Franz Mehring 18991220 Literarische Rundschau (Ludwig Jacobowski: Neue Lieder der besten neueren Dichter fürs Volk zusammengestellt)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Ludwig Jacobowski: Neue Lieder der besten neueren Dichter fürs Volk zusammengestellt

20. Dezember 1899

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 408/409. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 408 f.]

Ludwig Jacobowski, Neue Lieder der besten neueren Dichter fürs Volk zusammengestellt. Verlag M. Liemann, Berlin 1899.

Diese Anthologie moderner Lyrik, die etwa 300 Gedichte von etwa 100 Dichtern enthält, soll in 100.000 Exemplaren zu je 10 Pfennigen nahezu ausschließlich durch Kolportage vertrieben werden. Der Herausgeber will damit der massenhaft verbreiteten Gassenhauer- und Tingeltangelliteratur entgegenarbeiten, und wir brauchen nicht zu sagen, wie freudig dies Unternehmen zu begrüßen ist. Auch können wir Herrn Jacobowski nur unser aufrichtiges Kompliment zu dem feinen und sicheren Geschmack machen, den er bei der Auswahl der Gedichte bewährt hat, so dass weder das Ästhetische über dem Volkstümlichen noch das Volkstümliche über dem Ästhetischen zu kurz gekommen ist. Uns ist nur ein einziger nennenswerter Missgriff aufgestoßen: das Gedicht oder die Reimerei Wildenbruchs an Bismarck gehört in eine solche Sammlung nicht hinein. Wir sagen das nicht aus politischer Antipathie; Fontanes gleichfalls aufgenommene Verse über Bismarck oder den Kaiser Friedrich lassen wir uns ganz gern gefallen. Aber was soll es heißen, wenn Wildenbruch auf seiner Harfe stümpert:


Du gehst von deinem Werke,

Dein Werk geht nicht von dir,

Denn wo du bist, ist Deutschland,

Du warst, drum wurden wir.

Was wir durch dich geworden,

Wir wissen's und die Welt -

Was ohne dich wir bleiben,

Gott sei's anheimgestellt.


Dann haben wir noch das Bedenken, ob die ausschließliche Beschränkung auf die moderne Lyrik namentlich auch aus praktischen Gründen ratsam gewesen ist; wäre auch nur der dritte Teil der Sammlung aus der Lyrik von Goethe bis Storm entnommen, und zwar namentlich solche Gedichte, die doch schon mehr oder weniger in die Massen gedrungen sind, so wäre der Weg des Heftchens wahrscheinlich geebnet worden. Indessen wollen wir darüber nicht lange mit Herrn Jacobowski streiten; er hat einen guten Gedanken gehabt und ihn ganz vortrefflich ausgeführt; so wünschen wir dem kleinen Pionier ästhetischer Massenbildung, der trotz des winzigen Preises auch äußerlich recht schmuck erscheint, die weiteste Wirksamkeit.

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