Franz Mehring 18930206 Fuldas „Talisman"

Franz Mehring: Fuldas „Talisman"

6. Februar 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 669-671. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 385-387]

Der bürgerlichen Kritik ist großes Heil widerfahren. Endlich ein Drama, das ihre ästhetischen Ansprüche „voll und ganz" befriedigt, ein Drama von „reiner Schönheit" ohne die es nun einmal keine „wahre Kunst" gibt, ein Drama nicht in der „zerfetzten, zerhackten Prosa" des platten Lebens, sondern in glatten, wohlklingenden Versen. Und obendrein ein Drama von einem Autor, der sich 5schon manches Mal auf naturalistischen Pfaden hatte ertappen lassen. Was Wunder, dass die bürgerlichen Blätter mit Pauken und Trompeten den „Talisman" begrüßen, ein „dramatisches Märchen" von Ludwig Fulda, das am 4. d. Mts. zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde.

Mit den naturalistischen Irrwegen Fuldas ist es nun gar so schlimm nicht gewesen. Sein „Verlorenes Paradies" einhandelte die Arbeiterfrage mehr, als dass es sie behandelte. Ein profitwütiger Fabrikant verweigert „seinen" Arbeitern die fünfzehnprozentige Lohnerhöhung, die alle andern Fabriken der Branche bewilligt haben, weil sich ihm ein adliger Lump nur zu einem Preise, den er bei der Bewilligung höherer Löhne nicht zahlen zu können glaubt, als Schwiegersohn verkaufen will. Aber sein empfindsames Töchterchen, das, angeekelt von dem leeren Luxus des Bourgeoisdaseins, einen Blick in das elende Dasein „ihrer" Arbeiter getan hat, findet den Preis des Bräutigams zu hoch; sie lässt den Lumpen laufen und bewegt ihren Vater, die billigen Forderungen der Arbeiter zuzugestehen, wobei es noch in angenehmem Zwielichte bleibt, ob der Alte mehr durch die romantische Schrulle seines eigenen Fleisches und Blutes oder durch die nüchterne Berechnung seines technischen Fabrikleiters bestimmt wird, der ihm überzeugend auseinandersetzt, dass die schon in den Streik getretenen Arbeiter sofort anderweitige Beschäftigung zu den höheren Löhnen in den Konkurrenzfabriken finden würden. Schlusstableau: Feierliche Versöhnung des „Arbeitgebers" und der „Arbeitnehmer". Mit gutem Fug rebellierten die hiesigen Arbeiter, als sich das „Verlorene Paradies" auf die Freie Volksbühne verirrte.

Ernsthafter war Fuldas Schauspiel „Die Sklavin", eine drastische Schilderung der bürgerlichen Ehe in ihrer brutalen Entartung auch da, wo der Mann die Frau gar nicht prügelt oder ihr untreu wird, sondern sie in seiner Weise liebt und sie nur nach der ihm geläufigen und von ihm gar nicht als ein Unrecht empfundenen Klassenanschauung als ein Stück nützlichen Geschäfts- und Hausmöbels behandelt. „Die Sklavin" ist vom bürgerlichen Standpunkte aus ein ganz tapferes Stück, nicht zuletzt darin, dass der Dichter dem gemisshandelten Weibe, als es endlich seine Ketten bricht und, von der Gesellschaft verhöhnt, von Kirche und Staat verlassen, kaum noch im Elternhause einen halb widerwillig gewährten Schlupfwinkel findet, die Freiheit gewährt, sich einem geliebten Manne in freier Liebe zu verbinden, unbekümmert um den Segen von Gesellschaft, Kirche und Staat. Wenn man erwägt, wie Paul Heyse, trotz seines altbegründeten Rufs in der bürgerlichen Welt, in seinen Romanen nach dreibändigen Versuchen in freier Liebe schließlich doch die Kirche in die Erscheinung treten lässt, „um der Kinder willen" oder genauer: weil der Poet nicht die Gebote der bürgerlichen Respektabilität zu verletzen wagt, so war es für einen dramatischen Anfänger, wie Fulda, alles Mögliche, in der „Sklavin" einmal in die Zügel zu knirschen, und von seinen Fortschritten auf diesem Wege ließ sich schon etwas erwarten.

Aber ach! die bürgerliche Presse hat guten Grund, dreimal Heil! zu rufen über den bekehrten Sünder. Der „Talisman" ist mit „teilweiser Benützung eines alten Fabelstoffs" gearbeitet; es handelt sich um die alte, aus Andersens Märchen am bekanntesten gewordene Geschichte von des Königs neuem Kleide, das Dumme und Schlechte nicht sehen können und das folglich alle Welt sah, einschließlich des Königs, der es trug, bis endlich ein unschuldig Kindlein rief: „Der König hat ja gar nichts an." Wie Fulda den alten Stoff „teilweise" benützt hat und „teilweise" auch nicht, manchmal glücklich, manchmal unglücklich, das lohnt sich kaum, an dieser Stelle weitläufig auseinanderzusetzen. Ein wenig hat ihm wohl Grillparzers „Der Traum ein Leben" vorgeschwebt, aber an den melancholischen Tiefsinn des österreichischen Dichters reicht er nicht heran. Er lässt seinen König Astolf von Zypern, der sich in der Narretei seines despotischen Größenwahns erst gar ungebärdig benimmt, an der Metamorphose des geträumten Purpurmantels in ein paar dürftige Unterhosen zu hausbackener Vernunft erstarken, zu dem rührseligen Entschlüsse, sich in der Hütte Raths zu erholen für seine schweren Regentengeschäfte. Und wenn es weiter nichts war! In mancher fesselnden Szene bewährt Fulda sein dramatisches Talent; auch wissen wir es wohl zu schätzen, dass er in einer Zeit, wo die Quartanerlyrik des Herrn Albert Träger und ähnlicher Hackbrettpoeten uns wie Blei im Magen liegt, noch einen zierlichen Vers zu drechseln weiß. Aber alles in allem war es ein buntes Nichts, eine hübsche Spielerei; im Ringkampf an der Garderobe hatte man sie schon vergessen.

Das Publikum der ersten Aufführung begrüßte das Stück mit lautem und ganz ungestörtem Beifall; der Dichter wurde wohl ein dutzendmal vor die Gardine gerufen. Seltsame Wandlung des Geschmacks! Vor zwanzig Jahren, als sich die dickbäuchigen Kommerzienräte mit ihren Zigarren und Weinen, von denen sie den Preis sagen durften, auf der hiesigen Bühne tummelten, wäre der „Talisman" vermutlich als langweilige Reimerei ausgepfiffen worden. Aber die dicken Kommerzienräte mit ihrer dumm-pfiffigen Naivität sind ausgestorben, und bei den sozialen Spielereien auf der bürgerlichen Bühne ist so schwer die „korrekte" Grenze zu treffen. Nehmen wir also vorlieb mit einem niedlichen Märchen, bei dem es allerlei Hübsches zu hören und zu sehen gibt, bei dem sich für tiefer angelegte Bourgeoisgemüter noch dies oder das denken lässt. Aber beileibe nur denken! Ein vorwitziger Hahn der bürgerlichen Kritik wollte davon auch etwas in die Welt krähen, aber alsbald erschien eine kalmierende Notiz des Inhalts, dass Fulda sein Märchen schon vor sieben Jahren entworfen habe. So war es am Ende auch eine überflüssige Vorsicht, dass die Wiener Hofburg den anfangs angenommenen „Talisman" unter einem fadenscheinigen Vorwand dem Dichter zurückgestellt hat.

Herr Kainz spielte den König Astolf vortrefflich, vielleicht nach Studien an dem armen Ludwig von Baierland, der freilich königlicher zu enden wusste als mit einer sentimentalen Phrase. Auch sonst war Ausstattung und Darstellung nur zu loben, bis auf die gar zu possenhafte Auffassung dieser oder jener Nebenrolle. Der „Talisman" wird wohl seinen Rundlauf über die deutschen Bühnen machen, und Herr Fulda hat alle Aussicht, der Lieblingspoet der deutschen Bourgeoisie zu werden. Hoffen wir, dass er, wie seine „Sklavin", einmal sein besseres Teil wiederfindet!

Kommentare