Franz Mehring 18931213 Literarische Rundschau (Gedichte und Novellen von Otto Ernst)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Gedichte und Novellen von Otto Ernst

13. Dezember 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 377-379. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 410-412]

Otto Ernst, Gedichte. Zweite durchgesehene Auflage. Hamburg 1893. Verlag von Konrad Kloß. In demselben Verlage sind erschienen:

Otto Ernst, Neue Gedichte. Hamburg 1892.

Otto Ernst, Aus verborgenen Tiefen. Novellen und Skizzen. Hamburg 1891.

Unter den jüngeren Poeten in Deutschland mag Otto Ernst von diesem oder jenem an Talent übertroffen werden, aber er wird von keinem übertroffen an frischer und klarer Gesundheit. Während so viele seiner Brüder in Apoll mit der Welt nichts anzufangen wissen, die ihrerseits auch mit diesen krankhaft piepsenden Hühnern nichts anzufangen weiß, kräht er keck und munter wie ein kampflustiger Hahn in das menschliche Getümmel hinein. Uns kommt dies Bild unwillkürlich in die Feder aus einem trefflichen Gedichte von Otto Ernst, das so lautet:


Die beiden Hähne

Ein junges, keckes Hähnchen schrie

Hell in die Luft sein Kikriki.

Das klang so kräftig-wunderbar,

So herzerfrischend-morgenklar:

Tausend Nachtmützen, unerhört!

Wurden vom Kissen aufgestört.


Beschwichtigend rief ein alter Hahn:

Schlaft weiter! Ich hab' es nicht getan,

Nicht ich, der amtliche Wächter im Hof,

Der besoldete Dünger-Philosoph.

Es war die Stimme des Dilettantismus,

Ein frecher Neuling war's, der schrie.

Es hat keine Ahnung, das gute Vieh,

Vom akademischen Kikerikismus.


Aber derselbe Poet, der so kräftig das Recht der Jugend gegen den aberweisen Dünkel des Alters wahrt, züchtigt nicht minder scharf die Jugend, die ihr Recht missbraucht. Wir können von der köstlichen Satire „Aus meinem Tagebuche" nicht mehr als den Schluss hersetzen, aber er soll ja auch nur den Appetit der Leser nach dieser gesunden Kost anregen. Man höre:


Na? – - -

Das nenn' ich 'n Gedicht, was?

Gedanken sind ja keine drin.

Das wäre noch schöner!

Gedankenlyrik machen

Wie der Idiot Schiller,

Der „Moraltrompeter von Säckingen",

Wie ihn Nietzsche genannt hat,

Der Philosoph jenseits von Sinn und Unsinn -

Und Gefühl?

Na, in Jefühl machen wir schon lange nich,

Und was die Form anlangt,

So ist sie nichts als schandbare Schlamperei;

Aber ein Individuum bin ich,

Verdammt noch’n Mal!

Und das will was heißen!

Individualitäten brauchen wir,

Wie Bismarck,

Dr. Langbehn,

Friedrich Nietzsche

Und mich.

Wir vier,

Wir reißen noch mal die Welt aus 'm Dreck.

Und wenn nich,

Na, denn nich.

Die Hauptsache ist, dass wir Individuen sind.

Gedanken? Phh!

Gefühle? Phh, phh!

Welt? Menschheit?

Ist ja doch lächerlich!


Es ist, als ob man Hermann Bahr oder Otto Erich Hartleben oder sonst einen Schlottergeist der „Modernen" sein Sprüchlein herbeten hörte. Dies impotente Lallen, diese als Größenwahn sich gebärdende Unfähigkeit lässt sich nicht beißender persiflieren. Noch anerkennenswerter ist der Mut, womit Otto Ernst die preußischen Geschäftsdichter und Geschichtsfalscher annagelt; er geißelt die Dahn und Wildenbruch bis aufs Blut, mit einer Unumwundenheit, die auch vor den Gegenständen ihrer Götzenanbetung keineswegs ängstlich haltmacht. Man kann diese scharf geschliffenen und rasch befiederten Pfeile nicht schwirren sehen ohne ein Gefühl herzlicher Freude darüber, dass im „deutschen Dichterwalde" einmal wieder ein Mann über die Eunuchen gekommen ist.

Doch erschöpft die kräftige Satire nicht das Talent dieses Dichters. Otto Ernst ist auch ein Lyriker von durchgebildeter Form und wahrem Gefühl, ein Novellist von jenem echten Humor, der sich aufs Lachen und aufs Weinen der Massen gleich gut versteht. Er schöpft in seinen Novellen und Skizzen nicht immer aus der Tiefe; namentlich wo er die innere Fadheit und Hohlheit der „gebildeten Gesellschaft" schildert, streift er bei aller drastischen Komik mitunter die Karikatur. Aber wie fein und tief und wahr weiß er das Leben der Armen zu schildern, so namentlich in den Aufzeichnungen eines kleinen Schulmeisterleins! Selten haben wir ein so treffendes Wort über Volkskunst gelesen, als wenn Otto Ernst schreibt: „Erst wer in wilden Leiden und wilden Freuden erkannt hat, dass die bunteste Welt nicht die schönste ist, erst der steigt gern in den engen, aber tiefen Brunnen der Volkskunst hinab, um Heilung zu schöpfen. Aus der Tiefe dieses Brunnens sieht er an einem dunklen Himmel die Sterne eines vergangenen Glücks. Darum muss viel empfunden und gedacht haben, muss einen Reichtum in sich tragen, wer unter der schlichten Hülle des Volksliedes einen Reichtum finden will." Aus dem Jungbrunnen der Massen ist Otto Ernst selbst heraufgekommen, und die Treue, die er seinem Ursprünge bewahrt, ist nicht die schwächste Wurzel seines Talents. Und so mögen sich die Hoffnungen erfüllen, zu denen seine literarischen Anfänge in so hohem Grade berechtigen.

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