Franz Mehring 18961021 Kunst und Proletariat

Franz Mehring: Kunst und Proletariat

21. Oktober 1896

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 129-133. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 130-135]

Auf dem Gothaer Parteitag hat sich eine lange Verhandlung über die Stellung des modernen Proletariats zur modernen Kunst entsponnen1. Es war gewiss nicht ein Fehler, dass sie an einem konkreten Streitpunkt entbrannte, denn sie wurde dadurch nur umso belebter und eindringlicher. Aber wenn man ihr eigentliches Fazit ziehen will, so muss man allerdings den konkreten Streitpunkt mit seinem Für und Wider aus dem Spiele lassen. In dieser Beziehung genügt, die Tatsache festzustellen, über die auf dem Parteitag vollkommene Übereinstimmung herrschte, dass sich nämlich gegen die in der „Neuen Welt" vertretene moderne Kunst2 innerhalb sehr weiter Parteikreise ein lebhafter Widerstand geltend gemacht hat, der diese Kunst als solche trifft. Denn über den Fleiß und das Talent der Redaktion herrschte ja gleichfalls völlige Übereinstimmung.

Jene Tatsache selbst wird niemanden verwundert haben, der wie der Schreiber dieser Zeilen auf künstlerischem Gebiete jahrelang gemeinsam mit klassenbewussten Arbeitern gearbeitet hat. Man kommt darüber nicht hinweg mit einer angeblich konservativen Tendenz, die viele Arbeiter trotz allem ökonomischen und politischen Radikalismus in Sachen der Kunst haben sollen, mit schnellen Schlagworten über Vorliebe für moralische Traktätchen und dergleichen mehr. Diese Einwände würden zutreffen, wenn die Arbeiter irgendwelches Interesse für die Romane des Fräulein Marlitt und die Schauspiele des Herrn Lindau bekundeten, indessen davon haben wir nie an irgendeinem Arbeiter die geringste Spur entdecken können. Im Gegenteil: die Sorte der Kunst, an welcher sich die heutige Bourgeoisie vergnügt, verachten die Arbeiter schlechthin, während sie in der modernen Kunst doch immer eine sehr beachtenswerte Erscheinung sehen, wofür nicht zuletzt gerade die leidenschaftliche Heftigkeit ihres Widerstandes spricht. Die Streitfrage gewinnt aber sofort ein ganz anderes Gesicht, wenn die Arbeiter den Halbe und Hauptmann nicht etwa die Lindau und Marlitt, sondern je nachdem die Goethe und Schiller vorziehen.

Nach unseren praktischen Beobachtungen lässt sich der Gegensatz dahin zusammenfassen, dass die moderne Kunst einen tief pessimistischen, das moderne Proletariat aber einen tief optimistischen Grundzug hat. Jede revolutionäre Klasse ist optimistisch; sie sieht, wie der sterbende Rodbertus einmal sagte, die Zukunft in einem wundersam rosigen Schimmer. Das hat selbstverständlich mit irgendwelchem Utopismus nichts zu tun. Der revolutionäre Kämpfer mag in der nüchternsten Weise die Chancen des Kampfes abschätzen: ein revolutionärer Kämpfer ist er doch nur, weil er die felsenfeste Überzeugung hat, dass er eine Welt umwälzen kann. In diesem Sinne ist jeder klassenbewusste Arbeiter ein Optimist: er sieht voll froher Hoffnung in die Zukunft, und er schöpft diese Hoffnung gerade aus dem Elend, das ihn umgibt.

Dagegen ist die moderne Kunst tief pessimistisch. Sie kennt keinen Ausweg aus dem Elend, das sie mit Vorliebe schildert. Sie entspringt aus bürgerlichen Kreisen und ist der Reflex eines unaufhaltsamen Verfalls, der sich in ihr getreu genug widerspiegelt. Sie ist in ihrer Weise, und soweit sie nicht bloße Modenarrheit ist, ehrlich und wahr; sie steht hoch über den Lindau und Marlitt, aber sie ist durchaus pessimistisch in dem Sinne, dass sie im Elend der Gegenwart nur das Elend sieht. Was ihr vollständig fehlt, ist jenes freudige Kampfelement, das dem klassenbewussten Proletariat das Leben des Lebens ist. Wo es einmal auftaucht oder aufzutauchen scheint, wie in Hauptmanns „Webern", da wird es sofort aufs feierlichste verleugnet. Erst vor acht Tagen wieder hat Herr Hauptmann durch seinen Anwalt Greiling, wie früher schon oft, dem Oberverwaltungsgericht die Versicherung abgeben lassen, er habe mit seinen „Webern" nur eine sentimentale Mitleidstragödie dichten wollen3, und in seinem „Florian Geyer" hat er, um von vornherein alle unliebsamen Missverständnisse auszuschließen, die aufständischen Bauern, die in ihrer Weise denselben Kampf kämpften wie das moderne Proletariat, als eine Rotte hoffnungsloser Trottel geschildert. Wir führen hier Hauptmann an, weil er auf dem Parteitag als der größte Vertreter der modernen Kunst genannt worden ist. Wäre dem so, was wir an sich nicht bestreiten wollen, so wäre damit auch gesagt, dass die moderne Kunst keine große Kunst ist. Denn eine große Kunst hat noch nie, solange die Welt steht, vor irdischen Tribunalen auf mildernde Umstände für ihr Dasein plädiert.

Ebenso wenig hat sich jemals, solange die Welt steht, eine revolutionäre Klasse für eine Kunst begeistert, die ihr Kleid mit advokatorischer Bürste von jedem revolutionären Fäserchen reinigt. Das gibt es einfach nicht. Die Aristarche der modernen Kunst haben gemeint, die Arbeiter wollten wohl Marx und Lassalle dramatisiert haben, indessen braucht das moderne Proletariat glücklicherweise nicht erst von den Herren Brahm und Schienther eine zweifelhafte Ästhetik zu lernen. Wie wenig seine Abneigung gegen die moderne Kunst mit einer unkünstlerischen Tendenz zu tun hat, beweist seine Begeisterung für die Klassiker, in denen es keine Spur seines Klassenbewusstseins, aber wohl jenes freudige Kampfelement findet, das es an der modernen Kunst vermisst. In der Freien Volksbühne wurde einmal ein Drama eines jungen Anfängers aufgeführt, das den proletarischen Klassenkampf zu gestalten versuchte4, aber künstlerisch zu wünschen übrigließ; es wurde eben nur aufgeführt, um – was auch zu den Aufgaben dieses Arbeitertheaters gehörte – ein hoffnungsvolles Talent zu fördern, dem die bürgerlichen Bühnen verschlossen waren. Da zeigte sich aber sofort, dass die Arbeiter weit entfernt davon sind, über dem guten Willen die Kunst zu vernachlässigen: das Stück brachte es nicht über den verdienten Achtungserfolg.

Ein noch viel drastischeres Beispiel lässt sich aus den Verhandlungen des Gothaer Parteitages anziehen. Es wurde dort gesagt, Hans Lands Roman „Der neue Gott", den die „Neue Welt" veröffentlicht hat, sei von den Arbeitern als Verhöhnung ihres Klassenkampfes empfunden worden. Darauf erwiderte der Redakteur, er habe im Gegenteil lange geschwankt, ob er den Roman in die „Neue Welt" aufnehmen solle, weil er zu tendenziös im Sinne der Sozialdemokratie sei und deshalb künstlerische Ansprüche zu wenig befriedige. Dies Urteil stimmt aufs Haar. Herr Land hat den besten Willen gehabt, einen Ausschnitt aus dem proletarischen Klassenkampfe in einem dem Proletariat sympathischen Sinne zu geben, aber er hat keine blasse Ahnung davon, wie es in Arbeiterkreisen eigentlich hergeht; sein Roman ist eine romantische Dichtung im verwegensten Sinne des Wortes. Und deshalb ist es überaus bezeichnend, dass so viele Arbeiter darin eine Verhöhnung ihres Emanzipationskampfes erblickt haben; über dem Mangel an künstlerischer Gestaltungsfähigkeit übersahen sie vollständig die arbeiterfreundliche Tendenz des Dichters.

Anders und doch wieder ähnlich mit der „Mutter Bertha", der auf dem Parteitag mit so geringer Galanterie begegnet worden ist. Der Roman Hegeleis überragt dichterisch den Roman Lands, und es wäre unseres Erachtens sehr ungerecht, ihn nach der einen, auf dem Parteitag wörtlich verlesenen Stelle zu be- und verurteilen5. Die paar Sätze hätten ruhig gestrichen werden können, ohne den Roman zu schädigen, aber freilich – hier liegt wieder der Hase im Pfeffer. Der moderne Arbeiter ist nichts weniger als prüde; er lässt sich weit ärgere – im Sinne der Philistermoral – ärgere Dinge bieten als in der „Mutter Bertha" vorkommen, aber alles an seinem Orte. Gerade weil die Vertreter der modernen Kunst derartige Natürlichkeiten an den Haaren herbeiziehen, gerade weil sie den Heldenmut, den sie gegenüber den großen Kämpfen der Zeit vermissen lassen, dadurch bezeugen wollen, dass sie natürliche Dinge auf offener Straße tun, die man sonst zwischen vier Wänden zu tun pflegt, erregen sie herzhaften Widerwillen. Im Übrigen ist „Mutter Bertha" bei allem anerkennenswerten Talent des Dichters und trotz mancher vortrefflichen Kapitel doch auch eine sehr romantische Dame, wie denn die moderne Kunst von der bürgerlichen Romantik weit weniger frei ist, als sie selbst glaubt.

Das Ideal der „reinen Kunst" ist überhaupt ein Erbteil der reaktionär-romantischen Schule, das jede revolutionäre Klasse nur sehr mit Vorbehalt antreten wird. Es ist mindestens ebenso einseitig, wie die Moralfexerei einseitig war, womit das bürgerlich-revolutionäre Drama im achtzehnten Jahrhundert begann. Sollte den ästhetischen Anschauungen der modernen Arbeiterklasse wirklich noch ein kleines Moralzöpfchen hinten hängen, so braucht sie sich dessen gar nicht zu schämen. Sie kann sich deshalb auf den jungen Lessing und den jungen Schiller berufen, die in der Schaubühne auch eine „moralische Anstalt" sahen. Früher waren die Vertreter der „reinen Kunst" auch offenherzige Reaktionäre und mogelten dem lieben Publikum nicht vor, dass sie der Himmel weiß welche Revolutionäre seien. Der alte Vilmar verdonnert in seiner Literaturgeschichte vom Standpunkt der „reinen Kunst" Schillers „Kabale und Liebe" als eine ekelhafte Karikatur, und das ist vollkommen richtig, wenn anders der Standpunkt der „reinen Kunst" richtig sein soll. So lächerlich wie Herr Brahm, der „Kabale und Liebe", noch dazu in „naturalistischer" Verhunzung, als ein prunkendes Meisterstück aufführen lässt und dabei die putzigsten Gesichter schneidet über die banausische Arbeiterklasse, die das „Kapital" von Marx dramatisiert sehen wolle, waren die alten Reaktionäre der „reinen Kunst" nicht. Mit diesen gelungenen Exemplaren moderner Gesinnungstüchtigkeit hat uns erst die moderne Kunst gesegnet.

Natürlich ist die „reine Kunst", indem sie angeblich parteilos sein will, erst recht parteiisch. Will sie auf einer höheren Warte stehen als auf der Zinne der Partei, so muss sie nach rechts und nach, links sehen, so muss sie nicht nur die alte, vergehende, sondern auch die neue, entstehende Welt schildern. Wir können es nicht als zutreffend erachten, wenn auf dem Parteitag gesagt worden ist, die moderne Kunst lebe in einer Periode des Verfalls und könne deshalb auch nur den Verfall schildern. Die Periode des Verfalls, in der wir leben, ist zugleich eine Periode der Wiedergeburt6. So ehrlich und wahr die moderne Kunst die Ruinen schildern mag, so wird sie doch unehrlich und unwahr, indem sie das neue Leben übersieht, das aus den Ruinen blüht. Wie soll sich das Proletariat für eine Kunst begeistern, die in sehr unkünstlerischer Tendenz nichts von dem wissen will, was sein eigenstes und ursprünglichstes Leben ist! Weshalb soll es denn soviel demütiger sein als das Bürgertum, das in seinen kräftigen Tagen auch nie etwas von einer Kunst wissen wollte, die nicht aus seinem Geiste geboren war?

Die moderne Kunst ist bürgerlichen Ursprungs. Wir rechnen es ihr nicht zur Schande an, dass sie ihren Ursprung nicht verleugnet, dass sie sich je länger je mehr in die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft rückwärts konzentriert. Man kann von niemand verlangen, dass er über seinen Schatten springen soll. Was wir verlangen, ist nur, dass die starken Vorbehalte, welche die arbeitende Klasse gegen die moderne Kunst macht, nicht an falschem Orte gesucht werden. Sie liegen nicht in irgendeiner Rückständigkeit des Proletariats, und wir halten es für eine Illusion, die mit bitteren Enttäuschungen enden wird, wenn das Proletariat zum Verständnis der modernen Kunst erzogen werden soll. Mit dieser Art Volkspädagogik hat es überhaupt seine eigene Bewandtnis. Die Frage ist ja schon vor Jahren einmal in der „Neuen Zeit" diskutiert worden, als die Freie Volksbühne sich zu ihrem Heile die „Erzieher" abschüttelte7. Wir sind natürlich weit davon entfernt, die „Erziehung", welche die Redaktion der „Neuen Welt" beabsichtigt, auf dieselbe Stufe zu stellen mit dem abgeschmackten und anmaßenden Präzeptorentum der anarchistisch-bürgerlichen Konfusionsräte, die ihrerzeit die Freie Volksbühne beglücken wollten. Wir bestreiten durchaus nicht, dass die ästhetische und literarische Bildung der Arbeiter noch außerordentlich gefördert werden kann, dass für große Schichten des Proletariats hier geradezu noch alles getan werden muss, und wir wüssten niemanden, der für diese Arbeit berufener wäre als der Redakteur der „Neuen Welt". Aber der Grundgedanke, die Abneigung der Arbeiter gegen die moderne Kunst durch ihre bessere künstlerische Erziehung besiegen zu wollen, ist unseres Erachtens verfehlt. Zugegeben, dass die Arbeiter aus diesem Erziehungskursus viel lernen können, so wird es schließlich die Geschichte des Huhnes sein, das die Enteneier ausbrütet. Das Proletariat kann und wird sich nie für eine Kunst begeistern, die mit all seinem Denken und Fühlen, mit allem, was ihm das Leben lebenswert macht, in klaffendem Widerspruch steht.

Man muss sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen. Die Versuchung dazu liegt ja sehr nahe, wenn man die hohe Bedeutung erwägt, welche die Kunst für den Emanzipationskampf ganz besonders auch des deutschen Bürgertums gehabt hat. Indessen, wenn die bürgerliche Klasse in Deutschland ihr Heldenzeitalter auf künstlerischem Gebiete gehabt hat, so doch nur, weil ihr der ökonomische und politische Kampfplatz verschlossen war. Dagegen steht dieser Kampfplatz dem modernen Proletariat wenigstens bis zu einem gewissen Grade offen, und es ist ebenso natürlich wie notwendig, dass es hier seine Kräfte zusammenfasst. Solange es in diesem heißen Kampfe steht, kann und wird es keine große Kunst aus seinem Schoße gebären. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, diesen Gedanken eingehend auszuführen; hier wollen wir ihn nur durch ein Beispiel erläutern. Die große Rolle, die das Theater in den bürgerlichen Emanzipationskämpfen gespielt hat, ist bekannt. Die bürgerliche Klasse hatte das Geld, Theater zu bauen, und der alte Absolutismus drückte ein Auge zu, gleichviel ob aus Berechnung oder aus Verblendung, indem er der bürgerlichen Klasse auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gern gewährte, was er ihr in der Wirklichkeit unerbittlich versagte und versagen konnte. Heute hat die arbeitende Klasse aber kein Geld, Theater zu bauen, und der moderne Absolutismus, der ihr den Kampf auf dem Gebiete der Wirklichkeit nicht mehr versagen kann, kühlt wenigstens sein Mütchen, indem er ihr die Welt des schönen Scheins hermetisch verschließt. Die Arbeiterklasse, die auf ökonomischem und politischem Gebiete täglich neue Siege über den Kapitalismus und die Polizei erficht, ist ohnmächtig gegen diese erhabenen Mächte auf künstlerischem Gebiete. Die Dinge haben sich eben seit hundert Jahren vollständig umgekehrt, wenn auch gewiss nicht zum Nachteil des Proletariats.

Um nun aber auf die Verhandlungen des Parteitags zurückzukommen, so hat er sich wohlweislich gehütet, das Kind mit dem Bade zu verschütten. Er hat hervorgehoben, was die arbeitende Klasse von der modernen Kunst trennt, aber er ist nicht so ungerecht gewesen, die moderne Kunst in Bausch und Bogen zu verwerfen oder gar zu verkennen, dass sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft allerdings ein Fortschritt ist. Einstweilen leben wir noch in dieser Gesellschaft, und es wäre unbillig, mehr von ihr zu verlangen, als sie leisten kann. Nur dass man das, was die moderne Arbeiterklasse gegen die moderne Kunst einzuwenden hat, nicht in irgendwelcher rückständigen Auffassung des Proletariats suchen darf. Es steht dieser Kunst mit gelassener Kühle gegenüber, nicht weil es ihre hehren Geheimnisse nicht zu fassen vermag, sondern weil sie nicht entfernt heranreicht an die historische Größe des proletarischen Emanzipationskampfes.

1 Vom 11. bis 16. Oktober 1896 tagte der Gothaer Parteitag, auf dem zum ersten Male in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eine recht umfangreiche Literaturdiskussion geführt wurde. Mehring selbst war auf dem Parteitag nicht anwesend. Anlass der Debatte bildete der Abdruck der naturalistischen Romane „Der neue Gott" von Hans Land und „Mutter Bertha" von Wilhelm Hegeler in der „Neuen Welt", einem literarischen Unterhaltungsblatt der Partei. Die Diskussion weitete sich sogleich zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung über die Stellung der Sozialdemokratie zum bürgerlichen Naturalismus in der Literatur aus. Hauptakteure der Debatte waren der Redakteur der „Neuen Welt" Edgar Steiger, der den Naturalismus als die „einzig wahre" Literatur feierte, und der opportunistische Reichstagsabgeordnete Frohme, der die naturalistische Richtung von einem kleinbürgerlich-philisterhaften Standpunkt her kritisierte. Die Diskussion brachte keinerlei Klarheit. Obwohl Wilhelm Liebknecht im Namen einer „modernen sozialistischen und realistischen Literatur" gegen den Naturalismus auftrat, verwischte er völlig dessen Klassencharakter. Bebel, der treffend Frohmes Philistereien kritisierte, zog sogar in Erwägung, ob die scharfe Kritik der sozialdemokratischen Arbeiter am Naturalismus nicht doch vielleicht ein Zeichen ihrer Rückständigkeit in Kunstfragen sei. Um so größere Bedeutung erlangte Mehrings Aufsatz, der unmittelbar nach dem Parteitag erschien.

2Die unter revisionistischem Einfluss stehende Kunstpolitik der „Neuen Welt" lief auf eine prinzipielle Anerkennung und Unterstützung des bürgerlichen Naturalismus hinaus. Steiger sang im Namen der „darwinistischen, naturwissenschaftlichen Weltanschauung (!)" der Partei dem bürgerlichen Naturalismus wahre Hymnen, weil er so „demokratisch" sei, „den Arbeiter oder wer es sei" mit einer feinen und genauen Analyse seiner Laster zu schildern.

3 Siehe den Artikel „Entweder-Oder".

4 Siehe dazu Mehrings Rezension über Paul Baders „Andere Zeiten".

5 Bei der inkriminierten Stelle handelte es sich darum, dass die „Mutter Bertha" auf der Straße ein menschliches Bedürfnis ankam.

6 In der Parteitagsdiskussion von Gotha war gerade dieser entscheidende Gesichtspunkt nicht in die Debatte geworfen worden.

7 Mehring spielt auf die Spaltung der Volksbühnen-Organisation in Berlin im Oktober 1892 an. Bis dahin stand die Freie Volksbühne wesentlich unter der Leitung der halbanarchistischen Gruppe der „Jungen" in der Partei und der Naturalisten in der Literatur. Das Programm und die Praktiken der damaligen Leiter der Freien Volksbühne waren derart, dass sie die Arbeitermitglieder nicht in die künstlerischen Geschäfte des Vereins hineinreden lassen wollten. Auch der Organisationsaufbau der Volksbühne war undemokratisch und unterstellte die Arbeitermitglieder der geistigen Leitung der bürgerlichen Literaten. Mehring führte einen erbitterten Kampf gegen dieses „volkspädagogische" Verfahren. Nach zwei stürmischen Generalversammlungen splitterten die „geistigen Leiter" mit einer kleinen Anhängerschar in die Neue Freie Volksbühne ab.

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