Franz Mehring 18930100 Der heutige Naturalismus

Franz Mehring: Der heutige Naturalismus

Januar 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 3, S. 9-12. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 127-129]

In unserer Betrachtung über den Begriff des künstlerischen und literarischen Naturalismus waren wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich dieser Begriff gar nicht unter eine allgemeine Formel bringen lasse, dass man in jedem einzelnen Falle untersuchen müsse, welche Stellung die naturalistische Richtung in den Klassenkämpfen ihrer Zeit einnimmt.

Prüfen wir nun den heutigen Naturalismus an diesem Maßstab, so lässt sich nicht verkennen, dass er der Widerschein ist, den die immer mächtiger auflodernde Arbeiterbewegung in die Kunst wirft. Es kommt wenig darauf an, ja es ist bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich, dass der Naturalismus dabei das Kind mit dem Bade verschüttet. Indem er sich gegen die Unnatur entarteter Zustände empört, indem er sich gegen die akademisch-konventionelle, der Natur entfremdete, überlebte Dicht- und Malweise auflehnt, verleugnet er das Wesen jeder Kunst durch die Forderung, dass die Bedeutung des Kunstwerks einzig und allein nach seiner Naturwahrheit zu beurteilen, dass als Preis der Kunst die sozusagen buchstäbliche Wiedergabe der Natur aufzufassen, dass jede eigene Zutat aus der Phantasie des Künstlers, jede künstlerische Erfindung und Komposition zu verwerfen sei. Auf diesem Wege gelangt man beispielsweise zu der unvermeidlichen Schlussfolgerung, dass die Photographie die höchste Vollendung der bildenden Kunst sei. Wohl steckt die Kunst in der Natur, wie Albrecht Dürer in seiner tiefsinnigen Weise sagt; wer sie heraus kann reißen, der hat sie, aber „sie wird offenbar durch das Werk und die neue Kreatur, die einer in seinem Herzen schafft in Gestalt eines Dinges".

Will man dem Naturalismus trotz dieses allzu heftigen Rückschlages dennoch gerecht werden, so muss man im Auge behalten, dass er frei sein will, frei von den erstickenden Banden einer untergehenden Gesellschaft. Der Impressionismus, die Freilichtmalweise in der Malerei, der Naturalismus in der Dichtung ist eine künstlerische Rebellion; es ist die Kunst, die den Kapitalismus im Leibe zu spüren beginnt; „sie fährt herum, sie fährt heraus und säuft aus allen Pfützen". In der Tat erklärt sich auf diese Weise leicht die sonst unerklärliche Freude, welche die Impressionisten der bildenden und die Naturalisten der dichtenden Kunst an allen unsauberen Abfällen der kapitalistischen Gesellschaft haben; sie leben und weben in solchem Kehricht, und es gibt auch gar keinen peinlicheren Protest, den sie in ihrem dunklen Drange ihren Peinigern ins Gesicht schleudern können. Aber von einem dunklen Drange bis zur klaren Erkenntnis einer neuen Kunst- und Weltanschauung ist noch ein weiter Weg, und auf diesem Wege machen die künstlerischen Richtungen, die zu einer wahrhaftigen Kunst zurückstreben, meist noch schwankende und unsichere Schritte.

Erst wo der Naturalismus die kapitalistische Denkweise selbst durchbrochen hat und die Anfänge einer neuen Welt in ihrem inneren Wesen zu erfassen weiß, wirkt er revolutionär, wird er eine neue Form künstlerischer Darstellung, die schon jetzt keiner früheren an eigentümlicher Größe und Kraft nachsteht und sie dermaleinst alle an Schönheit und Wahrheit zu übertreffen berufen ist. Wir erinnern die Leser, welche vor anderthalb Jahren die internationale Kunstausstellung besucht haben, an Leon Frederics „Kreidehändler", an Meuniers „Heimkehrende Bergleute". Hier kam das Freilicht zur mächtigsten Wirkung. Aber überall, wo es, wie namentlich auch von deutschen Malern, als Modesache mitgemacht wurde, um möglichst elende Nichtigkeiten in möglichster Breite zu schildern, da war seine künstlerische Wirkung gewöhnlich sehr zweifelhaft. Denn rein technisch ist der Impressionismus – eben wegen seiner sklavisch übertreibenden Naturtreue – eher ein künstlerischer Rück- als Fortschritt.

Dasselbe gilt nun auch von der dichtenden Kunst. Es kommt in ihr nicht nur auf die Dicht-, sondern auch auf die Denkweise, an. Man hat diesen Standpunkt damit lächerlich zu machen gesucht, dass man sagte: aha, dramatisierte Parteiprogramme! Nun, das ist nichts als eine alberne Verdrehung. Politik und Poesie sind getrennte Gebiete; ihre Grenzen dürfen nicht verwischt werden; gereimte Leitartikel sind immer noch widerlicher als ungereimte. Aber gerade wenn man verlangt, dass der Dichter auf einer höheren Warte stehen soll als auf der Zinne der Partei, so muss er auch nach rechts und nach links sehen können, so muss er nicht nur die alte, sondern auch die neue Welt ins Auge fassen, so muss er in der herrschenden Misere nicht nur das Elend von heute, sondern auch die Hoffnung auf morgen entdecken können. Vor hundert Jahren schilderten Lessing in „Emilia Galotti", Schiller in „Kabale und Liebe" mit brennenden Farben die Verkommenheit des Duodezdespotismus, der damals tonangebenden Schicht der deutschen Gesellschaft, aber sie wussten den Trägern der Verwesung auch die Träger der Genesung entgegenzusetzen. Hätte Lessing seinen Odoardo Galotti als ebensolchen Schuft geschildert wie seinen Kammerherrn Marinelli, oder Schiller seinen Musikus Miller als ebensolchen Schubiak wie seinen Hofmarschall Kalb, so hätten sie nicht unsterbliche Meisterwerke geschaffen, sondern widerliche und längst vergessene Zerrbilder.

Es ist ein Verdienst des heutigen Naturalismus, dass er den Mut und die Wahrheitsliebe gehabt hat, das Vergehende zu schildern, wie es ist. Und dies Verdienst kann ihm auch nicht geschmälert werden durch die Auswüchse und Übertreibungen, die jede Rebellion in ihren Anfängen mit sich bringt. Aber er hat soweit nur erst den halben Weg zurückgelegt, und wenn er dabei stehenbliebe, so würde er allerdings den unaufhaltsamen Verfall von Kunst und Literatur einleiten, so würden seine Bekenner, wie ein der naturalistischen Richtung nahestehender Schriftsteller es jüngst ausdrückte, „Dekadenzjünger, Fäulnispiraten, Verfallsschnüffler" werden, die „sich mit der Syphilis brüsten, um ihre Mannheit zu beweisen". Ist die ganze Gesellschaft verfallen, so ist es die Kunst, die nur um diesen Verfall herum zu grinsen weiß, erst recht.

Aber die ganze Gesellschaft ist nicht verfallen, und das Schicksal des Naturalismus hängt davon ab, ob er den zweiten Teil seines Weges vollenden, ob er den höheren Mut und die höhere Wahrheitsliebe finden wird, auch das Entstehende zu schildern, wie es werden muss und täglich schon wird. Es ist aufrichtig zu wünschen, dass er dies Ziel erreicht, und dann freilich, aber auch dann erst wird er den Ruhm beanspruchen dürfen, ein neues Zeitalter der Kunst und Literatur zu eröffnen.

Kommentare