Franz Mehring 18921100 „Der freie Wille"

Franz Mehring: „Der freie Wille"

Schauspiel von Hermann Faber

November 1892

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 1, S. 10-14. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 381-384]

Der neugewählte Ausschuss der Freien Volksbühne hat in seiner ersten Sitzung […] mit großer Mehrheit beschlossen, das in der Überschrift dieser Zeilen genannte Schauspiel […] zur Aufführung zu bringen. Da von nun an das Vereinsleben auf möglichst breiter Grundlage beruhen und immer auch die Minderheit zu ihrem Rechte kommen soll, so wird es am geratensten sein, in einer kurzen Skizzierung der stattgehabten Debatte den einleitenden Bericht über das neue Stück zu geben.

Zunächst seien aber zwei Urteile der bürgerlichen Presse angeführt. Die „Gesellschaft" schrieb vor Jahresfrist über das Schauspiel:

Das zweite Werk des Verfassers, verrät es trotz seines flotten Zuges noch eine gewisse poetische Unzulänglichkeit in der Kunst des scharfen Charakterisierens. Dafür wird es von einem so männlich-ernsten, gesunden Ethos wie auf Adlersschwingen weit über die Gewöhnlichkeiten der sonstigen sozialen Theater-Schriftstellerei hinweg getragen. Es überragt, um ein paar Beispiele anzuführen, Fuldas „Verlorenes Paradies" und übertrifft in seiner schlichten Ehrbarkeit und Knappheit Sudermanns „Ehre". Faber bringt in einem starken Wirklichkeitsbilde den Satz zur Anschauung, dass der wirtschaftlich Abhängige, sofern er nicht sich selbst und seine Familie in Not und Elend stürzen will, in der heutigen Erwerbsgesellschaft keinerlei freien Willen hat und dass der charaktervolle arme Mensch nur um den Preis seines guten Gewissens noch seines Glücks, d. h. seines materiellen Besserbefindens, Schmied sein kann. Er erläutert dies an zwei Abschnitten aus dem Leben eines Redakteurs und einer jungen Sängerin. Der Redakteur hält um den Preis seiner moralischen Integrität seine Erwerbsstellung aufrecht, die junge Sängerin erwirbt sich ihren ersten Kontrakt um den Preis ihrer Jungfräulichkeit. Faber (mit seinem wirklichen Namen Goldschmidt, Rechtsanwalt in Frankfurt a. M.) verdient, mit Hochachtung den meistversprechenden, jungen Bühnendichtern unseres vaterländischen Realismus angereiht zu werden. Dass er ein packendes modernes Stück ohne Hysterie, Erotik und sonstige Ola Hanserie zu schreiben vermag, ist schon Auszeichnung genug und sichert ihm einen Ehrenplatz auf der Seite der Gesunden.

Und die „Gegenwart" schrieb vor einigen Monaten unter dem Titel „Soziale Dramen" nach einer Besprechung von Gerhart Hauptmanns „Webern":

Schlimmer dürfte es Herrn Faber ergehen, der ein dichterisch dünnes, aber ehrlich gearbeitetes und bühnengerechtes Drama geschrieben hat. Er zeigt, wie ein Journalist von dem Besitzer einer demokratischen Zeitung gezwungen wird, für eine faule Gründung Reklame zu machen oder mindestens machen zu lassen. Der Journalist hat Weib und Kind, und das ist bekanntlich „auch ein Programm", aber er schüttelt nach dieser ersten Unehrlichkeit seines Lebens den Beruf ab, der ihn zu geistiger Prostitution zwingt, während seine niedliche und weniger skrupulöse Schwägerin durch das Schlafzimmer eines Spekulantensöhnchens munter auf die Opernbühne hüpft. In seiner anspruchslosen Schlichtheit ist dieser „Freie Wille" vielleicht das sozial bedeutsamste Drama, das bisher dem neuen Geschlechte gelungen ist; es deutet, ohne aufdringliche Tendenz, auf die verknoteten Wurzeln der nächtigen Beziehungen zwischen Kapital auf der einen, Kunst und Presse auf der anderen Seite. Und in der Theaterhauptstadt, im stolzen Berlin, scheint kein Bühnenleiter sich an dieses einfache Stück, das doch die Probe schon glücklich bestanden hat, heranzuwagen!

Zur tatsächlichen Ergänzung sei hinzugefügt, dass eine große Anzahl öffentlicher Bühnen das Schauspiel Fabers abgelehnt hat. Es ist nur auf dem Stadttheater zu Frankfurt a. M. und auf dem Residenztheater zu München mit gutem Erfolge aufgeführt, aber auch an diesen beiden Stellen schnell wieder vom Repertoire abgesetzt worden.

In dem Ausschusse der Freien Volksbühne, dem der Verfasser sein Schauspiel eingereicht hatte, wurde nun von mehreren Mitgliedern eine Reihe von Bedenken geltend gemacht, die sich etwa folgendermaßen zusammenfassen lassen. Das Schauspiel verrate unzweifelhaftes Talent, aber es sei in der Tat dichterisch etwas dünn. Es lasse poetischen Hauch vermissen und auch realistische Wahrheit. Namentlich die Lösung des Konfliktes bleibe in äußerlich-konventionellen Fäden hängen. Der Held habe als Journalist aus Rücksicht auf Frau und Kind einen schweren Frevel begangen, und die Anlage des Schauspiels verlange einen tragischen Ausgang. Statt dessen werde die faule Gründung, für die der Redakteur unter dem ökonomischen Drucke seines Verlegers eine gewissenlose Reklame zugelassen habe, durch den günstigen Ausgang eines zweifelhaften Rechtsstreites zu einem gesunden Unternehmen gemacht; nun wasche der Schuldige seine Hände in Unschuld, aber er verschwöre für alle Zukunft seinen journalistischen Beruf. Das sei eine Häufung von ökonomischen und psychologischen Unmöglichkeiten, die im wirklichen Leben nimmermehr vorkämen. Im Grunde rechtfertige der Dichter den Verleger, der im schließlich ja auch bestätigten Vertrauen auf einen günstigen Ausgang des zweifelhaften Rechtsstreits eine freundliche Besprechung der betreffenden Aktiengesellschaft verlangt habe. Wenn sich aber der Held in seinem Innern als schuldig fühle, so sei seine Abschwörung des journalistischen Berufs doch nur ein unwahrer Schlusseffekt. Es gebe ja noch glücklicherweise eine Presse, in der keine Kollision zwischen dem ökonomischen Interesse des Verlegers und der moralischen Überzeugung des Redakteurs möglich sei. Wenn alle diese Bedenken an sich schon den künstlerischen Wert des Schauspiels schmälerten, so falle auch die dadurch bedingte Möglichkeit eines Misserfolges bei der Aufführung schwer in die Waagschale. Eine solche Gefahr dürfe die Freie Volksbühne in keinem Falle laufen; der Ausschuss schulde ihren Mitgliedern die denkbar sicherste Gewähr dafür, dass er ihnen nur künstlerisch erprobte Bühnenwerke vorführe. Man empfahl von dieser Seite etwa Maupassants „Musotte" oder Antropows „Irrlichter" zur ersten Aufführung im National-Theater.

Alle diese Bedenken wurden von andern Mitgliedern des Ausschusses keineswegs unterschätzt. Namentlich stimmte man ihnen zu, soweit sie sich auf die Lösung des Konflikts bezogen. Freilich, ein tragischer Ausgang, etwa eine Niedermetzelung der Schuldigen und ein Hungertod der Unschuldigen, sei auch nur eine konventionelle Unwahrheit; so verliefen die Dinge im wirklichen Leben erst recht nicht. Da unterlägen entweder die Journalisten, die in einen solchen Gewissenskonflikt gerieten, wie ihn der Dichter schildere, und verfielen dann der inneren Verlumpung, oder aber sie hielten ihre Ehrfurcht aufrecht und retteten sich durch einen frischfröhlichen Rückzug auf die Arbeiterpresse. Möglich, dass die Kraft des jungen Dichters noch nicht ausgereicht habe, solche Probleme zu bewältigen, gewiss, dass der von ihm gewählte Ausgang ein schwächlicher und innerlich unwahrer sei. Aber diesen wunden Punkt des Stückes in das richtige künstlerisch-soziale Licht zu stellen, könne dem Vereinsblatte überlassen werden; um dieses einen, sei es auch schweren Gebrechens willen das ganze Stück abzuweisen, dazu liege doch kein durchschlagender Grund vor. Den Bedenken gegen seinen dichterischen Wert könne nur in sehr bedingtem Maße zugestimmt werden. Es sei eben eine Anfängerarbeit, bei der dieser oder jener mattere Auftritt mit unterlaufe, aber namentlich in den beiden ersten Akten enthalte es eine Reihe packender Szenen. Möge die Lösung des Konflikts zu wünschen übriglassen: der Konflikt selbst, ein für das geistige und wirtschaftliche Leben der modernen Kultur höchst bedeutsamer und täglich sich verhängnisvoller gestaltender Konflikt, sei mit einer oft ergreifenden Naturwahrheit geschildert, wie jeder Kenner der Verhältnisse zugeben müsse. Um dieser Naturwahrheit willen, und keineswegs wegen des unrealistischen Ausgangs, stoße Fabers Schauspiel überall sonst auf verschlossene Türen, und da sei es recht eigentlich eine Pflicht der Freien Volksbühne, helfend einzugreifen. Wollte sie nur, seien es noch so wertvolle Stücke aufführen, die auch auf anderen Bühnen gespielt würden, so würde sie einen sehr wesentlichen Teil ihrer Daseinsberechtigung verlieren. Man solle das eine tun, aber das andere nicht lassen. Es sei mit eine Hauptaufgabe des Vereins, jungen Talenten, welche die sozialen Konflikte und Probleme der Gegenwart in ihrer grundsätzlichen Tiefe zu erfassen suchten und deshalb überall sonst mit kühler Höflichkeit abgewiesen würden, freiere Bahn zu schaffen. Ein Misserfolg sei gar nicht zu befürchten; aber selbst wenn die dramatische Spannung im dritten Aufzuge nachließe, so seien sich die Mitglieder der Freien Volksbühne über die Vereinszwecke so klar, dass sie sich durch das Bewusstsein, ein kräftiges und ehrlich strebendes, wenn auch noch nicht völlig ausgereiftes Talent gefördert zu haben, reichlich entschädigt fühlen würden.

Dies waren in summarischer Kürze die verschiedenen Gesichtspunkte, die in einer sachlich sehr belebten Debatte von mehreren Stunden in dem vollzählig versammelten Ausschusse der Freien Volksbühne erörtert wurden. Die Verhandlung zeigte in erfreulicher Weise, dass keine einseitige Tendenz und kein unduldsames Besserwissenwollen in dem gegenwärtigen Ausschusse vorherrscht, sondern eine erfrischende Mannigfaltigkeit der Anschauungen, von denen jede in ihrer Art berechtigt und in ehrlichem Meinungsaustausche die gemeinsamen Vereinszwecke zu erreichen bestrebt ist.

Es ist schon erwähnt worden, dass schließlich mit großer Mehrheit beschlossen wurde, das Schauspiel von Hermann Faber aufzuführen. Über seinen Wert haben nunmehr die Mitglieder des Vereins das abschließende Urteil.

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