Franz Mehring 18941200 „Hildegard Scholl"

Franz Mehring: „Hildegard Scholl"

Schauspiel von Bernhard Westenberger und Eugen Croissant

Dezember 1894

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 4, S. 3-8. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 391-395]

Unter den Zielen, welche sich die Freie Volksbühne bei ihrer Begründung setzte, stand die Aufgabe obenan, neuen Stücken, die wegen ihrer modernen Tendenz vom bürgerlichen Theater ausgeschlossen würden, den Weg auf die Bühne zu eröffnen. Gerade diese Aufgabe ist aber bei allem sonstigen schönen Gelingen im Laufe der Jahre etwas in den Hintergrund getreten. In erster Reihe und vornehmlich: aus Mangel an solchen Stücken. Die moderne Richtung hat – wenigstens in Deutschland – nicht gehalten, was sie eine Zeitlang zu versprechen schien. Daneben aber hat diese Aufgabe unseres Vereins gerade dadurch einen gewissen Schaden erlitten, dass alle seine sonstigen Aufgaben eine glückliche Lösung gefunden haben. Mit anderen Worten: es ist viel leichter, mit einem Vereine von tausend oder zweitausend Mitgliedern ein Experiment zu machen, als mit einem Vereine von sieben- bis achttausend Mitgliedern. Die Aufführung neuer Stücke ist immer ein Experiment. Noch ist der Dramaturg nicht gefunden worden, der den Erfolg oder Misserfolg eines neuen Stückes richtig vorherzusehen vermag. Bei einer ein- oder zweimaligen Aufführung riskiert sich aber ein Misserfolg leichter als bei einer sieben- oder achtmaligen. Wir wollen keineswegs leugnen, dass diese Empfindung den Ausschuss bei der Prüfung neuer Stücke sehr vorsichtig gemacht hat; um so mehr ist es nunmehr wohl an der Zeit, jene Aufgabe unseres Vereins wieder etwas schärfer ins Auge zu fassen, als in den beiden letzten Jahren geschehen ist.

Das Schauspiel „Hildegard Scholl" ist das Werk zweier begabter Anfänger auf dramatischem Gebiete. Es hat einer Reihe von großen bürgerlichen Bühnen vorgelegen, die es mit lebhafter Befriedigung als eine vortreffliche Arbeit anerkannt, aber dann doch seine Aufführung abgelehnt haben mit der offenherzigen Erklärung, sie dürften ihrem Publikum solche Probleme nicht bieten. Hier liegt also recht eigentlich ein Fall vor, in dem die Freie Volksbühne helfend eintreten muss, wenigstens dann eintreten muss, wenn ihr Ausschuss nach sorgfältiger Prüfung dem Urteile jener bürgerlichen Bühnenleiter beitritt, sowohl was den Wert als auch was die Tendenz des Dramas anbetrifft. Und in der Tat liegt die Sache so, dass die beiden Verfasser ein fesselndes und wichtiges Problem aus dem Schattenreiche der bürgerlichen Gesellschaft mit großem Talente aufgegriffen und dargestellt haben. Demgegenüber durfte es nicht entscheidend ins Gewicht fallen, dass dies Schauspiel, wie alle dramaturgischen Anfängerarbeiten, auch an manchen Gebrechen leidet, von denen wohl eine gewisse Dürftigkeit in der Anlage und in der Ausführung am ehesten zu tadeln sein dürfte.

Die Fabel des Schauspiels ist einfach. Hildegard Scholl und ihr junger Vetter Philipp Rosching sind zusammen aufgewachsen, und ihre Herzen haben sich in Liebe gefunden. Aber die Eltern des Mädchens treiben das junge Paar auseinander; dem reichgewordenen Bierbrauer und seiner Frau passt der arme Teufel von Schwiegersohn nicht. Hildegard soll eine „glänzende Partie" machen und wird das Opfer eines adligen Abenteurers. Aber sie verschmäht es, durch die Lüge einer Ehe, zu welcher der Verführer bereit ist, selbstverständlich unter der Voraussetzung einer reichen Mitgift, ihre bürgerliche Ehre wiederherzustellen. Sie will im Auslande sich und ihrem Knaben leben. Aber das Elend treibt sie ins elterliche Haus zurück. Nun soll sie mit einem korrekten Ehrenmann verkuppelt werden, der abermals unter der Voraussetzung einer reichen Mitgift bereit ist, die „Gefallene" wieder „ehrlich" zu machen. Hildegard willigt nach inneren Kämpfen endlich ein, um ihrem Knaben, der aus Rücksicht auf die „Ehre" ihrer Eltern bei einer Ziehmutter untergebracht ist, eine Heimat zu geben. Sie will sich aus Mutterliebe prostituieren. Aber der korrekte Ehrenmann will zwar die Mitgift, und als unvermeidliche Beigabe nimmt er auch das Mädchen in den Kauf, indessen den Knaben lehnt er mit sittlicher Entrüstung als einen „unästhetischen" Überfluss ab. Der Konflikt löst sich dadurch, dass Philipp Rosching, der inzwischen in der Fremde ein gemachter Mann geworden ist, in die Heimat zurückkehrt und die Jugendgeliebte mitsamt ihrem unehelichen Knaben in allen ehelichen Ehren heimführt.

Die Frage der „gefallenen Mädchen" ist dramatisch schon oft behandelt worden; Hebbel hat sie in seiner „Maria Magdalena", die unseren Mitgliedern bekannt ist, mit dem Satze beantwortet: Darüber kommt kein Mann hinweg. Ein Satz beiläufig, dessen praktische Richtigkeit dadurch sehr eigentümlich beleuchtet wurde, dass Hebbel selbst, als er sich mit einer damals berühmten und reichen Schauspielerin verheiratete, sehr gut darüber hinwegkam. Die Frage lässt sich gar nicht mit einem allgemeingültigen Moralsatze handhaben. Denn sie ist eine Frage der bürgerlichen Moral, einer Moral, die überall bestimmt wird durch die Rücksicht auf den Profit, die starr wie Stein ist gegenüber dem Armen und weich wie Wachs gegenüber dem Reichen. Den proletarischen Standpunkt in Sachen der „gefallenen Mädchen" vertrat gleichzeitig mit Hebbel schon in den vierziger Jahren der zeitlich erste Theoretiker des deutschen Proletariats, der Schneidergeselle Weitling, in der glänzenden Apostrophe: „Trockne deine Tränen, armes, unglückliches, verachtetes und misshandeltes Weib! und denke, es leiden der Schwachen noch viele auf dem Erdenrund. Einst wird auch dir der goldene Frühstrahl des Befreiungsmorgens heran brechen, um dir die heißen, bitteren Tränen der Sklaverei aus den feuchten Wimpern zu küssen. Dann blicke deinem Tyrannen stolz ins Auge, denn du brauchst ihn nicht mehr, und das Gesetz schützt ihn nicht mehr. Dann, arme, betrogene, verführte Dirne, findest auch du wieder einen braven Mann, der das Vorurteil des großen Haufens mit Füßen tritt. Dann, ihr lebensfrohen Jünglinge und Mädchen in der Blüte eurer Jahre, lebet und liebet. Dann lasset ausströmen die früher in eurem Busen widerrechtlich verschlossene Glut, die in eurem Herzen nagt und eure Tatkraft lähmt, ehe sie eine der Harmonie der Gesellschaft und eurer Gesundheit schädliche Richtung nimmt. Dann liebe, wer zum Lieben fähig ist!"

Man kann den Verfassern von „Hildegard Scholl" kein größeres Kompliment machen, als wenn man sagt, dass sie mehr vom Geiste Weitlings als vom Geiste Hebbels beseelt sind. Sie schildern beredt und wahr die Last, womit die bürgerliche Gesellschaft auf die „gebildete Tochter" drückt, auf eine Schicht der heutigen Frauenwelt, die in manchem Betracht noch übler daran ist, als die Töchter des Proletariers daran sind. Einige Worte der Heldin mögen in den Geist des Stückes einführen: „Tag für Tag nichts wichtiger als eine Verlobung! Ob die oder die den oder diesen kriegt! Die Mütter, wie sie die guten Partien einfädeln, die schlechten lösen, wie sie Vorposten stellen, lauern, aneifern, abmahnen, wägen und wagen … Und dann hier so fühlen, dass man so gar nichts ist als eine Ware für den Mann. Ist dir nie ein Gedanke gekommen über die grausame Marter, welche die Gesellschaft der gebildeten Tochter auferlegt: dass sie begehrlich erscheinen und sittsam bleiben soll? Nicht wissen sollen wir, was die Männer auf Schritt und Tritt uns mit ihren Blicken sagen, und müssen es doch wissen, weil wir uns davor hüten sollen. Nichts sollen wir wissen und bekommen doch alles gelehrt… Wie sie uns damals trennten, gingst du hinaus in die weite Welt, mich schlossen sie ein und präparierten mich zu einer glänzenden Partie. Da kam ich mir vor wie eine Pflanze im Treibhause – fetter Boden, feuchte warme Luft, kein anderer Daseinszweck als üppig zu gedeihen. Und ich gedieh üppig – sehr üppig! Ich grübelte über das große Geheimnis nach, das der Mann dem Weibe in der Ehe löst, grübelte darüber nach, was in tausend Andeutungen uns umgibt und wovon doch niemand offen spricht, was die Religion Sünde nennt und was doch die Höhe des Lebens bedeutet, was verboten ist und doch überall gesucht wird: der große Preis, um den die Geschlechter sich bekriegen und betrügen. Kurz, die Sinnenlust kam über mich mit ihrem entsetzlichen Nervenreiz; sie überfiel mich, wie sie alle überfällt, die erzogen wurden, wie ich es wurde. Ich denke jetzt noch mit Schrecken an das Fieber, das in mir wütete und mich wehrlos machte." Doch genug! Einzelne Proben vermögen nur einen sehr unvollkommenen Begriff davon zu geben, mit welcher Konsequenz und Schärfe die Verfasser die Frage der „gefallenen Mädchen" auf ihre soziale Grundlage gestellt haben. Die wirkliche Probe darauf, ob sie in einem lebensvollen Bilde aus der Wirklichkeit ein großes Problem richtig widergespiegelt haben, kann erst die Aufführung ihres Stückes liefern.

Wir hoffen, dass sie diese Probe glücklich bestehen werden. Das soziale Milieu, in dem die Heldin des Stückes aufgewachsen ist, kommt vortrefflich heraus. So die Eltern, der dicke, im Grunde gutmütige, aber vom Geldprotzentum angefressene Bierbrauer, der unter allen Umständen sei' Ruh' haben will, und seine steif-behäbige, beschränkte, weinerlich nervöse Ehehälfte. Dann der korrekte Ehrenmann, an den die gebildete, aber gefallene Tochter verkuppelt werden soll: ein pedantischer Ordnungs- und Ziffernmensch, der „anständige Mann" der kapitalistischen Gesellschaft, aber innerlich verroht und selbst verlumpt. Ferner das Ehepaar Phalberg, die schmutzigen Werkzeuge der ehrbaren Kuppler. Auch mit dem Gott aus der Maschine, der schließlich den dramatischen Konflikt löst, dem Jugendgeliebten, der trotz alledem die Heldin heimführt, haben sich die Verfasser recht gut abgefunden, indem sie ihn als einen braven, einfachen, von Nietzsche und den sonstigen Geisteshelden der kapitalistischen Korruption noch nicht verseuchten Mann hinstellen.

Vielleicht wendet man ein: so wie die Dichter von „Hildegard Scholl" die Frage der „gefallenen Mädchen" beantworten, beantwortet sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft gemeiniglich nicht. Das ist richtig. Es ist die Klippe, an der die moderne Dramatik unausgesetzt scheitert, dass sie auf dem Gebiete der bürgerlichen Gesellschaft Konflikte lösen will, die sich auf diesem Gebiete nicht lösen lassen; sie wird dadurch immer wieder aus dem hellen Tageslicht in die Dämmerung der Romantik zurückgeworfen. Im vorliegenden Falle aber liegt die Sache doch wesentlich anders. Denn einmal gibt es auch in der bürgerlichen Gesellschaft noch brave Kerle, die „das Vorurteil des großen Haufens" mit Füßen treten und die Unnatur der sozialen Zustände nicht an den unglücklichen Opfern dieser Zustände rächen. Dann aber weist diese Lösung des Knotens, so selten sie heutzutage in der bürgerlichen Welt vorkommen mag, nicht rückwärts, sondern vorwärts. Sie vollzieht vorbildlich an der bürgerlichen Heuchelei das derbe Strafgericht, das einmal in handgreiflicher Wirklichkeit über sie kommen wird, und in erster Reihe deshalb ist das Stück auf den bürgerlich verheuchelten Theatern unmöglich. Nennt man das Tendenz, nun wohl, so hat diese Tendenz künstlerisch ein ungleich besseres Recht als jener Naturalismus, der mit photographischer Treue die gemeine Wirklichkeit abklatscht.

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