entzückte es ihn, als ihn einst als Knabe ein Gassenbube Bastard schalt, und er schwärmte mit der Phantasie des künftigen Dichters, wessen Prinzen Sohn er wohl möchte sein."

Diese Worte Börnes fielen uns unwillkürlich ein, als wir den ersten Teil des Erinnerungsbuchs an die Baronin Jenny v. Gustedt lasen, der sich ziemlich siebzig Seiten lang dabei aufhält, dass die Heldin, die Großmutter der Verfasserin, von dem König Jerôme von Westfalen in einem ehebrecherischen Verhältnis mit der Frau Diana v. Pappenheim erzeugt worden ist. Und wir glaubten unsere Bedenken gegen diesen ersten Teil nicht höflicher ausdrücken zu können, als dass wir sie gleich unter den „Schatten der Titanen" stellten oder doch des einzigen „Titanen", der in dem Buche auftritt, nämlich Goethes.

Denn der andere „Titan", der seinen „Schatten" hineinwerfen soll, Napoleon, tut es nur auf dem etwas weitläufigen Umweg, dass sein Bruder Jerôme eben mit der Mutter der Heldin zärtliche Beziehungen gehabt hat. Die Verfasserin macht es ihrer engeren und weiteren Familie zum Vorwurf, dass diese den Fehltritt ihrer Ahnin nicht gern an die große Glocke der Öffentlichkeit gehängt sehen möchte, und sie tut sich etwas darauf zugute, dass sie den „Gehorsam gegen die Familie" nicht durch eine „Lüge vor der Öffentlichkeit" erkaufen wolle. Das wäre soweit ganz gut, wenn die Öffentlichkeit irgendein Recht darauf oder irgendein Interesse daran hätte, zu erfahren, dass die Baronin Jenny v. Gustedt eine uneheliche Tochter des Königs Jerôme gewesen ist. Ein solches Recht oder ein solches Interesse fehlt aber vollständig, selbst wenn man mit der Verfasserin annimmt, das Leben Jenny v. Gustedts sei lehrreich genug, die Öffentlichkeit zu beschäftigen. Denn diese Tochter Jerômes ist ganz in deutschen Verhältnissen aufgewachsen; sie selbst hat überhaupt erst, als sie längst Gattin und Mutter war, von ihrem Ursprung erfahren.

So erübrigt sich denn auch die Rettung, die die Verfasserin an ihrem illegitimen Urgroßvater versucht. Sie protestiert dagegen, dass der ehemalige König von Westfalen von „allen Moralpredigern und guten Patrioten als abschreckendes Beispiel verderblicher Sündhaftigkeit" geschildert worden sei; da Hass und Neid nicht an Napoleon selbst herangereicht hätten, so hätte Jerôme die Ehre, den Namen dieses Halbgotts zu tragen, mit Verfolgung und Verbannung zu bezahlen gehabt; die Verfasserin meint, dass wenn schon die Liebe, die Jerômes legitime Gattin für ihn empfunden habe, allen Schmutz fortspüle, den Neid und Hass und böswillige Verleumdung auf sein Grab gehäuft hätten, so wasche seine heimliche und stille Liebe zu Diana, v. Pappenheim die letzten Blättchen der bunten Blumen rein, die auf diesem Grabe wachsen wollten.

Da scheint uns „die engere und weitere Familie" aber doch besser beraten zu sein, wenn sie diese „heimliche und stille Liebe" nicht noch nachträglich dem öffentlichen Urteil preisgeben will. In der Tat wird die Verfasserin durch ihre menschlich schöne Zärtlichkeit für ihren Urgroßvater an der unbefangenen Würdigung seiner historischen Taten verhindert. Nicht als ob Jerôme Bonaparte nicht manche rühmenswerten Eigenschaften gehabt hätte; die Verfasserin hätte sogar viel mehr für ihn geltend machen können, als sie tatsächlich geltend macht. Neben den Angestammten konnte sich Jerôme recht gut sehen lassen. Die Reformen, die er in seinem neugebackenen Königreich Westfalen durchführen ließ, mögen mehr als ihm selbst den Beratern zuzuschreiben gewesen sein, die ihm sein Bruder stellte, jedenfalls hat er ihnen nicht den borniert-zähen Widerstand eines Friedrich Wilhelm III. entgegengesetzt, und er hat auch manches Mal die Interessen seiner „Untertanen" gegen Napoleon selbst vertreten. Als ein patriotischer Förster auf ihn geschossen hatte, begnadigte Jerôme den Übeltäter nach kurzer Einsperrung; den Befehl Napoleons, das Heimatdorf des Attentäters niederzubrennen, befolgte er nicht, sondern ließ nur die verfallene Hütte des Försters anzünden und meldete nach Paris: „Dorf Dörnberg brennt." Auch hat sich Jerôme in der Schlacht bei Waterloo als tapferer Mann bewährt.

Alles das und noch manches andere lässt sich für Jerôme anführen, und ehrlicherweise muss man anerkennen, dass auch die „patriotische" Geschichtschreibung seine mancherlei guten Seiten nicht verschweigt. Was sie gegen ihn ins Feld führt, ist wesentlich nur seine ausschweifende Liederlichkeit, wobei sie auch unparteiisch genug ist, den mildernden Umstand hervorzuheben, dass die teutschen Frauen und Jungfrauen, bürgerliche wie namentlich adelige, dem olivenfarbigen Fremdling brünstig entgegengekommen sind. Gerade hier aber, wo der Sturm am schwierigsten ist, legt die Verfasserin ihre Sturmleitern an. Sie meint mit schüchternem Erröten, ihr Urgroßvater sei „kein prinzipienfester Tugendbold" gewesen; „der antike Schönheitskultus von Florenz, der Stadt seiner Ahnen, schien vor allem wieder in ihm lebendig geworden zu sein"; mit dem Maße des Kleinbürgers gemessen, sei er ein Verschwender gewesen. Aber das sind doch allzu zärtliche Umschreibungen der nun einmal unanfechtbaren Tatsache, die Urgroßonkel Napoleon, der am Ende doch kein Kleinbürger und auch mit dem „antiken Schönheitskultus" erblich belastet war, auf St. Helena in den Worten zusammenfasste: „Jerôme war ein Verschwender, dessen Ausschweifungen schreiend gewesen sind; er hatte sich der Liederlichkeit bis zum Ekel ergeben."

Und am wenigsten dachte dieser Bruder Lustig bei seinen zahllosen Liebesabenteuern an „heimliche und stille Liebe"; gerade sein Verhältnis mit Diana v. Pappenheim war so land- und stadtkundig, dass sich die bayerische, ehemals reichsunmittelbare Familie Pappenheim, namentlich bekannt durch den so gescheiten wie verwegenen Reiterführer des Dreißigjährigen Krieges, zu der Erklärung veranlasst sah, sie sei mit dem norddeutschen Krautjunkergeschlecht gleichen Namens in keiner Weise verwandt.

Wenn somit der erste Teil des Erinnerungsbuchs an Jenny v. Gustedt: „Aus Bonapartes Stamm" eine unbegreifliche Geschmacklosigkeit ist, so wird schon der zweite Teil weit genießbarer. Zwar führt der Titel: „Unter Goethes Augen" auch noch einigermaßen irre; von Goethe selbst erfahren wir sehr wenig, und das Wenige ist von geringer Bedeutung; auch fehlt es nicht an manchem dekorativen Aufputz, der unter der Hand zerbröckelt, sobald man ihn auf seine Haltbarkeit prüft. Wenn Jenny v. Pappenheim, eben die Tochter Jerômes und spätere Baronin v. Gustedt, im November 1826 aus ihrer Straßburger Pension nach Weimar kommt, wo ihre Mutter inzwischen den großherzoglichen Minister v. Gersdorff geheiratet hatte, und noch „öfters" zu Frau v. Stein, der einstigen Geliebten Goethes, eingeladen sein, sie „alt, schweigsam, freundlich hinter einem grünen Lampenschirm, irgendein Werk Goethes vor sich", gesehen haben will, so waltet hier wohl eine Sinnestäuschung ob, denn Frau v. Stein starb, beiläufig im Alter von 84 Jahren, am 6. Januar 1827. Auch dass Schopenhauer in dieser Zeit, von 1826 bis 1833, zwar selten, aber doch häufig genug zum Besuch seiner Mutter nach Weimar gekommen sein soll, um gründlich zu missfallen, stimmt nicht mit dem, was die Biographen Schopenhauers zu berichten wissen; er war schon lange vorher mit seiner Mutter gänzlich zerfallen.

Indessen das sind verhältnismäßig nur Kleinigkeiten. Das Weimarer Leben in der letzten Zeit Goethes wird in seinen allgemeinen Zügen recht lebendig; „eine schöne Mondscheinnacht mit mildem, hohem, die Landschaft verklärendem Lichte", wie die Heldin selbst sagt, die sich trotz ihrer Stellung als Hoffräulein zu einem ernsten, nachdenklichen, tapferen Wesen entwickelt. Sie ist eng verflochten, wenn nicht mit dem Leben Goethes selbst, so doch mit dem Leben seines Sohnes, seiner Schwiegertochter, seiner Enkel, unglücklicher Menschen durchweg, die in dem strahlenden Glänze ihres Namens verkümmern; sie selbst aber dauert aus, obgleich eine unglückliche Liebe ihrem Herzen eine tiefe und nie vernarbte Wunde schlägt; in diesen Weimarer Tagen erwirbt sie eine humane Bildung, die nun fünfzig Jahre lang das Glück und die Qual ihres Lebens wird.

Wie das junge Mädchen, das nicht nur in seiner leiblichen Schönheit, sondern auch nach Geist und Charakter nicht unwürdig war, dass Goethes Augen mit Wohlgefallen auf ihm ruhten, die Gattin eines ostelbischen Junkers wird und die Mutter eines Geschlechtes, das vom Näseln des Gardeleutnants bis zum Mauscheln des Börsenjobbers in allen Melodien der neudeutschen Reichsherrlichkeit schwelgt, wie Jenny v. Gustedt in beharrlichem stillem Kampfe gegen dies Banausentum Opfer um Opfer bringt und sich in immer neuem Entsagen zu einer Hoheit der Gesinnung läutert, die ihr eigenes Leid in das große Leid der Menschheit versinken lässt: „Das Elend der Schuldlosen – das grässlichste Rätsel der Welt! In den Dorfkaten hockt es und sieht mich aus blöden Augen an, und in den Fischerhütten am Strand, wo ein hartes Geschlecht in ständigem Kampfe mit Wasser und Wind um das bisschen armseligen Lebens ringt, schreit es mir entgegen, dass aller Rest von Lebensfreude davor die Flucht ergreift" – alles das schildert ergreifend der dritte Teil des Buches, der nicht mehr „im Schatten des Titanen" spielt, aber der weitaus interessanteste Teil ist.

Hier fehlen der Verfasserin – oder richtiger der Herausgeberin –, denn die Aufsätze und Briefe der Heldin sind ja das Rückgrat des Buches – auch nicht die diskreten Farben, die der erste Teil des Buches so peinlich vermissen lässt. Nur die Briefe der „hohen Herrschaften", mit denen das ehemalige Hoffräulein beglückt worden ist, hätten wegbleiben können; je mehr man sich für die Heldin erwärmt, um so unangenehmer berührt der banale Schwatz dieses fürstlichen Geschreibsels. Auch die Tatsache, dass die Verfasserin als Kind zu „Kronprinzens" eingeladen worden ist, scheint uns kein integrierender Bestandteil der Zeitgeschichte zu sein, oder falls sie annehmen sollte, dass die Nachwelt darüber ehrerbietiger urteilen wird als die Mitwelt, so hätte sie dies Detail ihrer Enkelin zur biographischen Verwendung überlassen sollen.

Die Streichung dieser und einiger ähnlichen Dinge, dann der fürstlichen Briefe und namentlich des ganzen ersten Teiles würden in einer künftigen Auflage des Buches das Bild der Heldin umso fesselnder hervortreten lassen.

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