Franz Mehring 19080925 Naturalismus und Neuromantik

Franz Mehring: Naturalismus und Neuromantik

25. September 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 961-963. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 220-222]

Im „Literarischen Echo" orakelt ein Herr Kurt Walter Goldschmidt aus Charlottenburg über Naturalismus und Neuromantik. Die einigermaßen sprunghafte Ablösung des radikalsten Naturalismus durch eine ebenso einseitige und diktatorisch auftretende Neuromantik tut ihm schlagend dar, wie rasch in unseren Zeitläufen die literarischen Moden wechseln, wie bedenklich nahe wir selbst jenem kulturellen und ästhetischen Vandalismus gerückt sind, der heute die Götterbilder verbrennt, die er gestern noch angebetet hat.

So weit so gut, aber dann geht Herr Kurt Walter Goldschmidt dazu über, „nicht in dem plumpen Sinne geist- und kunstverlassener Nationalökonomen (die von Marxens Denkergenialität nur den öden wirtschaftstheoretischen Fanatismus geerbt haben), sondern in einem feineren und überökonomischen Sinne die Zusammenhänge zwischen literarischem Angebot und Nachfrage zu erörtern". Dabei kommt nichts heraus als ein Wirrwarr von sechs eng gedruckten Spalten, aus dem vielleicht der Verfasser selbst klug geworden ist, aber schwerlich einer seiner Leser klug werden wird. Schließlich „wittert" er im Wege zu einer „Neuklassik" einen tatsächlichen Zug der neuesten Entwicklung, aber „dieser Weg führt nicht an der Romantik vorüber, sondern durch sie hindurch – und die erträumte Neuklassik der Zukunft wird um so herrlicher sein, je mehr Verfeinerungen, Verwicklungen und Bereicherungen der Romantik sie in sich aufgenommen, verarbeitet und zu heute erst zu ahnenden vollkräftigen Eigenformen gestaltet hat". Wozu man dann nur mit Lassalle zu sagen braucht: Bam, bim! Bim, bam!

Was uns an diesem Artikel bemerkenswert genug erscheint, um ihn zu beachten, das ist die ehrliche Verzweiflung des Verfassers über den ästhetisch-literarischen Bankrott sowohl des Naturalismus wie der Neuromantik. Er tut immerhin einen Schritt hinaus über das landesübliche Gerede der bürgerlichen Literaturzeitungen, die jeden kritischen Kompass verloren haben und sich mit dem Naturalismus wie mit der Neuromantik abfinden, just nach Gelegenheit und Laune des einzelnen Kritikers. Herr Goldschmidt sieht wenigstens, dass die literarische Produktion der kapitalistischen Gesellschaft verfällt, und soweit er die Mache und Mode geißelt, die in diese Produktion eingerissen ist, soweit findet er ganz treffende Worte. Aber er versagt völlig, sobald er die Ursachen dieser Entwicklung zu ergründen sucht.

Gegenüber dem „plumpen Sinne geist- und kunstverlassener Nationalökonomen" findet er die „feine und überökonomische" Erklärung: „Das Publikum will vor allem Neues, den Kitzel nie dagewesener und unerhörter Reizmittel, und so sehen wir die Dichtergehirne auf der ganzen Linie eifervoll bemüht, dieses Neue zu ersinnen, alles Bisherige zu überbieten, den ganzen Umkreis und selbst die wenigst appetitlichen Winkel der Menschheit zu durchforschen und die raffiniertesten Mahlzeiten für verwöhnte Gaumen zu bereiten." Wiederum ganz gut gebrüllt, aber weshalb „will" das „Publikum" so? Weshalb „will" es nicht anders? Und wenn sein „Wille" entscheidet, wie soll dann die „Neuklassik" entstehen, die das „Publikum" augenscheinlich nach Herrn Goldschmidts eigener und durchaus glaubwürdiger Behauptung nicht „will"?

Mit der Berufung auf den „Willen" des Publikums wird die Frage nur verschoben, aber nicht gelöst. Dieser „Wille" schneit nicht vom Himmel, sondern hat seine irdischen Wurzeln, von denen freilich zu befürchten steht, dass sie „nationalökonomischer" Art sind. Die geistigen Bedürfnisse der großkapitalistischen Gesellschaft, für die unsere heutigen Dichter schaffen, sind eben ganz andere als die geistigen Bedürfnisse jener kleinbürgerlichen Gesellschaft, für die Lessing und Goethe und Schiller schufen. Das ist am Ende zu begreifen, und nicht bloß von „geist- und kunstverlassenen" Leuten. Es sind die Bedingungen der großkapitalistischen Produktionsweise, die jenen „Willen des Publikums" schaffen, den Herr Kurt Walter Goldschmidt mit so beredten Worten denunziert.

Können sich nun die Dichter diesem „Willen" widersetzen? Sicherlich, wenn sie sich von den Lebensbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft zu emanzipieren vermögen. Der Naturalismus war der Versuch einer solchen Emanzipation. An und für sich besagt der Name, mit dem er sich taufte, sehr wenig oder gar nichts; überall, wo in der Literaturgeschichte die Gedankenwelt einer aufsteigenden mit der Gedankenwelt einer absterbenden Klasse zusammenstößt, pflegt jene gegen diese mit dem Schlachtruf der Natur und Wahrheit anzustürmen. Das ist ja auch begreiflich genug. Denn eine absterbende Klasse klammert sich um so ängstlicher an starre Formeln, je mehr das innere Leben daraus entweicht, und eine aufsteigende Klasse rüttelt um so ungestümer an allen Schranken, je mehr der Drang und die Kraft des Lebens in ihr überquellen. Was sie leben kann und will, das ist für sie Natur und Wahrheit; einen anderen Maßstab für diese Begriffe gibt es auf künstlerisch-literarischem Gebiete nicht, hat es nie gegeben und wird es auch nicht geben.

Misst man nun den Naturalismus, wie er sich in der deutschen Literatur vor einigen zwanzig Jahren auftat, an diesem Maßstab, so war es sein Ruhm, dass er sich von den Lebensbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft zu emanzipieren suchte, aber es wurde sein Verhängnis, dass er auf halbem Wege stehenblieb. Er sah in der herrschenden Misere nur das Elend von heute, aber nicht die Hoffnung auf morgen. Niemand verlangte von ihm, dass er nach der Pfeife „geist- und kunstverlassener Nationalökonomen" tanzen solle, aber gerade wenn er nicht auf den Zinnen der Partei stehen wollte, musste er nicht nur die vergehende, sondern auch die entstehende Welt schildern können. Dem entzog er sich durch die in der Tat „geist- und kunstverlassene" Forderung, dass die Kunst nichts anderes als ein sklavisches Abschreiben der zufälligen Wirklichkeit, dass jede eigene Zutat aus der Phantasie des Künstlers, jede künstlerische Erfindung und Komposition zu verwerfen sei. Damit sprach er sich selbst sein künstlerisches Todesurteil, und seine Blüte welkte in wenigen Jahren.

Seine legitime Tochter aber war die Neuromantik. Konnte und wollte der Naturalismus die kapitalistische Wirklichkeit nicht mehr ertragen, aber auch nicht den entscheidenden Schritt über ihre Grenzen tun, so blieb ihm nur die Flucht in ein Traumland übrig, das ihm das Gefühl einer illusionären Freiheit gab und ihm zugleich gestattete, allen nervösen Launen eines übersättigten Publikums genug zu tun. Es ist freilich richtig – und darin hat Herr Kurt Walter Goldschmidt eine ganz richtige „Witterung" –, dass diese neue Romantik tief unter der alten Romantik steht, in der sich immerhin eine große, historische Weltwende widerspiegelte. Historisch ist die Neuromantik nichts anderes als ein ohnmächtiges Abzappeln von Kunst und Literatur in den erstickenden Armen des Kapitalismus, und es ist am letzten Ende allerdings der „Wille" des kapitalistischen Publikums, der ihr das Gesetz diktiert.

Emanzipieren kann sie sich von diesem „Willen" nur, indem sie sich von der kapitalistischen Gesellschaft emanzipiert, die nun einmal, sei es auch zum tiefsten Kummer aller Ästheten, eine „nationalökonomische" Tatsache ist, und es ist die reine Illusion ins Blaue hinein, anzunehmen, dass sie jemals auf anderem Wege ein neues klassisches Zeitalter erleben könnte.

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