Franz Mehring 19050111 Literarische Rundschau (Edward Stilgebauer: Götz Krafft)

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Edward Stilgebauer: Götz Krafft

11. Januar 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 525/526. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 425 f.]

Edward Stilgebauer, Götz Krafft. Geschichte einer Jugend. I. Mit tausend Masten. II. Im Strome der Welt. Berlin, Verlag von Rich. Bong. 416 und 446 S. Preis je 4 Mark.

Der Roman Stilgebauers hat schon eine Geschichte, obgleich sein zweiter, aber noch nicht letzter Band eben erst und der erste vor nicht gar langer Zeit erschienen ist. Rieseninserate des Verlegers in mehr als einem „vornehmen" Blatte priesen ihn als den „Roman unserer Zeit", als ein Seitenstück zu Goethes „Wilhelm Meister" an und begründeten diesen Anspruch durch abgerissene Sätze aus Briefen, die fünfzig oder gar hundert berühmte oder unberühmte Ästhetiker und Poeten voll heller Begeisterung an den Verfasser gerichtet haben sollten. Inzwischen meldeten sich diese Schwurzeugen mit heftigen Beschwerden über den Missbrauch ihres Namens; auf dringende und ehrerbietige Bitten des Herrn Stilgebauer hätten sie ihm, als einem Anfänger, und obgleich sie seinen Roman künstlerisch für minderwertig hielten, einige aufmunternde Worte gespendet, die der Empfänger dann für die Reklamezwecke seines Verlegers in illoyaler Weise appretiert habe.

Von dieser industriösen Praxis hebt sich die edle Jünglingsgestalt Götz Kraffts, in dem sich der Dichter selbst porträtiert hat, recht eigentümlich ab. Götz Krafft ist ein sehr tugendhafter Held, viel tugendhafter als Goethe, aber leider lange nicht so talentvoll. Seine inneren Erlebnisse sind gleich Null, und um die Spannung des Lesers zu reizen, wird ihm allerlei altbackener Romankram aufgepackt. In zwei Semestern, die der Held in diesen beiden ersten Bänden erlebt, das eine in Lausanne, das andere in Berlin, wird er in ein Duell, einen Kindesmord, einen anarchistischen Raubmord, eine Kuppeleigeschichte, einige Prozesse und auch in ein paar Liebesgeschichten verwickelt, wobei er sich, wie übrigens auch bei allen anderen Affären, recht abgeschmackt benimmt, sei es nun, dass er ein entzückendes Geschöpf verschmäht, um „sie und das kommende Geschlecht nicht unglücklich zu machen", sei es, dass er sich an eine Dirne hängt, die sich später als Straßenprostituierte entpuppt. Dabei wimmeln allerlei Pseudonyme Leute in den beiden Bänden herum, die aus dem öffentlichen Leben bekannt sind und sich in aufdringlicher Weise bemühen, vom Leser mit ihrem richtigen Namen erraten zu werden. Besonders widerlich ist die Karikatur, die im zweiten Bande von den russischen Flüchtlingen in Berlin entworfen wird.

Im Übrigen soll nicht verkannt werden, dass sich auf den nahezu 900 Seiten dieser Bände mitunter auch ein gewisses Talent zeigt. Aber es ist ganz unreif und bedürfte der strengsten Schulung, wenn es zu einem bescheidenen Erfolg gelangen wollte. Einstweilen muss man jeden Leser warnen, auf die Reklame hineinzufallen, die mit dem Roman getrieben wird.

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