Franz Mehring 18921200 Etwas über Naturalismus

Franz Mehring: Etwas über Naturalismus

Dezember 1892

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 2, S. 7-11. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 123-126]

Auf künstlerischem und literarischem Gebiete lärmt seit einer Reihe von Jahren das Schlagwort des Naturalismus. Kündigt es in der Tat ein neues Zeitalter der Kunst und Literatur an, wie die einen behaupten? Oder ist es nur ein prunkender Name für den unaufhaltsamen Verfall von Kunst und Literatur, wie die anderen sagen? Die Frage lässt sich so ohne weiteres weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Oder sie kann auch je nachdem mit Ja und mit Nein beantwortet werden. Das Wort Naturalismus hat unzählige Male in der Kunst- und Literaturgeschichte als Schlachtruf für die allerverschiedensten Richtungen gedient; es sagt alles und deshalb nichts. Will man wissen, welchen Sinn es für unsere Zeit hat, so muss man festzustellen suchen, welchen Sinn ihm unsere Zeit gibt.

Wie die religiösen Vorstellungen, wie die juristischen und politischen Einrichtungen, so wird auch das künstlerische und literarische Schaffen der einzelnen Völker im letzten Grunde durch ihre ökonomischen Entwicklungskämpfe bestimmt. Die Dichter und Künstler schneien nicht vom Himmel, sie wandeln auch nicht in den Wolken; sie leben vielmehr mitten in den Klassenkämpfen ihres Volks und ihrer Zeit. Die einzelnen Köpfe können dadurch in der allerverschiedensten Weise angeregt und beeinflusst werden, aber über den Bannkreis dieser Kämpfe kann keiner von ihnen hinaus. Was ist in der gewaltigsten und ältesten Tragödie, die uns aus dem griechischen Altertum überliefert ist, in der „Oresteia" des Äschylus, von feinnasigen Kunstkritikern alles gesucht und – gefunden worden! Bald das stolze Gefühl der Freiheit, bald der kraftvolle Aufschwung der Nationalität, bald der Begriff des Erhabenen und so weiter. Seit Bachofens bahnbrechenden Forschungen wissen wir aber über jeden Zweifel hinaus, dass sich in dieser mächtigen Tragödie nichts anderes widerspiegelt als eine ökonomische Revolution der Weltgeschichte, als der Sieg des Vaterrechts über das Mutterrecht.

Um an dieses fernste Beispiel gleich das uns nächste anzuknüpfen, so ist unsere klassische Literatur nichts anderes als der Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums. Die Klopstock und Lessing, die Goethe und Schiller, die Kant und Fichte waren die Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen. Der schier unerschöpfliche Reichtum dieser Literatur ist oft in nationalem Hochmut als ein Vorzug des deutschen Volkes vor anderen Nationen gepriesen worden. Aber die Sache hat sehr ihre zwei Seiten. Ebenso gut könnte man auch den Spieß umdrehen und ein Verhängnis darin sehen, dass die Deutschen so vorzugsweise ein „Volk der Dichter und Denker" geworden sind. Denn diese Entwicklung war doch nur dadurch möglich, dass alle begabten Köpfe der aufstrebenden bürgerlichen Klassen auf das literarische Gebiet gedrängt wurden, weil ihnen das deutsche Elend den Kampf auf politischem und sozialem Gebiete verschloss. Gleichviel aber, ob man die Sache so oder so auffasst: in jedem Falle ist die Vorstellung, als ob in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch irgendeinen glücklichen Zufall oder irgendeinen unerforschlichen Ratschluss der Vorsehung eine große Anzahl literarisch reich begabter Köpfe gerade auf deutschem Boden erwachsen sei, einfach sinnlos. Vielmehr gab die ökonomische Entwicklung jenes Zeitalters den bürgerlichen Klassen überall in Europa einen gewaltigen Aufschwung, und da diese Klassen in Deutschland bei alledem noch nicht kräftig genug wurden, um wie in Frankreich um die politische Macht zu ringen, so schufen sie in der Literatur ein Idealbild der bürgerlichen Welt.

Überall nun, wo in der Literaturgeschichte die Gedankenwelt einer aufsteigenden mit der Gedankenwelt einer absteigenden Klasse zusammenstößt, pflegt jene gegen diese unter dem Schlachtrufe der Natur und Wahrheit, des Naturalismus und Realismus, anzustürmen. Begreiflich genug! Denn eine absteigende Klasse klammert sich um so ängstlicher an starre Formeln, je mehr das innere Leben daraus entweicht, und eine aufsteigende Klasse rüttelt um so ungestümer an allen Schranken, je mehr der Drang und die Kraft des Lebens in ihr überquillt. Was sie leben kann und will, das ist für sie Natur und Wahrheit; einen anderen Maßstab für diese Begriffe gibt es auf künstlerisch-literarischem Gebiete nicht, hat es nie gegeben und wird es auch gar nicht geben. Darnach liegt es aber auf der Hand, dass sich unter dem allgemeinen Namen des Naturalismus schon die allerverschiedensten Erscheinungen gesammelt haben, je nach der historischen Beschaffenheit der Klasse, deren literarischer Wortführer der Naturalismus jeweilig war. Ja, unter Umständen kann er mehr das Feigenblatt einer rückläufigen als das Banner einer vorschreitenden Bewegung sein.

Gerade die deutsche Literaturgeschichte ist an solchen Beispielen nicht arm. Schon im vorigen Jahrhundert sah Lessing, der klarste und kühnste Vorkämpfer des deutschen Bürgertums, der durch Beispiel und Lehre die bürgerliche Literatur in dem engsten Zusammenhange mit den bürgerlichen Klassen zu entwickeln gesucht hatte, mit Staunen und Unwillen, wie die Stürmer und Dränger der siebziger Jahre unter dem sehnsüchtigen Schrei nach Natur und Wahrheit sich in das mittelalterliche Ritterwesen oder die cheruskischen Bardenhaine oder in ossianische Nebelwolken verloren. Gewiss: Naturalismus in seiner Weise war das auch, denn jenes Traumleben in der Ferne und in der Vergangenheit war das einzige, das die bürgerlichen Klassen leben konnten und demgemäß auch leben wollten, unter dem despotischen Joche erdrückt und jeder politischen Tätigkeit entwöhnt, wie sie waren. Aber mit dem großen Zusammenhange der europäischen Kulturentwicklung hielt dieser Naturalismus doch nicht entfernt gleichen Schritt, und schließlich musste das Schwert fremder Eroberer so viel Natur und Wahrheit in das deutsche Leben bringen, um es für die Deutschen wieder lebenswert zu machen.

In diesem Jahrhundert tauchte der literarische Naturalismus und Realismus, namentlich in den fünfziger Jahren, auf; nach den angeblichen Irrlichtereien der Heine und Platen, der Herwegh und Freiligrath suchten die Gustav Freytag und Otto Ludwig das deutsche Volk bei seiner „Arbeit". Der große Handelsherr, der in dem Sturmwinde der Revolution nur an die Rettung seiner Kaffee- und Zuckersäcke denkt, wurde Natur, und der biedere „Arbeitnehmer", der tragisch untergeht, weil er nicht begreift, dass er sich vertragsmäßig von seinem „Arbeitgeber" kündigen lassen muss, wurde Wahrheit. Und insofern ganz mit Recht, als die deutsche Bourgeoisie sich nach den Enttäuschungen der RevolutionsJahre auf ihre materiellen Interessen zurückzog, um nicht mehr mit dem Gedanken oder dem Liede oder dem Schwerte, sondern nur noch mit den geflügelten Englein der Kassenscheine ihren Klassenaufschwung zu fördern; was sie leben konnte und wollte war ihr Natur und Wahrheit. Und diese treffliche Theorie des „Naturalismus" oder „Realismus" hat Herr Julian Schmidt unter kräftiger Verwünschung aller Wolkenkuckucksheimer von Leibniz bis auf Gutzkow dem deutschen Volke dann gar noch in drei dicken Bänden auseinandergesetzt. Aber unsterblich ist sie deshalb nicht geworden, und wie manch andere Sorte von „Naturalismus" gilt sie heute nicht mehr als ein abgestandener Scherz von vorgestern.

Soviel über den literarischen Begriff des Naturalismus überhaupt. Er lässt sich gar nicht unter eine allgemeine Formel bringen. Er kann ein Sturmsignal der Weltgeschichte sein, wie Rousseaus Schrei nach Natur; er kann auch als pausbäckiger Genius über den Kaffeesäcken des Handelshauses T. O. Schröter schweben. Man muss in jedem einzelnen Falle untersuchen, welche Stellung diese literarische Richtung in den Klassenkämpfen ihrer Zeit einnimmt. Das heißt nicht, die Literatur unter das Joch der politischen Tendenz beugen, sondern es heißt, auf die gemeinsame Wurzel der politischen und religiösen, künstlerischen und literarischen und überhaupt aller geistigen Anschauungen zurückgehen. Es gibt keinen, anderen Weg, die jeweilige Bedeutung des literarischen Naturalismus festzustellen.

Und seiner heutigen Bedeutung, insbesondere für die deutsche Gegenwart, auf diesem Wege nachzuspüren, werden wir wohl noch mannigfache Gelegenheit haben.

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